BT-Drucksache 17/9406

Barrieren abbauen - Mobilität und Wohnen für alle

Vom 25. April 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9406
17. Wahlperiode 25. 04. 2012

Antrag
der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Markus Kurth, Daniela Wagner, Markus
Tressel, Bettina Herlitzius, Stephan Kühn, Dr. Valerie Wilms, Cornelia Behm,
Harald Ebner, Hans-Josef Fell, Kai Gehring, Britta Haßelmann, Bärbel Höhn,
Sven-Christian Kindler, Sylvia Kotting-Uhl, Oliver Krischer, Undine Kurth
(Quedlinburg), Nicole Maisch, Friedrich Ostendorff, Dr. Hermann E. Ott, Elisabeth
Scharfenberg, Dorothea Steiner und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Barrieren abbauen – Mobilität und Wohnen für alle

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Wir leben in einer Gesellschaft, in der alte und junge Menschen, Menschen mit
und ohne Behinderung, gemeinsame Lebensräume teilen. Doch noch immer be-
hindern eingeschränkte Zugangsmöglichkeiten und Barrieren den Alltag vieler
Bürgerinnen und Bürger. Sie schränken Teilhaberechte ein, verringern die
Lebensqualität und verhindern soziale Zugehörigkeit. Barrieren behindern nicht
nur Menschen mit eingeschränkter Funktion des Bewegungsapparats. Auch für
Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen, chronisch-somatischen und psychi-
schen Erkrankungen oder Lernschwierigkeiten, Kinder und ältere Menschen
sind Barrieren oftmals ohne fremde Hilfe unüberwindbar. Wenn von Menschen
mit Mobilitätseinschränkungen die Rede ist, geht es also nicht nur um Men-
schen, die sich mit einem Rollstuhl oder nur sehr langsam fortbewegen, sondern
um eine vielfältige Personengruppe.

Ein barrierefreies Lebensumfeld, das alle Menschen – ob jung oder alt, ob mit
oder ohne Behinderung – selbstbestimmt gemeinsam nutzen und mitgestalten
können, ist eine grundlegende Voraussetzung, um soziale Teilhabe zu ermög-
lichen und Ausgrenzung zu unterbinden. Inklusive Sozialräume sind dabei
durchaus vielfältig und regional unterschiedlich gestaltbar. Doch sie müssen sich
an den Kriterien der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung, Barrierefrei-
heit und umfassender Teilhabe sowie Partizipationsmöglichkeiten der Betroffe-
nen bei Planungs-, Gestaltungs- und Entscheidungsprozessen messen lassen.
Ziel muss es sein, allen Menschen ein selbstbestimmtes und gemeinschaftliches
Leben zu ermöglichen. Hierzu braucht es ein inklusives Umfeld.

Vor allem bei der Gestaltung von Wohnraum müssen die unterschiedlichen
Bedürfnisse und Fähigkeiten alter, junger, behinderter und nicht behinderter

Menschen berücksichtigt werden. Damit Menschen mit Behinderung und alte
Menschen ihren Wohnort frei wählen können, muss es eine ausreichend große
Zahl barrierefreier Wohnungen geben, so dass auch eine Wahl zwischen ver-
schiedenen Ausstattungen möglich ist. Die Schaffung barrierefreien Wohn-
raums allein ist jedoch bei weitem nicht ausreichend. Die Entwicklung eines
preiswerten Segmentes auf dem Wohnungsmarkt ist ebenso wichtig wie ein
altersgerechtes und barrierearmes Umfeld. Maßnahmen im Rahmen der sozia-

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len Wohnraumförderung alleine genügen nicht. Damit Menschen mit einge-
schränkter Mobilität ihre Alltagsgeschäfte am Wohnort erledigen und am sozia-
len, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Leben teilhaben können, müs-
sen sowohl öffentlich zugängliche Gebäude (Geschäfte, Banken, Postämter,
Arztpraxen und andere Gesundheitsdienste, Kitas, Schulen und Hochschulen,
kulturelle Einrichtungen und solche des Sports und der Politik etc.) als auch
alle öffentlichen Verkehrsmittel des Nah- und Fernverkehrs, alle Verkehrssta-
tionen (Haltestellen, Haltepunkte, Bahnhöfe) sowie die Verkehrs- und Straßen-
raumgestaltung generell barrierefrei sein.

