BT-Drucksache 17/9395

Bildung für nachhaltige Entwicklung ermöglichen - Gleiche Bildungsteilhabe sichern

Vom 24. April 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9395
17. Wahlperiode 24. 04. 2012

Antrag
der Abgeordneten Dr. Rosemarie Hein, Jan Korte, Agnes Alpers,
Herbert Behrens, Nicole Gohlke, Diana Golze, Jens Petermann, Dr. Ilja Seifert,
Kathrin Senger-Schäfer, Dr. Petra Sitte und der Fraktion DIE LINKE.

Bildung für nachhaltige Entwicklung ermöglichen – Gleiche Bildungsteilhabe
sichern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Nachhaltig ist nur: Gute Bildung für alle!

Nachhaltigkeit ist in den vergangenen Jahrzehnten zum Begriff für die grund-
legende Qualität gesellschaftlicher Entwicklung geworden. Es gilt weltweit, den
Raubbau an der Natur zu beenden, Entwicklungen umzukehren und für globale
Menschheitsprobleme eine zukunftsfähige Lösung zu finden. Herausforderun-
gen dieser Dimension erfordern Einsichten in die Entwicklungsprozesse von
Mensch, Natur und Gesellschaft und Einsichten, wie stark das Überleben der
Menschheit von der Bewältigung dieser Probleme abhängt. Die Zukunftssiche-
rung für die eigene und die nachfolgenden Generationen erfordert neue globale
Lösungen, die in alle gesellschaftlichen Bereiche hineinreichen und dort Beach-
tung finden müssen.

Bildung für nachhaltige Entwicklung ist ein zentraler Schlüssel für eine zu-
kunftsfähige Gesellschaft, die eine gute Lebensqualität und sozialen Zusam-
menhalt bereitstellt und dauerhaft gewährleistet. Jeder muss die Möglichkeit er-
halten, an diesem Prozess nachhaltiger Entwicklung teilhaben zu können und
aktiv an der Gestaltung einer nachhaltigen, gerechten und solidarischen Gesell-
schaft mitzuwirken. Insofern muss auch die Bildung für nachhaltige Entwicklung
global, ganzheitlich und inklusiv gestaltet werden. Ein ganzheitliches Bildungs-
konzept bedeutet Bildung für alle zu verwirklichen und gleiche Bildungsteil-
habe zu sichern. Umfassendes Wissen sowie die Fähigkeit zur Problemlösung
gepaart mit sozialem Verantwortungsbewusstsein müssen Teil einer Bildung für
nachhaltige Entwicklung sein und für jede und jeden zugänglich gemacht wer-
den. Hierfür sind bestehende Barrieren und Diskriminierungen für alle umfas-
send zu beseitigen.

Die Vereinten Nationen haben eine Weltdekade „Bildung für nachhaltige Ent-

wicklung“ für die Jahre von 2005 bis 2014 ausgerufen. In den vergangenen sie-
ben Jahren wurden zahlreiche Projekte entwickelt, Bildung für nachhaltige Ent-
wicklung auf unterschiedlichen Ebenen im Bildungssystem zu verankern. Sie
müssen weiterentwickelt, verbreitet und verstetigt werden, sollen sie selbst
nachhaltig werden. Bildung für nachhaltige Entwicklung kann aber nur nachhal-
tig werden, wenn auch die Bildung selbst nachhaltig ist. Davon ist die Bundes-
republik Deutschland jedoch noch meilenweit entfernt.

