BT-Drucksache 17/9408

Zusatzbeiträge aufheben, Überschüsse für Abschaffung der Praxisgebühr nutzen

Vom 25. April 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9408
17. Wahlperiode 25. 04. 2012

Antrag
der Abgeordneten Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg,
Dr. Harald Terpe, Kerstin Andreae, Kai Gehring, Katrin Göring-Eckardt,
Sven-Christian Kindler, Markus Kurth, Dr. Tobias Lindner, Beate Müller-Gemmeke,
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Beate Walter-Rosenheimer und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Zusatzbeiträge aufheben, Überschüsse für Abschaffung der Praxisgebühr nutzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Sollte es nach der nächsten Bundestagswahl zu keiner grundlegenden gesund-
heitspolitischen Kurskorrektur kommen, werden die von CDU/CSU und SPD
in der vergangenen und von CDU/CSU und FDP in dieser Wahlperiode vor-
genommenen Änderungen im Finanzierungssystem der gesetzlichen Kranken-
versicherung (GKV) – einheitlicher Beitragssatz und Zusatzbeiträge – in den
darauf folgenden Jahren zu einem dramatischen Anstieg der Beitragsbelastung
der Versicherten sowie zu einem Abbau des Solidarprinzips führen. Zu massi-
ven Fehlsteuerungen sowohl auf der Finanzierungs- als auch auf der Versor-
gungsseite der GKV führen sie bereits heute. So können durch den mit dem
Gesundheitsfonds eingeführten, inzwischen in der Höhe gesetzlich festge-
schriebenen Einheitsbeitrag die Kassen ihre Beitragshöhe nicht mehr flexibel
an unvorhergesehene Veränderungen auf der Ausgaben- oder Einnahmeseite
der GKV anpassen. Die Unterdeckung des Gesundheitsfonds im Jahr 2010 war
ebenso eine Folge dieses verfehlten Systems der Beitragsfestsetzung, wie es die
Überdeckung im laufenden Jahr ist und die gewollten Unterdeckungen in den
Folgejahren sein werden. Der von der großen Koalition eingeführte und von
CDU/CSU im Jahr 2010 vollständig „entdeckelte“ Zusatzbeitrag reduziert den
Wettbewerb der Krankenkassen auf die Handlungsmaxime, möglichst lange
ohne diese zusätzliche, alleine von den Versicherten zu tragende Pauschale aus-
zukommen. Um die dafür erforderlichen Finanzpolster anzulegen, unterlassen
sie nötige Investitionen in die Verbesserung der Versorgung und verhalten sich
gegenüber ihren Versicherten bei der Gewährung von Leistungen äußerst rest-
riktiv, zum Beispiel bei der medizinischen Rehabilitation sowie bei Heil- und
Hilfsmitteln. Auch die Aufwendungen der GKV für die Primärprävention sind
rückläufig. In der Folge verfügen viele Kassen derzeit über Rücklagen, die weit
über die gesetzlichen Vorgaben hinausgehen.
Diesen Irrweg gilt es, zu verlassen. Beiträge und Steuermittel, die für die Ge-
sundheitsversorgung und den Solidarausgleich vorgesehen sind, sind für ihren
eigentlichen Zweck zu verwenden, statt im Gesundheitsfonds und auf den Kon-
ten der Krankenkassen zu parken. Die Finanzierung des Solidarsystems muss
nachhaltig sein und ist an den Grundsätzen der Beitragsgerechtigkeit und Be-
darfsdeckung auszurichten. Für die Krankenkassen sind die Anreize und Bewe-
gungsspielräume so zu gestalten, dass das wettbewerbliche Streben der Kassen

Drucksache 17/9408 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

eine möglichst gute Patientenversorgung sowie Investitionen in Versorgungs-
innovationen befördert.

Um diese Ziele zu erreichen, ist mittelfristig eine Bürgerversicherung erforder-
lich, die alle Bürgerinnen und Bürger sowie alle Einkommensarten in den Soli-
darausgleich einbezieht. Diese wird nach der nächsten Bundestagswahl auf der
Agenda stehen müssen. Bereits kurzfristig möglich und erforderlich ist eine
Abschaffung der Praxisgebühr. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass von ihr
keine positiven Steuerungswirkungen ausgehen. Stattdessen werden sozial Be-
nachteiligte von notwenigen Arztbesuchen eher abgehalten. Die den Kranken-
kassen entstehenden Einnahmeausfälle in Höhe von geschätzt 1,5 bis 2 Mrd.
Euro lassen sich bis zur Einführung einer Bürgerversicherung durch einen Teil
der im Gesundheitsfonds entstandenen Überschüsse gegenfinanzieren. Darüber
hinaus sind durch weitere Sofortmaßnahmen die gröbsten Fehlsteuerungen zu
beheben, zu denen die beiden letzten Gesundheitsreformen geführt haben.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf vorzulegen, der folgende Sofortmaßnahmen vorsieht:

1. die Beitragssatzautonomie der Krankenkassen wird wieder hergestellt;

2. die pauschalen, alleine von den Versicherten zu zahlenden Zusatzbeiträge
werden abgeschafft;

3. die Praxisgebühr wird abgeschafft.

