BT-Drucksache 17/9192

Neue Flusspolitik - Ein "Nationales Rahmenkonzept für naturnahe Flusslandschaften"

Vom 28. März 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9192
17. Wahlperiode 28. 03. 2012

Antrag
der Abgeordneten Sabine Stüber, Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert, Dr. Dietmar
Bartsch, Dr. Barbara Höll, Harald Koch, Dorothee Menzner, Kornelia Möller, Dr. Ilja
Seifert, Kersten Steinke, Dr. Kirsten Tackmann und der Fraktion DIE LINKE.

Neue Flusspolitik – Ein „Nationales Rahmenkonzept für naturnahe
Flusslandschaften“

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Bundesregierung hat es bis zum heutigen Zeitpunkt versäumt, die europä-
ische Gewässerschutzpolitik wirkungsvoll umzusetzen. Deshalb leitete die
Kommission der Europäischen Gemeinschaften Ende September 2011 gegen
Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren ein. Nach der Wasserrahmen-
richtlinie 2000/60/EG (WRRL) sollen bis 2015 alle natürlichen Gewässer in
einen „guten chemischen und ökologischen Zustand“ versetzt werden. Alle
künstlichen und erheblich veränderten Gewässer sollen „ein gutes ökologisches
Potential und einen guten chemischen Zustand“ aufweisen. Von diesem Ziel ist
Deutschland weit entfernt. Flusslandschaften gehören mit ihrem Artenreichtum
zu den wertvollsten und gleichzeitig zu den am stärksten gefährdeten Natur-
räumen in Mitteleuropa. Sie sind für die biologische Vielfalt, den natürlichen
Hochwasserschutz, aber auch für den Tourismus von besonderer Bedeutung.
Heute werden sie jedoch vorwiegend durch Landwirtschaft, Industrie und
Schifffahrt geprägt.

Der seit dem 19. Jahrhundert andauernde Ausbau der Flüsse und der weiter zu-
nehmende Eintrag von Pflanzenschutzmitteln bzw. Nährstoffen aus der Land-
wirtschaft haben die morphologischen Eigenschaften und ökologischen Funk-
tionen der Flüsse immer weiter eingeschränkt. Deshalb muss das bisherige
Verständnis, Flüsse vorrangig als Transportweg und Wasserstraße zu sehen, um
den Aspekt eines umfassenden nachhaltigen Gewässer- und Landschaftsschut-
zes erweitert werden.

In den letzten Legislaturperioden haben es weder die rot-grüne Koalition noch
die Große Koalition, trotz einiger guter Ansätze, geschafft, eine zukunftswei-
sende Flusspolitik auf den Weg zu bringen. Auch die amtierende Bundesregie-
rung ist bisher, trotz der Festlegung eines „guten ökologischen Zustandes der
Gewässer“ als Aufgabe im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP

vom 26. Oktober 2009, keinen Schritt weiter. Eine neue Flusspolitik ist erforder-
lich. Sie ist zudem Voraussetzung, um den künftigen Vorgaben der EU gerecht
werden zu können. Zur Sicherung der Ressource Wasser erstellt die Europäische
Kommission derzeit Maßnahmen, die im Herbst 2012 als Teil der Leitinitiative
„Ressourcenschonendes Europa“ in die Strategie „Europa 2020“ eingehen wer-
den.

Drucksache 17/9192 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. im Rahmen einer neuen Flusspolitik

• bis Ende des Jahres 2012 ein „Nationales Rahmenkonzept für naturnahe
Flusslandschaften“ auf den Weg zu bringen, das die jetzt schon spürbaren
Auswirkungen des Klimawandels berücksichtigt und als gemeinsame Hand-
lungs- und Managementstrategie des Bundes, der Länder und Kommunen
dient;

• die Öffentlichkeit in die Abstimmung von Bund, Ländern und Kommunen
für eine neue Flusspolitik mit externen Experten einzubeziehen;

• dabei neue Beteiligungsverfahren zu entwickeln, die durch eine Verzahnung
von informellen und formellen Verfahren garantieren, dass alle relevanten
Akteure sowie Interessenvertretungen, einschließlich bestehender oder sich
bildender Bürgerinitiativen, von vornherein eingebunden werden;

• die Anwendung neuer Beteiligungsverfahren sowohl für die Erstellung des
„Nationalen Rahmenkonzepts für naturnahe Flusslandschaften“ als auch für
Flusskonzepte festzulegen;

• die Federführung des „Nationalen Rahmenkonzepts für naturnahe Flussland-
schaften“ bei einer interministeriellen Arbeitsgruppe anzusiedeln, die einen
„guten chemischen und ökologischen Zustand“ der Flusslandschaften als
übergeordnetes Ziel in den Fachpolitiken Landwirtschaft, Energie, Verkehr
und Bau verbindlich verankert;