Drucksache 17/9395 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Es ist nicht hinnehmbar, dass in einem hochmodernisierten Land wie Deutsch-
land nicht alle den gleichen Zugang zu Bildung haben. Das gilt für alle Bildungs-
bereiche. Erst im vergangenen Jahr wurde durch die leo.-Studie nachgewiesen,
dass 7,5 Millionen Menschen in Deutschland als funktionale Analphabetinnen
und Analphabeten gezählt werden müssen. Für eine qualitativ gute frühkind-
liche Bildung für Kinder unter drei Jahren fehlen nicht nur mehr als 200 000
Kitaplätze und mindestens 5 000 gut ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher,
6,5 Prozent der Schülerinnen und Schüler eines Altersjahrganges verlassen die
Schule ohne einen Abschluss und etwa 1,5 Millionen Menschen im Alter zwi-
schen 20 und 29 Jahren haben keinen Berufsabschluss. Es besteht weiterhin ein
allgemeiner Mangel an Studienplätzen und die gravierenden sozialen Hürden
beim Hochschulzugang wurden immer noch nicht abgebaut. Das Deutsche Stu-
dentenwerk unterstreicht in seiner aktuellen Sozialerhebung, dass die Chancen
von Akademikerkindern einerseits und Nichtakademikerkindern andererseits im
Hochschulsystem weiter auseinanderdriften (19. Sozialerhebung 2010).

Zur Bildung für nachhaltige Entwicklung gibt es bereits gute Projekte, die jedoch
die gravierenden sozialen Defizite beim Zugang zu Bildung nicht aufwiegen.
Bildung darf sich im Sinne einer ganzheitlichen und nachhaltigen Entwicklung
nicht allein auf noch so gute Projekte oder Lehr- und Lerninhalte beschränken.
Sie muss vielmehr für alle zugänglich und Teil eines lebenslangen Lernprozes-
ses sein und in formellen sowie in informellen Zusammenhängen stattfinden, die
es ermöglichen, nicht nur umfassendes Wissen und die kognitive Entwicklung,
sondern auch den Erwerb sozialer Kompetenzen sowie von Verantwortungsbe-
wusstsein gegenüber Gesellschaft und Natur zu befördern. Wichtig ist außerdem
eine thematische Breite, die alle Bereiche gesellschaftlicher Entwicklung und
die Politik selbst beinhaltet. Neben Umweltschutz, Ressourcenschonung, Glo-
balisierung und Wirtschaft muss Bildung für eine nachhaltige Entwicklung auch
Fragen zur Sicherung des Friedens, sozialer Gerechtigkeit, interkultureller Ver-
ständigung und Toleranz umfassen. Bildung für eine nachhaltige Entwicklung
ist somit ein interdisziplinäres globales Lernen in Verknüpfung von Theorie und
Praxis, jung und alt sowie zwischen Nationen und Völkern. Darum muss der
Möglichkeit besserer Bildungsteilhabe auch in Deutschland deutlich größere
Aufmerksamkeit gewidmet werden als das bisher der Fall ist.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. das öffentliche Bildungssystem ausreichend auszufinanzieren. Dazu muss
die gemeinsame Verantwortung von Bund, Ländern und Kommunen für die
Finanzierung anspruchsvoller Bildungsangebote auf allen Ebenen endlich
möglich werden. Die Hürden für eine gemeinsame Finanzierung wichtiger
Bildungsaufgaben müssen endlich fallen und die Mittel für Bildung in Bund,
Ländern und Kommunen auf sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts ange-
hoben werden;

2. dem Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf zur Aufhebung der Schul-
denbremse vorzulegen, die faktisch als Bildungsbremse wirkt;

3. dem Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf zur Aufhebung des Koope-
rationsverbots vorzulegen und geeignete Kooperationsinstrumente zu ent-
wickeln und mit den Ländern zu vereinbaren;

4. die Bedingungen für ein inklusives Bildungssystem zügig zu schaffen. Dafür
müssen sowohl räumliche und sächliche als auch die erforderlichen personel-
len Voraussetzungen in Ländern und Kommunen geschaffen werden. Die
Bundesregierung hat sich dazu verpflichtet, durch entsprechende Programme
die Vereinbarungen im Rahmen der UN-Konvention für die Rechte von Men-
schen mit Behinderungen zügig umzusetzen;
5. gemeinsam mit den Ländern darauf hinzuwirken, entsprechend bereits ge-
troffener Vereinbarungen (etwa im Rahmen der europäischen Strategie 2020)

14. zu gewährleisten, dass jede und jeder einen anerkannten Berufsabschluss
auch zu einem späteren Zeitpunkt seines Lebens gebührenfrei nachholen
kann;

15. die Weiterbildungsbeteiligung – insbesondere für geringer Qualifizierte,
Frauen und ältere Bürgerinnen und Bürger – deutlich zu erhöhen.