Berlin, den 24. April 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Die derzeit gute Finanzsituation der GKV ist nur temporär und keinesfalls
nachhaltig. Die Auswirkungen der Beitragssatzanhebung um 0,6 Prozentpunkte
zum Jahresbeginn 2010 und der befristeten Ausgabenkürzungen im Arznei-
mittel- und Krankenhausbereich werden den Trend zu Beitragssteigerungen in
der GKV ebenso wenig dauerhaft brechen können, wie der vorübergehende An-
stieg der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Zudem ist zu berück-
sichtigen, dass selbst im laufenden Jahr, in dem die Arbeitslosigkeit unterhalb
der 3-Millionen-Grenze liegt und deutliche Tarifsteigerungen erwartet werden,
die prognostizierte Grundlohnrate – also der Prozentsatz, um den die Summe
der beitragspflichtigen Einkommen voraussichtlich steigen wird – unterhalb
der Inflationsrate liegt. Hier spiegeln sich der unzureichende Kreis der Pflicht-
versicherten und die lückenhafte Beitragsbemessungsbasis in der GKV wider.

Auf diese Strukturprobleme der GKV antwortet die Bundesregierung mit
einem Abbau der Solidarität. Sie will, dass künftige Ausgabensteigerungen
oberhalb der Grundlohnrate nicht über die Anhebung des allgemeinen Beitrags-
satzes, sondern über einkommensunabhängige Zusatzbeiträge alleine von den
Versicherten finanziert werden. Zu diesem Zweck hat sie den Beitragssatz ge-
setzlich auf 15,5 Prozent festgeschrieben und die bis dahin geltende Begren-
zung der Zusatzbeiträge (nicht höher als 1 Prozent des beitragspflichtigen Ein-
kommens eines Versicherten, in der Summe nicht mehr als 5 Prozent der Bei-
tragseinnahmen der GKV) aufgehoben. Der Bundesminister für Gesundheit

Daniel Bahr hat es in einem am 18. Februar 2012 in der „Wirtschaftswoche“

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9408

erschienenen Interview noch einmal deutlich ausgesprochen: „Die Arbeitgeber
können zufrieden feststellen, dass diese Regierung einen historischen Schritt
getan hat. Wir haben den Arbeitgeberbeitrag festgeschrieben – im Gesetz. Alle
kommenden Ausgabensteigerungen bei der Gesundheit belasten nicht mehr die
Arbeitsplätze“, sondern – so „vergisst“ er hinzuzufügen – alleine die gesetzlich
Versicherten.

Wer es, wie führende Politikerinnen und Politiker der FDP, bei diesem wider-
sinnigen und ungerechten Finanzierungssystem belassen will, aber gleichzeitig
die Abschaffung der Praxisgebühr fordert, verschweigt, dass damit die Kran-
kenkassen umso früher umso höhere Zusatzbeiträge werden nehmen müssen. In
der Folge hätten die Versicherten einen wesentlichen Teil der vermeintlichen
Wohltat selbst zu finanzieren. Die Abschaffung der Praxisgebühr, wie auch die
Rückführung anderer Selbstbeteiligungen, ist deshalb zwingend mit weiteren
Änderungen in der Finanzierung der GKV zu verbinden. Dazu gehört als ein
erster Schritt die Abschaffung der Zusatzbeiträge. Die Ausgaben der GKV sind
über die einkommensabhängigen Beiträge und den Bundeszuschuss zu finan-
zieren. Damit entfällt auch die Innovationsblockade, zu der die Drohung mit
Zusatzbeiträgen derzeit in der GKV führt. Darüber hinaus müssen die Kranken-
kassen wieder eigenständig über die Höhe ihres Beitragssatzes entscheiden
können. Der damit wieder entstehende Beitragswettbewerb wird die Kassen
ganz von selbst dazu bewegen, ihre finanziellen Rücklagen auf das notwendige
Maß zurückzuführen.

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