• Verkehrskonzepte zu entwickeln, die eine Verkehrsverlagerung von der
Straße auf die Schiene und – flussangepasst – auf Flüsse ermöglichen;

• die derzeit diskutierte Klassifizierung der Bundeswasserstraßen mit den Län-
dern, der Binnenschifffahrt und Transportlogistik, den Umweltverbänden
sowie der Sport- und Tourismuswirtschaft abzustimmen;

• dabei die Wasserstraßen nicht auf den Gütertransport verkürzt zu bewerten,
sondern die multifunktionale Bedeutung als ökologisch wertvolle Natur- und
Erholungsräume für die jeweiligen Regionen zu berücksichtigen;

• die Aufgaben der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes (WSV)
nach Maßgaben des Antrages der Fraktion DIE LINKE. „Kein Personalabbau
bei der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung – Aufgaben an ökologischer
Flusspolitik ausrichten“ (Bundestagsdrucksache 17/5548) zu erweitern und
in das „Nationale Rahmenkonzept für naturnahe Flusslandschaften“ zu inte-
grieren;

• die Investitionsförderung für eine moderne Binnenschifffahrtsflotte auf inno-
vative flussangepasste Schiffstypen zu konzentrieren und auszubauen;

• die rechtlichen Möglichkeiten der Hochwasserrisikomanagement-Richtlinie
für die Ausweisung von Auenbereichen als Hochwassergefährdungsgebiete
mit Vorgaben einer standortangepassten Bewirtschaftung zur Schadensmini-
mierung im Hochwasserfall zu prüfen und sich auf EU-Ebene für deren An-
erkennung als ökologische Vorrangflächen einzusetzen;

• im Wasserhaushaltsgesetz (WHG) räumlich zusammenhängende Gewässer-
randstreifen, je nach landschaftlichen Gegebenheiten, mittelfristig von 15 Me-
tern vorzusehen und sich, bei über die gesetzlichen Vorgaben hinausgehenden
Gewässerrandstreifen, auf EU-Ebene für deren Anerkennung als ökologische
Vorrangflächen einzusetzen;

• gesetzliche Grundlagen für ein generelles Verbot von Grünlandumbruch, ein-

schließlich der Verpflichtung zum Wasserrückhalt in der Fläche, zu prüfen
und zu schaffen;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9192

• die Harmonisierung verschiedener Zuständigkeiten zwischen Bund, Ländern
und Kommunen, insbesondere beim Hochwasserschutz, voranzutreiben und für
das Hochwasserwarnsystem bundeseinheitlich verbindliche Standards für Ein-
stufung, Management und Information bei Hochwasserereignissen zu schaffen;

• dabei bundesweite Regelungen für die Koordination der Gefahrenabwehr bei
Hochwasserereignissen und beim vorbeugenden Hochwasserschutz nach Ge-
wässereinzugsgebieten vorzugeben;

• ein übertragbares und praxistaugliches Modell für die konsequente Anwen-
dung des Verursacherprinzips zu entwickeln, das sämtliche Wasserdienstleis-
tungen nach der WRRL berücksichtigt;

• eine öffentliche Finanzierung zu gewährleisten, die vorrangig auf Synergien
zwischen dem Hochwasserschutz und dem Erhalt bzw. der Entwicklung frei
fließender Flüsse mit naturnahen Auen ausgerichtet ist;

• nach neuestem Stand der Wissenschaft und gewässerökologischen Nachhal-
tigkeitskriterien eine gesetzliche Neubewertung von Kleinwasserkraftanla-
gen mit einer Leistung bis ≤ 1 Megawatt (MW) vorzunehmen; dabei ist eine
privilegierte Einspeisevergütung nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz
auszuschließen und ist der Neubau von Kleinwasserkraftanlagen ≤ 1 MW mit
Querverbauung als nicht genehmigungsfähig einzustufen;

• an den Grenzflüssen für eine zwischen den Anrainerstaaten abgestimmte
Flusspolitik im Sinne des Antrages Sorge zu tragen;

• die Umsetzung der neuen Flusspolitik alle zwei Jahre zu evaluieren;

2. in dem „Nationalen Rahmenkonzept für naturnahe Flusslandschaften“ insbe-
sondere

• Strategien zur Verbesserung und nachhaltigen Sicherung von Qualität und
Quantität der Ressource Wasser durch die Revitalisierung des Lebensraums
Flusslandschaft zu entwickeln;

• kurz- bis mittelfristige Anpassungsstrategien an die Auswirkungen des Kli-
mawandels für Flusslandschaften integrativ und grenzüberschreitend zu kon-
zipieren;

• dabei die Erfordernisse zum Erhalt der biologischen Vielfalt und des vorbeu-
genden Hochwasserschutzes besonders zu berücksichtigen;