Der barrierefreie und altersgerechte Umbau von Wohnraum und des Wohn-
umfeldes muss eng mit stadtentwicklungspolitischen, sozial-infrastrukturellen
sowie energetischen Zielen und Maßnahmen verbunden und bei städtebau-
lichen Maßnahmen und Infrastrukturplanungen berücksichtigt werden.

Es gibt bereits eine große Zahl an Regelungen, in denen Anforderungen an die
barrierefreie Gestaltung von Wohnraum, öffentlichen Gebäuden und Verkehrs-
anlagen formuliert sowie Vereinbarungen zur Sicherung von Barrierefreiheit
getroffen werden. Bauliche Anlagen, Verkehrsmittel und Informationssysteme
sind nach § 4 des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) barrierefrei, wenn
sie für behinderte Menschen in allgemein üblicher Weise, ohne besondere Er-
schwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind.
Die Gleichstellungsgesetze der Länder und die Landesbauordnungen enthalten
weitere Regelungen zur Gewährleistung von Barrierefreiheit. Mit der Unter-
zeichnung der Erklärung von Barcelona haben sich darüber hinaus viele Kom-
munen dazu verpflichtet, barrierefreien Wohnraum zu schaffen, öffentliche
Plätze barrierefrei umzugestalten und Maßnahmen zu ergreifen, die Menschen
mit Behinderung Mobilität ohne Einschränkungen ermöglichen.

Barrierefreiheit zu gewährleisten ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund der UN-
Behindertenrechtskonvention dringend geboten. Als Vertragsstaat hat sich die
Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, Maßnahmen zu treffen, um für Men-
schen mit Behinderung den gleichberechtigten Zugang auch zu Transportmitteln
und Gebäuden zu sichern. Mit dem Konzept der angemessenen Vorkehrungen
bietet die UN-Behindertenrechtskonvention ein Instrument, um mit konkreten
Schritten die individuelle Zugangsmöglichkeiten zu verbessern, solange Barriere-
freiheit nicht in allen Situationen gewährleistet werden kann.

Neben den infrastrukturellen Maßnahmen sind aber auch die Rechte der Bürge-
rinnen und Bürger auf Teilhabe zu stärken. Verbesserte Verbraucherrechte, ein-
schließlich des Mietrechts und der Fahrgastrechte, sind ein entscheidender
Punkt zur Realisierung von Barrierefreiheit. Bislang ist ihre Stärkung nur unzu-
reichend gelungen. Weiterhin muss im Prozess der Gestaltung inklusiver Sozial-
räume in allen Bereichen die Beteiligung von Menschen mit Behinderung und
alten Menschen als Expertinnen und Experten in eigener Sache besser abge-
sichert werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

Rechtsstellung von Menschen mit Behinderung

1. einen Gesetzentwurf vorzulegen, der darauf zielt, die Verwehrung des in der
UN-Behindertenrechtskonvention verankerten Rechts auf angemessene Vor-
kehrungen als Diskriminierungstatbestand in das Allgemeine Gleichbehand-
lungsgesetz aufzunehmen. Im Falle der Versagung angemessener Vorkeh-
rungen soll die Seite die Beweislast tragen, die Vorkehrungen verweigert
oder eine übermäßige Belastung zu erkennen meint;

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Mobilität und öffentlicher Personenverkehr

