BT-Drucksache 17/899

Sozial gerechtes Zwei-Säulen-Modell statt elitärer Studienfinanzierung

Vom 3. März 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/899
17. Wahlperiode 03. 03. 2010

Antrag
der Abgeordneten Kai Gehring, Priska Hinz (Herborn), Ekin Deligöz, Katja Dörner,
Agnes Krumwiede, Monika Lazar, Tabea Rößner, Krista Sager, Birgitt Bender,
Katrin Göring-Eckardt, Britta Haßelmann, Brigitte Pothmer, Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Sozial gerechtes Zwei-Säulen-Modell statt elitärer Studienfinanzierung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die staatliche Studienfinanzierung muss endlich besser, gerechter, verlässlicher
und leistungsfähiger werden. Sie braucht einen mutigen Umbau, der Aufstieg
durch Bildung, gleiche Chancen und mehr Teilhabe verwirklicht. Wir wollen
einen chancengleichen statt sozial selektiven Zugang zum Studium, Herkunft
darf nicht über Zukunft entscheiden. Der demografische Wandel und Fachkräf-
temangel machen es notwendig, mehr Akademikerinnen und Akademiker aus-
zubilden und vorhandene Bildungspotenziale zu heben. Höhere Investitionen in
Bildung sind ein Fundament unseres neuen Gesellschaftsvertrages: Gerechtig-
keit, Wachstum durch Bildung und Zukunftsfähigkeit sind ohne eine gute Stu-
dienfinanzierung unerreichbar. Die Bundesregierung stellt die Weichen dage-
gen in die falsche Richtung.

Das Bundesausbildungsfördergesetz (BAföG) hat mit seinen bedarfsabhängig
vergebenen Zuschüssen und Darlehen seit Jahrzehnten dazu beigetragen,
finanzschwachen und bildungsfernen Schichten den Zugang zu Hochschulreife
und Hochschulstudium zu erleichtern. Es hat aber weiter Reformbedarf, ist in
vielfacher Hinsicht unzureichend und ungerecht. Das zeigt sich z. B. an der
sinkenden Gefördertenquote und an mangelnder Bologna-Tauglichkeit. Als
erster Schritt hin zu einer neuen Studienfinanzierung muss das bisherige
BAföG unverzüglich weiterentwickelt und an neue Entwicklungen angepasst
werden. Angesichts einer sozial gespaltenen Gesellschaft und des viel zu wenig
genutzten Potenzials von Studienberechtigten aus einkommensarmen Eltern-
häusern müssen die Förderung erhöht und das Verschuldungsrisiko verringert
werden. Durch eine Erhöhung der Freibeträge für Eltern und Geschwister muss
der BAföG-Gefördertenkreis gezielt erweitert werden. Diesen Reformbedarf
erfüllt die vorliegende 23. Novelle des BAföG nicht. Sie repariert an kleinen

Stellen, leistet aber keinen entscheidenden Beitrag zur dringend notwendigen
sozialen Öffnung unserer Hochschulen.

Eine gänzlich falsche Antwort auf die soziale Schieflage beim Hochschul-
zugang ist das angekündigte Nationale Stipendienprogramm. Es ist kein Instru-
ment, um mehr junge Menschen für ein Studium zu gewinnen. Eine unsichere
Stipendiatenförderung, die zudem abhängt von der Region, dem Studienfach
und der örtlichen Stifterbereitschaft kann transparente Rechtsansprüche nicht

Drucksache 17/899 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

ersetzen. Da Habitus und Herkunft über die Chance auf ein Stipendium mitent-
scheiden, setzt das Programm eine falsche Priorität, weil es die ohnehin Bil-
dungsnahen einseitig fördert. Damit ist es ungeeignet, gezielt diejenigen zu er-
reichen, die sich vorwiegend aus finanziellen Gründen gegen ein Studium
entscheiden, es abbrechen oder verlängern müssen. Das Programm wird viel-
mehr dazu führen, dass junge Menschen durch eine bedarfsunabhängige Zah-
lung unterstützt werden, die größtenteils auch ohne diese Zuwendung studieren
würden. Gleichzeitig ist angesichts der leeren öffentlichen Kassen absehbar,
dass die Mittel für das Nationale Stipendienprogramm unmittelbar zu Lasten
des notwendigen Ausbaus beim BAföG gehen.

Anstatt das BAföG zu schwächen oder kleinteilig zu reparieren und anstelle
eines elitären Stipendienprogramms, brauchen wir eine ambitionierte Reform
der Studienfinanzierung, die vielfältige Lebens- und Studienrealitäten berück-
sichtigt sowie allen Studienberechtigten starke Anreize setzt, tatsächlich ein
Studium aufzunehmen.

Wir schlagen daher mit unserem Zwei-Säulen-Modell eine intelligente Mi-
schung aus bedarfsabhängigen und -unabhängigen Elementen vor. Das Zwei-
Säulen-Modell kombiniert einen einheitlichen Sockelbetrag, der allen Studie-
renden elternunabhängig zugute kommt (Studierendenzuschuss), mit einem Zu-
schuss für Studierende aus einkommensarmen Elternhäusern (Bedarfszu-
schuss) als starke soziale Komponente. Damit verfolgen wir das zentrale Ziel,
an den Hochschulen unterrepräsentierte Gruppen stärker für ein Studium zu ge-
winnen und die Teilhabechancen aller zu erhöhen. Beide Säulen sind als Voll-
zuschüsse gestaltet. Sie bilden das entscheidende Fundament für eine bessere,
gerechtere, verlässlichere und leistungsfähigere Studienfinanzierung.