Berlin, den 24. April 2012
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9395

die Zahl der Schulabbrecherinnen und Schulabbrecher sowie der Schulab-
gängerinnen und Schulabgänger ohne Abschluss drastisch zu verringern
und den Anteil mittlerer und höherer Schulabschlüsse in hoher Qualität
deutlich zu erhöhen. Dazu müssen die Schulen in die Lage versetzt werden,
Schülerinnen und Schüler individuell zu fördern anstatt sie auf unterschied-
liche Schulformen aufzugliedern;

6. gemeinsam mit den Ländern eine Strategie zur dauerhaften Sicherung einer
guten Grundbildung zu entwickeln und zu finanzieren und darüber hinaus
die Anzahl der Analphabetinnen und Analphabeten drastisch zu reduzieren;

7. gemeinsam mit den Ländern und Kommunen für alle Lernenden gleichwer-
tige Lebensbedingungen zu sichern. Insbesondere sollen die sozialen Rah-
menbedingungen für Lernende verbessert werden. Dazu gehören nicht nur
ein gesundes Mittagessen und die kostenfreie Bereitstellung von Lehr- und
Lernmitteln, sondern auch die Schülerbeförderung, die Größen der Lern-
gruppen und ein anregendes außerschulisches und außerunterrichtliches
Umfeld in Ganztagsschulen;

8. umgehend ein Aktionsprogramm für den beschleunigten Ausbau von früh-
kindlichen Bildungsangeboten und Ganztagsplätzen sowie für die Ausbil-
dung des dafür erforderlichen Fachpersonals zu schaffen;

9. gemeinsam mit den Ländern, den Hochschulen und Universitäten die
Lehrerausbildung zu reformieren und dafür Sorge zu tragen, dass für die
Umgestaltung des Bildungssystems zu einem inklusiven Bildungssystem
ausreichend gut vorbereitete Lehrerinnen und Lehrer und weiteres fach-
pädagogisches Personal zur Verfügung stehen. Darüber hinaus muss eine
ausreichende Lehrerfort- und Lehrerweiterbildung gewährleistet werden,
um die bereits praktizierenden Lehrkräfte bei ihrer anspruchsvollen Tätig-
keit zu unterstützen;

10. den Hochschulpakt auf mindestens 500 000 Studienplätze aufzustocken,
um allen Studienberechtigten die Aufnahme eines Studiums zu ermöglichen
und gemeinsam mit den Ländern eine nachhaltige soziale Öffnung der
Hochschulen einzuleiten;

11. sich gegenüber der Kultusministerkonferenz für eine Änderung der Struk-
turvorgaben für Bachelor- und Masterstudiengänge einzusetzen, welche
den Master als Regelabschluss eines Studiums definiert;

12. im Rahmen der Forschungsförderung und in Zusammenarbeit mit den
Ländern die Ausrichtung von Wissenschaft und Forschung an einer nach-
haltigen Entwicklung der Gesellschaft sowie an den drängenden sozialen
und ökologischen Fragen zu orientieren und Freiräume für eine kritische
Wissenschaft zu öffnen;

13. dem Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf zur Verankerung des Rechts
auf Ausbildung im Grundgesetz vorzulegen, damit junge Menschen verläss-
lich in Ausbildung integriert werden, anstatt sie auszugrenzen oder in Warte-
schleifen der sogenannten Übergangssysteme abzuschieben;
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.