2. den öffentlichen Personenverkehr so zu gestalten, dass die Belange behinder-
ter und anderer Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigung stets berücksich-
tigt und Maßnahmen ergriffen werden, um – von begründeten Ausnahmen im
Einzelfall abgesehen – eine vollständige Barrierefreiheit zu erreichen. So ist
darauf hinzuwirken, dass die gesamte Reisekette berücksichtigt wird. Sowohl
die Informations- und Fahrkartenbeschaffung (einschließlich der Recherche,
Bestellung und Buchung) durch die Kundinnen und Kunden vor der Reise als
auch der Informationsaustausch zwischen den Kundinnen und Kunden und
dem Unternehmen sowie zwischen unterschiedlichen Anbietern während und
nach der Reise muss barrierefrei gestaltet werden. Der Zugang zu den Ver-
kehrsstationen, der Übergang zu den Fahrzeugen und die Fahrzeuge selbst
sind dabei barrierefrei auszugestalten:

a) bei der derzeit laufenden Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes
(PBefG) nach dem Vorschlag des Bundesrates (Bundesratsdrucksache
462/11) den gesamten Betrieb des im Personenbeförderungsgesetzes ge-
regelten öffentlichen Verkehrs mit einer Übergangsfrist von zehn Jahren
– abweichend davon die Fernbusse mit einer Übergangsfrist von fünf
Jahren – barrierefrei zu organisieren,

b) entsprechend dem vorgenannten Vorschlag des Bundesrates die Anforde-
rungen für Nahverkehrspläne so zu erweitern, dass der Betrieb barriere-
frei zu organisieren ist, soweit nicht nach Maßgabe der Genehmigung im
begründeten Einzelfall Einschränkungen der Barrierefreiheit gestattet
sind,

c) bei der Neuverhandlung der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung
ab 2014 zwischen dem Bund und der Deutschen Bahn AG Qualitäts-
parameter für die Herstellung bzw. die Instandhaltung barrierefreier Zu-
und Abgänge zu Bahnsteigen festzulegen und ihre Einhaltung regelmäßig
und unabhängig zu überprüfen,

d) einen barrierefreien Umbau aller Bahnhöfe und Haltepunkte, einschließ-
lich derer von nicht bundeseigenen Eisenbahnen (NE-Bahnen) innerhalb
von höchstens zehn Jahren umzusetzen und dafür zu sorgen, dass mehr
und – unter Beteiligung von Menschen mit Behinderung – besser
geschultes Personal an Bahnhöfen bereitgestellt wird,

e) den Ländern nahezulegen, bei der Planung, dem Neu- und Ausbau und
dem Betrieb von Verkehrsanlagen die „Hinweise für barrierefreie Ver-
kehrsanlagen“ (H BVA – FGSV-Nr. 212) mit dem Ziel einer barriere-
freien Gestaltung eines „Design für Alle“ zur Grundlage zu machen,

f) die Verbindlichkeit des Lastenheftes vom Bundeskompetenzzentrum
Barrierefreiheit, vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband,
dem Institut für barrierefreie Gestaltung und Mobilität und dem Deut-
schen Schwerhörigenbund für die Barrierefreiheit im Schienenpersonen-
nahverkehr (SPNV) zu erhöhen;

Rechte von Reisenden mit Behinderung

3. auf EU-Ebene dafür zu sorgen, dass in den anstehenden Überarbeitungen der
derzeitigen Regelungen zu den Pauschalreisen (Richtlinie 90/314/EWG) und
den Rechten von Fluggästen (Verordnung (EG) Nr. 261/2004) sowie zukünf-
tig zu den Passagierrechten im Bahnverkehr (Verordnung (EG) Nr. 1371/
2007), im See- und Binnenschiffsverkehr (Verordnung (EG) Nr. 392/2009)
sowie im Busverkehr (Verordnung (EG) Nr. 1073/2009) ein einheitlicher
Rechtsakt zu den Rechten Reisender angestrebt wird, der auch die Belange der