Der Studierendenzuschuss stellt eine neue Säule im staatlichen Studienfinan-
zierungssystem dar. Er hat das Ziel, als neue Sockelförderung alle Studierenden
gleichermaßen und unabhängig vom Elterneinkommen zu fördern. Damit leis-
tet der Studierendenzuschuss eine wichtige Unterstützung und eine gewisse Ba-
sisabsicherung. Dabei werden die familienbezogenen Leistungen nicht mehr an
die Eltern der Studierenden ausgezahlt bzw. ihnen steuerlich gutgeschrieben.
Stattdessen werden das bisherige Kindergeld sowie steuerliche Freibeträge in
den neuen Sockel überführt, der direkt an die Studierenden fließt. Auf diese
Weise setzt er bei allen Studienberechtigten einen Anreiz zu studieren und ver-
bessert die Möglichkeit aller Studierenden, ihren Lebensunterhalt eigenständig
zu finanzieren.

Der Bedarfszuschuss bildet die zuverlässige und verschuldensfreie soziale
Komponente: Der neue Bedarfszuschuss muss – anders als das jetzige BAföG –
nicht zurückgezahlt werden. So werden die überwiegend finanziellen Gründe
entkräftet, aus denen in einkommensarmen und hochschulfernen Familien der-
zeit die meisten Bildungspotenziale brachliegen. Diese Studienberechtigten-
gruppen werden im Vergleich zum heutigen BAföG durch das Zwei-Säulen-
Modell stärker begünstigt.

Darüber hinaus setzen wir uns dafür ein, Studiengebühren in den Bundeslän-
dern abzuschaffen, wie es in Hessen und im Saarland bereits gelungen ist. Stu-
diengebühren schrecken als finanzielle Hürde vom Studium ab und belasten
den Geldbeutel der Studierenden bzw. ihrer Eltern.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. ihren unausgegorenen und ungerechten Gesetzentwurf für ein Nationales
Stipendienprogramm zurückzuziehen und von der unverhältnismäßigen Er-
höhung des Büchergeldes bei der Begabtenförderung abzusehen,

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/899

2. die dafür vorgesehenen Mittel kurzfristig zur deutlichen Aufstockung der
BAföG-Fördersätze und -Freibeträge um jeweils mindestens 5 Prozent zu
verwenden, um die Zahl der geförderten Studierenden zu erhöhen,

3. ein Konzept für eine sozial gerechte, verlässliche und leistungsfähige Stu-
dienfinanzierung vorzulegen, das die Bedürfnisse von Studierenden aus
hochschulfernen Schichten besonders berücksichtigt und dazu beiträgt, die
Bildungsbeteiligung insgesamt zu erhöhen,

4. mit diesem Konzept ein Zwei-Säulen-Modell aus zwei sich ergänzenden
Vollzuschüssen einzuführen, wobei die erste Säule einen einheitlichen
Sockelbetrag bildet, der allen Studierenden elternunabhängig zugute kommt
und die zweite Säule als Bedarfszuschuss eine starke soziale Komponente
für Studierende aus einkommensarmen Elternhäusern garantiert,

5. sich in den Verhandlungen mit den Bundesländern zu Hochschulfragen für
die Abschaffung von Studiengebühren einzusetzen,

6. auf Steuersenkungen zu verzichten, die den Ländern die finanzielle Grund-
lage für notwendige Bildungsinvestitionen auch in der Studienfinanzierung
entzieht.

Berlin, den 3. März 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Junge Menschen aus bildungsfernen Elternhäusern erwerben in Deutschland
viel seltener die Hochschulzugangsberechtigung als in anderen OECD-Län-
dern. Auch bei den Studienberechtigten ist die soziale Herkunft entscheidend,
ob ein Studium aufgenommen wird. Nach wie vor sind an den Hochschulen
Arbeiterkinder stark unterrepräsentiert. Zahlreiche Untersuchungen belegen,
dass eine gute und auskömmliche Studienfinanzierung eine maßgebliche Rolle
dafür spielt, ob sich junge Menschen für ein Studium entscheiden. Vor allem
finanzielle Gründe werden genannt, wenn es zum Studienverzicht und -abbruch
kommt.

Studien zum Innovationspotenzial zeigen, dass hohe volkswirtschaftliche Ver-
luste entstehen, wenn Fachkräfte und Akademikerinnen/Akademiker fehlen.
Nur wenn auch die Bildungspotenziale von jungen Menschen aus Nichtaka-
demikerfamilien endlich stärker gehoben werden, kann Deutschland hier auf-
holen. In Zeiten von demografischem Wandel und Wissensgesellschaft braucht
es für alle Herkunftsgruppen dringend breitere Wege auf den Campus. Hier
muss eine neue Studienfinanzierung mit zwei Säulen gezielt ansetzen. Sie ist
eine zentrale Investition in die Zukunft und sorgt für mehr Bildungsgerechtig-
keit, größere Aufstiegschancen und Entfaltung der individuellen Potenziale.

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