BT-Drucksache 17/9601

zu der Beratung des Antrags der Bundesregierung - Drucksachen 17/9339, 17/9598 - Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias auf Grundlage des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (VN) von 1982 und der Resolutionen 1814 (2008) vom 15. Mai 2008, 1816 (2008) vom 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom 7. Oktober 2008, 1846 (2008) vom 2. Dezember 2008, 1851 (2008) vom 16. Dezember 2008, 1897 (2009) vom 30. November 2009, 1950 (2010) vom 23. November 2010, 2020 (2011) vom 22. November 2011 und nachfolgender Resolutionen des Sicherheitsrates der VN in Verbindung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des Rates der Europäischen Union (EU) vom 10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/GASP des Rates der EU vom 8. Dezember 2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates der EU vom 30. Juli 2010 , dem Beschluss 2010/766/GASP des Rates der EU vom 7. Dezember 2010 und dem Beschluss 2012/174/GASP des Rates der EU vom 23. März 2012

Vom 9. Mai 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9601
17. Wahlperiode 09. 05. 2012

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Frithjof Schmidt, Kerstin Müller (Köln), Omid Nouripour,
Thilo Hoppe, Katja Keul, Agnes Brugger, Ute Koczy, Volker Beck (Köln),
Marieluise Beck (Bremen), Viola von Cramon-Taubadel, Kai Gehring, Uwe
Kekeritz, Tom Koenigs, Lisa Paus, Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der Beratung des Antrags der Bundesregierung
– Drucksachen 17/9339, 17/9598 –

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte
an der EU-geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie
vor der Küste Somalias auf Grundlage des Seerechtsübereinkommens
der Vereinten Nationen (VN) von 1982 und der Resolutionen 1814 (2008)
vom 15. Mai 2008, 1816 (2008) vom 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom 7. Oktober 2008,
1846 (2008) vom 2. Dezember 2008, 1851 (2008) vom 16. Dezember 2008,
1897 (2009) vom 30. November 2009, 1950 (2010) vom 23. November 2010,
2020 (2011) vom 22. November 2011 und nachfolgender Resolutionen
des Sicherheitsrates der VN in Verbindung mit der Gemeinsamen Aktion
2008/851/GASP des Rates der Europäischen Union (EU) vom 10. November 2008,
dem Beschluss 2009/907/GASP des Rates der EU vom 8. Dezember 2009,
dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates der EU vom 30. Juli 2010,
dem Beschluss 2010/766/GASP des Rates der EU vom 7. Dezember 2010
und dem Beschluss 2012/174/GASP des Rates der EU vom 23. März 2012

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Piraterie am Horn von Afrika gefährdet die Versorgung der somalischen
Bevölkerung mit Hilfsgütern, den freien Zugang zur Hohen See und Leib und
Leben der Seeleute. Aus diesem Grund wurde 2008 unter dem Mandat der

Vereinten Nationen die EU-geführte Atalanta-Operation eingesetzt. Atalanta
basiert damit auf breiter, internationaler Legitimation. Ihr vorrangiges Ziel ist,
die Schiffe des Welternährungsprogramms (WFP) vor Piraterie zu schützen, um
die notwendige Versorgung der hungernden Bevölkerung Somalias zu gewähr-
leisten. Darüber hinaus sieht das Mandat auch den Schutz der zivilen Schiff-
fahrt auf den internationalen Wasserstraßen der Region vor.

Drucksache 17/9601 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Die Schwäche der Mission lag dabei darin, dass sie sich gegen die Symptome
der Piraterie richtete, während eine konsistente Strategie zur Bekämpfung der
Ursachen aber bisher fehlt. Die Operation verlief im Sinne dieser begrenzten
Aufgaben bislang größtenteils erfolgreich. Die nach wie vor bestehende Pirate-
riegefahr konnte eingedämmt werden – die Zahl der gekaperten Schiffe ist im
Jahr 2011 gegenüber den Vorjahren deutlich gesunken, allerdings sind die Lö-
segeldzahlungen an die Piraten angestiegen. 130 Schiffe des WFP mit rund
850 000 Tonnen Nahrungsmitteln und anderen humanitären Hilfsgütern fanden
unter dem Schutz der Atalanta-Operation sicher ihren Weg nach Somalia.

Bisher hat eine große Mehrheit im Deutschen Bundestag Atalanta unterstützt
und getragen. Daher wurde das Mandat – trotz bekannter Schwächen – bisher
auch immer mit großer Mehrheit beschlossen. Die nun zur Abstimmung
stehende Ausweitung des Mandats auf somalische Küstengebiete und innere
Küstengewässer ist riskant, ineffektiv, gefährdet die unbeteiligte Zivilbevölke-
rung sowie Einsatzkräfte, birgt das Risiko der Verwicklung in den somalischen
Bürgerkrieg und befördert die Eskalation statt die Schlichtung des Konflikts.
Mit diesem Mandat gefährdet die Bundesregierung unnötigerweise und unver-
ständlicherweise die bisherige breite Zustimmung, die im Bundestag für das
erst im November 2011 verlängerte Atalanta-Mandat herrschte.