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Barrierefreiheit ausdrücklich hervorhebt und dabei auch die Verordnung (EG)
Nr. 1107/2006 integriert. Dabei sollen Regelungen getroffen werden, die:

a) die Regelungen an die Verpflichtungen, die sich aus der UN-Behinderten-
rechtskonvention ergeben, in einem einheitlichen Reiserecht anpassen;

b) im Reiserecht verankern, dass alle für die Reise notwendigen Informa-
tionen (Reisedaten, Verspätungen, Annullierungen, Serviceleistungen, ab-
weichende Serviceleistungen, Anschlussmöglichkeiten, die Mitnahme
von Begleitpersonen, Reisekosten und Sparangebote) durch die Unterneh-
men für jeden Kunden klar und verständlich barrierefrei zugänglich ge-
macht und gestaltet werden müssen, unabhängig davon, ob die Fahrkarte
über den Schalter, den Automaten oder das Internet erworben wird;

c) im Reiserecht eine allgemeine Informationspflicht der Verkehrsunterneh-
men verankern, so dass Kunden beim Kauf eines Tickets über ihre Rechte
und Pflichten im Hinblick auf Entschädigung und Ausgleich bei Nichtan-
tritt der Reise, Verspätungen oder Umbuchungen leicht verständlich in
barrierefreien Formaten informiert werden;

d) die Rechte von Reisenden durch eine verbindliche Mitarbeit der Ver-
kehrsunternehmen an den verkehrsträgerübergreifenden und unabhängi-
gen Schlichtungsstellen stärken;

e) die Beschwerdemöglichkeit neben einer Möglichkeit zur Schlichtung
auch bei den Durchsetzungsstellen vereinfachen;

f) die Akzeptanz und Regelungen zum Reiserecht durch eine verbindliche
und stärkere Einbindung von Verbraucher- und Behindertenverbänden
verbessern;

g) die Rechtsdurchsetzung anhand von überprüfbaren Kriterien wie der Zahl
der beförderten und nichtbeförderten Passagiere unterteilt in Personen
mit eingeschränkter Mobilität und nicht eingeschränkten Personen sowie
der Zahl der verhängten Sanktionen (Ordnungswidrigkeitsverfahren und
Bußgelder) jährlich durch die Rechtsdurchsetzungsstellen erheben und
bewerten lassen. Dazu ist auf Bundesebene eine Änderung im Verkehrs-
statistikgesetz durchzusetzen;

h) unter Beteiligung von Behindertenverbänden zu einer europäischen und
internationalen Normung für die barrierefreie Gestaltung von Verkehrs-
mitteln, insbesondere von Flugzeugen und Bussen führen;

Wohnen und Bauen

4. das Programm der KfW Bankengruppe „Altersgerecht Umbauen“ an die
prognostizierten Anforderungen anzupassen, indem:

a) es alsbald wieder mit Mitteln aus dem Bundeshaushalt ausgestattet und
auf hohem Niveau fortgeführt sowie bedarfsgerecht verstetigt wird,

b) die Zuschussvariante gegenüber der Kreditvariante gestärkt wird,

c) die Kombinationsmöglichkeiten mit der energetischen Gebäudemoderni-
sierung ausgebaut und attraktiver gestaltet werden,

d) die Antragstellungsmodi und Kommunikation über das Programm ziel-
gruppengerechter ausgestaltet werden,

e) es regelmäßig evaluiert und die Handhabbarkeit für die Zielgruppen ver-
bessert wird,

f) es durch weitere zusätzliche Investitionsanreize für den barrierefreien
Umbau ergänzt wird;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/9406

5. das zielgruppengerechte Informations- und Beratungsangebot zum barriere-
armen bzw. barrierefreien Wohnen deutlich auszubauen, indem:

a) eine gezielte Informationskampagne initiiert wird, in der auf seine prä-
ventive sowie gesellschaftliche Bedeutung hingewiesen wird,

b) die Öffentlichkeit, insbesondere private Eigentümer, Bauherrengemein-
schaften und kommerzielle Immobilienunternehmen, direkter über den
Zugang zu staatlichen Fördermitteln auf Bundes- und Landesebene infor-
miert werden,

c) das akteurs- und ressortübergreifende Informationsangebot stärker in die
Beratungs- und Informationsaktivitäten der einzelnen Programmlinien
der Städtebauförderung integriert wird,

d) Handlungsempfehlungen für kostengünstige Umbaumaßnahmen gegeben
werden,

e) Pflegeberaterinnen und Pflegeberater, die eine Beratung gemäß § 7a des
Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) vornehmen, über die aktuellen
Fördermöglichkeiten, die über das SGB XI hinausgehen, unterrichtet und
bei Bedarf geschult werden;