• eine Kosten-Nutzen-Analyse für die verschiedenen Nutzungsansprüche nach
TEEB, „The Economics of Ecosystems and Biodiversity“ (Ökonomie von Öko-
systemen und der Biodiversität) beispielhaft für Flusskonzepte zu erstellen,
um den Wert der Ökosystemdienstleistungen von Flusslandschaften zu ermit-
teln und daraus Nachhaltigkeitskriterien für Flusslandschaften abzuleiten;

• Forschungsprojekte mit konkreten Fragestellungen für innovative Lösungen
bei der Wiederherstellung von Wasserrückhalte- und natürlichen Lebens-
raumfunktionen der Flüsse und Auen in die Wege zu leiten;

• einen Umsetzungsteil für Flusskonzepte mit den Schwerpunkten Sohlstabili-
sierung und Durchgängigkeit für wandernde Tiere und Geschiebe verbindlich
festzulegen;

• ein Bundesmaßnahmeprogramm zu erstellen und dabei die finanzielle Aus-
stattung der Projekte an Synergieeffekte zum Abbau der flussspezifischen
Defizite zu koppeln.

Berlin, den 28. März 2012
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Drucksache 17/9192 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
Begründung

Wesentliche Folge des immer noch zunehmenden Ausbaus der Fließgewässer
und des Eintrags von Nähr- und Schadstoffen ist ein weiter zunehmender Arten-
rückgang durch den Verlust des Lebensraums Flusslandschaft. Hinzu kommen
eine erhöhte Hochwassergefahr durch fehlende Retentionsflächen und die kon-
tinuierliche Vertiefung der Flusssohle durch ausbaubedingt erhöhte Fließge-
schwindigkeit. Die Tiefenerosion führt zur Absenkung des Grundwassers und
damit zur Austrocknung benachbarter Flächen, was sich nachteilig auf den
Ertrag land- und forstwirtschaftlich genutzter Flächen und auf die biologische
Vielfalt auswirkt. Nach Angaben des Bundes für Umwelt und Naturschutz
Deutschland e. V. (BUND) erreicht die Tiefenerosion im Oberrhein bis zu 7 Me-
ter, in der mittleren Elbe bis zu 2 Meter.

Alarmierend sind die Meldungen der Europäischen Kommission vom November
2011, wonach gegenwärtig ein Artenrückgang von 44 Prozent der Weichtiere
und 37 Prozent der Süßwasserfische in den europäischen Strömen, Flüssen und
Seen zu verzeichnen ist.

Mit der Kommunalen Abwasser- und Nitrat-Richtlinie 91/676/EWG aus dem
Jahr 1991, der WRRL, der Grundwasserrichtlinie 2006/118/EG und der Hoch-
wasserrisikomanagement-Richtlinie 2007/60/EG schuf die EU den Rechts-
rahmen für eine gemeinschaftliche integrierte Gewässerschutzpolitik, um die
Ressource Wasser langfristig in ausreichender Qualität und Menge zu sichern.

Die EU will durch eine integrierte Wasserbewirtschaftung in Flussgebietseinhei-
ten für die europäischen natürlichen Gewässer bis 2015 einen „guten chemi-
schen und ökologischen Zustand“ und für künstliche und erheblich veränderte
Gewässer ein „gutes ökologisches Potential und einen guten chemischen Zu-
stand“ erreichen. So soll die Ressource Wasser in guter Qualität und ausreichen-
der Quantität erhalten werden. Zudem soll der Hochwasserschutz bis zum glei-
chen Zeitpunkt durch europaweite Hochwasserrisikomanagementpläne auf der
Grundlage von Risiko- und Gefahrenkarten verbessert werden. Die diesjährige
Überprüfung der gemeinschaftlichen Wasserpolitik durch die EU wird deren
wesentliche Umsetzungsdefizite aufzeigen und entsprechende Vorgaben zur Er-
reichung der europäischen Gewässerschutzziele vorgeben.

Die Grundlage für eine effektive Gefahrenabwehr im Hochwasserfall ist die
bundesweite Harmonisierung der Hochwasserwarnstufen, auch um die Koordi-
nation von Maßnahmen und die materielle Schadensbegrenzung zu optimieren.

Gleichzeitig wachsen die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ansprüche
(Binnen- und Freizeitschifffahrt, Ressourcensicherung, Naturschutz, Sport und
Erholung) an Flusslandschaften. Um den anstehenden Aufgaben gerecht zu wer-
den, ist eine neue Flusspolitik erforderlich. Sie ist die Grundlage für ein Natio-
nales Rahmenkonzept für naturnahe Flusslandschaften mit verbindlichen Eck-
punkten für Flusskonzepte innerhalb ihrer Einzugsgebiete.

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