Ohne überzeugende Gründe plant die Bundesregierung infolge des EU-Rats-
beschlusses vom 23. März 2012 mit dem vorliegenden Mandat, das Operations-
gebiet auf die Küste Somalias zu erweitern. Sie kann nicht darlegen, welche
Veränderungen sich seit der letzten Mandatsverabschiedung im November
2011 ergeben haben, die eine Neufassung des Mandats zwingend machen. Da-
nach wird die luft- und seegestützte militärische Bekämpfung von logistischen
Einrichtungen der Piraten bis zu 2 000 Meter tief im Landesinneren ermöglicht.
Die Operationen über Land sollen von Hubschraubern durchgeführt werden. Im
Falle von Rettungsmaßnahmen können auch Kräfte am Boden zum Einsatz
kommen.

Die Maßnahmen sind ineffektiv, da Piraten sich rasch auf die neue Situation
einstellen werden, indem sie räumlich ausweichen und ihre Logistik entweder
jenseits der 2 Kilometer installieren oder als legale zivile Einrichtungen tarnen.
Auch können Piraten ein Vorgehen gegen ihre Infrastruktur an Land schon da-
durch verhindern, dass sie diese nicht verlassen bzw. stets besetzt halten. Die
Einsatzregeln erlauben in diesem Falle kein militärisches Eingreifen. Es steht
zu befürchten, dass sich die EU daraufhin gezwungen sieht, das militärische
Einsatzgebiet und die Einsatzregeln immer weiter auszuweiten, und die EU-
Mission zur Bürgerkriegspartei wird. Zudem ist das Risiko hoch, dass bei An-
griffen gegen die vermeintliche Pirateninfrastruktur zivile Opfer zu beklagen
sein werden. Außerdem könnten Geiseln, die sich in der Gewalt der Piraten
befinden, als menschliche Schutzschilde missbraucht werden. Dies würde das
menschliche Leid verschärfen und die politische Glaubwürdigkeit der EU un-
tergraben. Humanitäre Hilfsorganisationen beklagen, dass die Mandatserweite-
rung zu einem weiteren Antrieb der Gewaltspirale und somit einer Erschwe-
rung ihrer Arbeit führen würde. Auch birgt die Ausdehnung der Operation über
Land zusätzliche Risiken für die eingesetzten Soldatinnen und Soldaten.

Die ständige Erweiterung des Einsatzgebietes ist Ausdruck der Hilflosigkeit
angesichts der nach wie vor bestehenden Pirateriegefahr. Anstatt bei der Pira-
teriebekämpfung auf eine Ausweitung des Militärischen zu setzen, müssen die
grundlegenden Ursachen der Piraterie verstärkt angegangen werden. Dazu
bedarf es einer langfristigen Stabilisierung Somalias und der Region durch
Hunger- und Armutsbekämpfung, Institutionenaufbau und Bildungsprogramme
mit dem Ziel, funktionierende Staatlichkeit herzustellen und verantwortungs-
volle, an Menschenrechten orientierte Regierungsführung zu ermöglichen. Nur

so werden sich eine dauerhaft erfolgreiche Pirateriebekämpfung und ein mittel-
fristiges Ende der Atalanta-Mission verwirklichen lassen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9601

Im Rahmen eines umfassenden Ansatzes muss daher das zivile Engagement im
Sinne eines „Somalia first“ in den Mittelpunkt der Strategie zur Piraterie-
bekämpfung gerückt werden. Das Somalia-Konzept der Bundesregierung vom
Januar 2012 und die internationale Somalia-Konferenz am 23. Februar 2012 in
London haben zwar richtige Akzente in diese Richtung gesetzt. Doch deren
energische Umsetzung steht noch immer nicht im Mittelpunkt des internationa-
len Somalia-Engagements.

Die EU schlägt mit ihrer geplanten zivilen Mission zum Aufbau maritimer
Fähigkeiten im Westindischen Ozean und am Horn von Afrika (RMCB) den
richtigen Weg ein. Die EU will in dieser Mission verschiedene Länder in der
Region beim Aufbau eines funktionierenden Küstenschutzes und ihres Justiz-
sektors unterstützten. Dieser richtige Ansatz darf jetzt nicht durch eine Auswei-
tung des militärischen Einsatzes konterkariert werden.