6. in der länderübergreifenden Fachkommission „Recht des Wohnungswesens“,
an der auch das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
beteiligt ist, darauf hinzuwirken, dass

a) die soziale Wohnraumförderung durch die Länder an die Schaffung von
barrierefreiem Wohnraum geknüpft wird,

b) die barrierefreie Bauweise beim Neubau unter Bezugnahme auf allgemein
akzeptierte Regelwerke in die Landesbauordnungen aufgenommen wird,

c) die neuen Anforderungen an Barrierefreiheit beim Neubau und Umbau
sowie deren Umsetzung effektiver kontrolliert werden,

d) Wohngebäude mit mehr als einer Wohnung in allen Bundesländern von
der Möglichkeit einer Genehmigungsfreistellung oder einem vereinfach-
ten Baugenehmigungsverfahren ausgeschlossen werden,

e) die Anforderungen und Grundsätze von barrierefreiem Planen und Bauen
in die Architektenausbildung und in die Gesellen- sowie Meisterausbil-
dung von Handwerksberufen aus dem Baugewerbe aufgenommen und
entsprechende Weiterbildungsangebote geschaffen werden,

f) die Kommunen Unterstützung finden, wenn sie freiwillig im Rahmen
ihrer städtebaulichen Entwicklungsplanungen und Wohnbedarfsanalysen
eine priorisierende Steuerungsfunktion für den Wohnungsmarkt überneh-
men, damit sie verstärkt instrumentelle, planerische und wohnumfeldbe-
zogene Rahmenbedingungen für einen barrierefreien und barrierearmen
Umbau von Stadtquartieren schaffen können,

g) weitere Konzepte für den barrierefreien Umbau in denkmalgeschützten
Gebäuden in Zusammenarbeit unter anderem mit entsprechenden Fach-
stellen der Behindertenverbände wie dem Bundeskompetenzzentrum
Barrierefreiheit e. V. oder der Nationalen Koordinationsstelle Tourismus
für Alle e. V. zu erarbeiten;

7. den für den barrierefreien Wohnungsbau und die barrierefreie Stadtentwick-
lung maßgeblichen DIN-Normen (DIN 18040-1, DIN 18040-2, DIN 32975
und DIN 32984) bei der Planung und beim Bau mehr Geltung zu verleihen,
indem
a) die Städtebaufördermittel auch an die barrierefreie Anpassung der Städte,
Quartiere und Wohngebäude geknüpft werden,

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b) die Einhaltung der DIN 18040-2 für betreutes Wohnen als maßgebliches
Qualitätskriterium vorauszusetzen ist;

8. dem Deutschen Bundestag einen regelmäßigen Bericht über den Stand des
barrierefreien Umbaus des Gebäudebestandes und der Verkehrsanlagen ein-
schließlich der Verkehrsstationen vorzulegen und diesen mit den demogra-
phischen Entwicklungen in den Regionen abzugleichen, damit die staatlichen
Förderprogramme entsprechend angepasst werden können.

Berlin, den 24. April 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Zu Nummer 1

Anforderungen an Barrierefreiheit sind meist abstrakt generell ausgerichtet.
Sie zielen darauf, Barrieren systematisch abzubauen. Das gelingt aus tech-
nischen und finanziellen Gründen häufig nur langsam. Mit dem Konzept der
angemessenen Vorkehrungen sind Maßnahmen beschrieben, die in individuel-
len Situationen Barrieren abbauen. Das kann zum Beispiel durch Übersetzun-
gen in Gebärdensprache oder Leichte Sprache oder durch Assistenzleistungen
geschehen. Angemessene Vorkehrungen dürfen keine „unverhältnismäßige
oder unbillige Belastung darstellen“ (Artikel 2 Absatz 4 der UN-Behinderten-
rechtskonvention). In der Konvention ist die Versagung angemessener Vorkeh-
rungen als Diskriminierung festgeschrieben. Abgesehen von vereinzelten,
fachgesetzlichen Regelungen enthält das deutsche Recht bisher keine allgemei-
nen Bestimmungen, die zu angemessenen Vorkehrungen verpflichten.

Zu Nummer 2

Zu Buchstabe a

Die Unternehmen aber auch die Aufgabenträger benötigen ausreichenden zeit-
lichen Vorlauf, um sich in ihrer Investitionsplanung verbindlich auf die zukünf-
tigen Anforderungen zur Barrierefreiheit einstellen zu können. Grundsätzlich
scheint daher ein Zeitraum von zehn Jahren ausreichend, damit z. B. bei dem
Ersatz der Fahrzeugflotte auf barrierefreie Investitionsalternativen umgestellt
werden kann. Im Bereich des Fernbusses ist mit neuen Angeboten zu rechnen,
die innerhalb von fünf Jahren im Regelfall auch mit barrierefreien Fahrzeugen
durchgeführt werden können.

Zu Buchstabe b

Der Nahverkehrsplan soll unter anderem auch den eigenwirtschaftlich agieren-
den Unternehmern eine möglichst verbindliche Orientierung bieten. Von daher
sollte er klar als Anforderung beschreiben, für welche Standards eine verbind-
liche Zusicherung seitens der Betreiber erwartet wird. Relevant ist dieses z. B.,
um die netzweite Barrierefreiheit des Angebotes zu sichern. Speziell für die
Teilhabe von Personen mit Mobilitätseinschränkungen gilt, dass hier die UN-
Behindertenrechtskonvention auf ein Höchstmaß an Barrierefreiheit verpflich-
tet. Es muss daher das Regel-Ausnahmeprinzip zur Anwendung kommen und
im Nahverkehrsplan müssen die Ausnahmen von der Regel auch klar benannt

und begründet werden.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/9406

Zu Buchstabe c

Die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung zwischen dem Bundesministe-
rium der Finanzen, dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung und den Infrastrukturgesellschaften der Deutschen Bahn AG ist ein Vertrag
über einen jährlichen Instandhaltungszuschuss des Bundes in Höhe von 2,5 Mrd.
Euro. Die bisherigen Qualitätsparameter und vor allem die Überprüfung ihrer
Einhaltung sind nicht ausreichend, wie auch der Bundesrechnungshof bemängelt.
So stellt der Bundesrechnungshof in einem Bericht zum Infrastrukturzustands-
bericht 2009 fest, dass Bahnsteige an mehr als 3 900 kleineren Bahnhöfen (etwa
69 Prozent aller Bahnhöfe) pauschal als stufenfrei bewertet wurden, selbst wenn
die Bahnsteige ausschließlich über Treppen erreichbar sind.

Zu Buchstabe f

Der Beschluss der Verkehrsministerkonferenz vom 6./7. April 2011 fordert die
Aufgabenträger des Schienenpersonennahverkehrs (SPNV) auf, die Synopse
des Instituts für barrierefreie Gestaltung und Mobilität GmbH, welche die An-
forderungen der TSI-PRM (Technische Spezifikation für die Interoperabilität
bezüglich „eingeschränkt mobiler Personen“ im konventionellen transeuro-
päischen Eisenbahnsystem und im transeuropäischen Hochgeschwindigkeits-
system) für Barrierefreiheit im Schienenpersonennahverkehr mit den Anforde-
rungen des Lastenhefts des Bundeskompetenzzentrums Barrierefreiheit (BKB)
vergleicht, zur Kenntnis zu nehmen und im Hinblick auf eine Standardisierung
mit den Herstellern von SPNV-Fahrzeugen mit dem Ziel zu erörtern, die Anfor-
derungen des BKB-Lastenhefts bei Vergabeverfahren soweit wie möglich zu
berücksichtigen.

Die Aufgabenträger des SPNV sind aufgefordert, diesem Beschluss der Ver-
kehrsministerkonferenz nachzukommen.