Darüber hinaus müssen auch die Finanzierungsstrukturen und die Drahtzieher
der Piraterie direkt und effektiv verfolgt werden. Dazu hat der UN-Sonder-
berater für Pirateriebekämpfung, Jack Lang, bereits Anfang 2011 konkrete und
umsetzbare Pläne vorgelegt. Sie sehen die Stärkung des lokalen und regionalen
Justiz- und Strafvollzugswesens vor. Ziel der internationalen Gemeinschaft
muss sein, dass sich Piraten vor Gericht zu verantworten haben.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. von der Ausweitung des Atalanta-Operationsgebietes über Land Abstand zu
nehmen, das bestehende Mandat von November 2011 beizubehalten und
konsequent umzusetzen mit dem vordringlichen Ziel, den Schutz der huma-
nitären Hilfslieferungen nach Somalia zu gewährleisten und darüber hinaus
die Handelsschifffahrt abzusichern;

2. sich für ein effizientes und koordiniertes Vorgehen auf See zur Abschre-
ckung, Verhütung und Beendigung von seeräuberischen Handlungen oder
bewaffneten Raubüberfällen und Geiselnahmen einzusetzen und anzustre-
ben, dass alle Maßnahmen der internationale Pirateriebekämpfung am Horn
von Afrika und im Indischen Ozean so schnell wie möglich unter dem Dach
und der Führung der Vereinten Nationen zusammengeführt werden;

3. die geplante zivile EU-Mission zum Aufbau maritimer Fähigkeiten im West-
indischen Ozean und am Horn von Afrika finanziell und personell zu unter-
stützten;

4. im Rahmen der internationalen Gemeinschaft dafür Sorge zu tragen, dass die
zivile und justizielle Verfolgung der Piraten insbesondere auf lokaler und re-
gionaler Ebene verbessert wird, dabei rechtsstaatliche und menschenrechtli-
che Standards zu Grunde gelegt werden und das innerstaatliche Trennungs-
gebot zwischen Polizei und Militär Beachtung findet;

5. im Hinblick auf die Beseitigung zentraler Ursachen der Piraterie und auf
eine langfristige Stabilisierung Somalias einen Strategiewandel in der Pira-
teriebekämpfung im Sinne einer „Somalia-first“-Politik einzuleiten, diesen
Ansatz auf der zweiten internationalen Somalia-Konferenz im Juni 2012 in
der Türkei mit Nachdruck zu verfolgen und vor dem Hintergrund des umfas-
senden Ansatzes der EU den zivilen Stabilitätsbemühungen in Somalia mehr
Gewicht zu verleihen, indem

– sie sich dafür einsetzt, die unregulierte und meist illegale Fischerei durch
europäische und asiatische Fangschiffe zu stoppen;

– sie sich dafür einsetzt, die illegale Müllentsorgung insbesondere in den
Gewässern der ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) Somalias zu un-

terbinden und dafür effektive Kontrollmechanismen einzurichten;

Drucksache 17/9601 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
– gezielt lokale und regionale Regierungs- und Verwaltungsstrukturen ge-
fördert werden, um Stabilitätsinseln zu schaffen, wie es die Bundesregie-
rung in ihrem Somalia-Konzept vorsieht;

– lokal und regional Entwicklungsanreize gesetzt werden, um der Armut
der Menschen in Somalia entgegenzutreten und ihre wirtschaftlichen
Aussichten zu verbessern und hierzu auch den auf der Londoner Somalia-
Konferenz angeregten Rapid-Response-Fonds zu unterstützen;

– Gesprächskanäle auch zu verhandlungsbereiten Al-Shabaab- und Hizbul-
Islam-Vertretern geöffnet werden, damit diese in den politischen Dialog
mit einbezogen werden und Versöhnungsprozesse vorankommen;

– AMISOM zügig in eine VN-Friedensmission übergeleitet wird;

– der Aufbau des Sicherheitswesens und die Sicherheitssektorreform unter-
stützt wird und geeignete Maßnahmen gefördert werden, durch die Waf-
fenlieferungen nach Somalia effektiv verhindert werden sowie Geldwä-
sche und Finanztransaktionen gewalttätiger Gruppen international wirk-
sam bekämpft werden können;

– die Forderungen der interfraktionellen Beschlussempfehlung des Aus-
wärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages (Bundestagsdruck-
sache 16/5754) zu dem Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(„Politische Lösungen sind Voraussetzung für Frieden in Somalia“ –
Bundestagsdrucksache 16/4759) weiter umgesetzt werden, insbesondere
der Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen und eines sozial ausgerichteten,
gut regulierten Mikrokreditwesens sowie die Stärkung der Frauen vor al-
lem in den Dorfgemeinschaften;

– sie dem EU-Sonderbeauftragten für das Horn von Afrika Unterstützung
zur Verbesserung der Koordination der europäischen Beiträge zur Lösung
der Somalia-Krise gewährt;

– das WFP darin unterstützt wird, Schiffe zu chartern, die für einen schnel-
len und sicheren Transport der Hilfsgüter nach Somalia die günstigsten
Voraussetzungen bieten;

– sie sich für das Einhalten der sogenannten Best Management Practices,
wie das Fahren im Konvoi mit hoher Geschwindigkeit und das Anbrin-
gen von Stacheldraht an Reling und Außenbord zum Schutz vor Über-
fällen, einsetzt;

6. dem Deutschen Bundestag im Vorfeld zukünftiger Mandatsverlängerungen
den vom Parlamentsbeteiligungsgesetz geforderten Evaluierungsbericht vor-
zulegen und darin überprüfbare Maßnahmen und Meilensteine für die Mis-
sion und die Beteiligung der Bundeswehr darzulegen. Dazu gehört auch die
Entwicklung einer Exit-Strategie.

Berlin, den 9. Mai 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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