Zu Nummer 3

Das Reiserecht ist kompliziert. Dabei soll es dem Reisenden – gleichwohl mit
oder ohne Einschränkungen der Mobilität – klare, einfach durchsetzbare Rechte
gegenüber den Unternehmen geben. Genau dabei kommt es zu Problemen. Es
gibt mehr als ein halbes Dutzend Rechtsakte, die die Rechte von Reisenden
regeln. Da diese jeweils nur einen Teil der Reisekette und oft nur die Nutzung
eines Verkehrsmittels betreffen, ist das Recht nur schwer zu durchschauen. Sie
alle fallen hinter die völkerrechtlichen Verpflichtungen, die sich aus der UN- Be-
hindertenrechtskonvention ergeben, zurück. Weiterhin ist festzustellen, dass nur
wenige Reisende ihre Rechte überhaupt kennen. Schließlich sind die Rechte von
Reisenden in Deutschland nur schwer durchsetzbar, weil die dafür zuständigen
Behörden nur zögerlich handeln, aus einem Verstoß gegen die Rechte von Rei-
senden keine zivilrechtlichen Ansprüche begründet sind und kein einheitliches
Schlichtungswesen existiert. Diese Probleme müssen einerseits auf europäischer
Ebene gelöst werden. Dabei ist die Bundesregierung aufgefordert, sich aktiv ein-
zubringen, statt bei Verhandlungen auf europäischer Ebene über den Verbrau-
cherschutz im Reisebereich, wie beispielsweise bei den Verhandlungen zu Fahr-
gastrechten im Busverkehr, zu bremsen oder gar zu blockieren. Andererseits ist
die Bundesregierung direkt gefragt, indem sie durch verbraucherfreundliche
Strukturen die Regelungen konsequent anwendet.

Die Empfehlung in der Verordnung (EG) Nr. 1107/2006, den Flughäfen und den
Luftverkehrsgesellschaften in eigener unternehmerischer Verantwortung das
Thema Barrierefreiheit zu überlassen, ist hinter den Erwartungen geblieben.
Deshalb ist eine verbindliche Regelung zur Erlangung der Barrierefreiheit in den
Verkehrsträgern, wie zum Beispiel in Luftfahrzeugen und Fernbussen, notwen-

dig. Vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention ist es entschei-
dend, nicht nur den Dialog mit Unternehmen der Wirtschaft zu suchen, sondern

Drucksache 17/9406 – 8 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

auch die Verbindlichkeit solcher Gespräche festzulegen. Es reicht bis hierhin
offensichtlich nicht, „den Dialog mit Unternehmen der Wirtschaft [zu] suchen,
um das Qualitätsmerkmal des ‚Universellen Designs‘ weiter zu verbreiten und
wo erforderlich, die stärkere Berücksichtigung der Interessen behinderter Men-
schen an[zu]sprechen“ (vgl. die Antwort der Bundesregierung zu Frage 20 der
Kleinen Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Bundestags-
drucksache 17/8126).

Neben einer erhöhten Kundenzufriedenheit dient ein hohes Verbraucherschutz-
niveau auch der Qualitätssicherung. Durch ein strenges Verbraucherrecht erhöht
sich also auch der Druck auf Reiseunternehmen, Kunden zu informieren – ob
mit oder ohne eingeschränkter Mobilität – pünktlich und mit entsprechend
barrierefreiem oder -armen Gerät so zuverlässig wie nur irgend möglich an das
Reiseziel zu bringen.

Zu Nummer 4

Das Angebot an barrierefreiem Wohnraum liegt in Deutschland weit unter dem
Bedarf. Nach Schätzungen des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadt-
entwicklung sind nur 500 000 Wohnung lediglich altersgerecht gestaltet. Dabei
wird kurzfristig ein Bedarf von 2,5 Millionen altersgerechten Wohnungen prog-
nostiziert, der bis 2030 auf sogar 3 Millionen ansteigen soll. Ältere Menschen
und Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung haben häufig Schwierig-
keiten, bedarfsgerechten Wohnraum zu finden. Um entsprechend der UN-Be-
hindertenrechtskonvention die freie Wahl des Wohnorts für Menschen mit einer
Beeinträchtigung tatsächlich zu verwirklichen, bedarf es einer ausreichenden
Zahl an Angeboten jenseits stationärer Unterbringung.

Zu den Nummern 4 und 5

Auch wenn die Nachfrage nach dem Programm der KfW Bankengruppe „Alters-
gerecht Umbauen“ hinter dem eigentlichen Bedarf zurückblieb, ist insbesondere
die Zuschussvariante eine wichtige finanzielle Stütze für Haushalte mit älteren
Bewohnerinnen und Bewohnern. Im Bundeshaushalt 2010 wurden 100 Mio.
Euro für das Programm bereitgestellt und im Laufe des Jahres auf 90 Mio. Euro
reduziert, von denen lediglich rund 32 Mio. Euro abgerufen wurden; 2011 lagen
die bereitgestellten Mittel bei 80 Mio. Euro, 2012 bei 0 Euro. Damit das Pro-
gramm stärker nachgefragt wird, ist eine umfassende Informationskampagne
und eine zielgruppengerechtere Ausgestaltung des Programms der KfW Ban-
kengruppe notwendig.

Zu Nummer 6

Zu Buchstabe a

Mit der Föderalismusreform I erhielten die Bundesländer die alleinige Gesetz-
gebungskompetenz zur sozialen Wohnraumförderung. Der Bund zahlt jährlich
Kompensationsmittel in Höhe von 518 Mio. Euro bis mindestens 2013. Danach
muss geprüft werden, ob diese Höhe bis 2019 weiterhin erforderlich und ange-
messen ist (Artikel 143c des Grundgesetzes). Nach der Studie „Fortführung der
Kompensationsmittel für die Wohnraumförderung“ im Auftrag des Bundes-
ministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung wächst insbesondere die
Zahl der Haushalte mit älteren und behinderten Menschen, die Hilfe auf dem
Wohnungsmarkt benötigen. Somit bildet die Bereitstellung von barrierefreiem
bzw. barrierereduziertem Wohnraum gerade in diesem Wohnraumsegment einen
zentralen Förderbereich.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 9 – Drucksache 17/9406

Zu Buchstabe d

In mehreren Bundesländern können Wohngebäude von der regulären Baugeneh-
migung ausgenommen werden. Bei einer Genehmigungsfreistellung oder einem
vereinfachten Baugenehmigungsverfahren müssen die Antragsteller lediglich
nachweisen, dass sie die Voraussetzungen nach § 62 der Musterbauordnung er-
füllen sowie den kommunalen Bebauungsplan einhalten. Es findet nur eine ein-
geschränkte Überprüfung des Bauvorhabens statt.

Zu Nummer 7

Zu Buchstabe a

Die derzeitige Mittelausstattung der Städtebauförderung ist zu niedrig, um den
Herausforderungen unserer Städte begegnen zu können. Deswegen muss im
Bundeshaushalt 2013 der Verpflichtungsrahmen der Bundesmittel auf das
ursprünglich für 2010 vorgesehene Niveau von 610 Mio. Euro angehoben und
perspektivisch auf den tatsächlichen Bedarf von 700 Mio. Euro jährlich erhöht
sowie auf diesem Niveau verstetigt werden. Dabei soll die Herstellung von Bar-
rierefreiheit inklusiver Bestandteil der Städtebauförderung werden und nicht
ausschließlich für den Abbau von Barrieren verwendet werden.

Zu Buchstabe b

Das betreute Seniorenwohnen ist eine besondere Wohnform zwischen der pri-
vaten Häuslichkeit und einer stationären Wohn- und Unterbringungsform. Be-
gründet auf der weitgehend fehlenden rechtlichen Grundlage im Bereich des
betreuten Wohnens für ältere Menschen gibt es bis heute keine klaren Anforde-
rungen an dieses Konzept. Es existieren unterschiedliche Qualitätssiegel und
mitunter länderspezifische Vorstöße, die keinerlei Rechtsverbindlichkeit auf-
weisen. Es sollte darauf hingewirkt werden, dass die Barrierefreiheit des Wohn-
raums eine Grundvoraussetzung für die Bezeichnung „betreutes Wohnen“ ist.

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