BT-Drucksache 17/8767

Die deutschen Kolonialverbrechen im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika als Völkermord anerkennen und wiedergutmachen

Vom 29. Februar 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8767
17. Wahlperiode 29. 02. 2012

Antrag
der Abgeordneten Niema Movassat, Sevim Dag˘delen, Stefan Liebich,
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, Dr. Diether Dehm,
Annette Groth, Heike Hänsel, Inge Höger, Andrej Hunko, Harald Koch,
Thomas Nord, Yvonne Ploetz, Paul Schäfer (Köln), Alexander Ulrich,
Kathrin Vogler, Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Die deutschen Kolonialverbrechen im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika als
Völkermord anerkennen und wiedergutmachen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der Deutsche Bundestag erinnert an die Verbrechen der Kolonialtruppen des
deutschen Kaiserreichs in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika
und verneigt sich im Gedenken an die Opfer von Vertreibungen, Enteignung,
Zwangsarbeit, Massakern, Vergewaltigungen, medizinischen Experimenten,
Deportationen in andere deutsche Kolonien und menschenunwürdiger Unter-
bringung in Internierungslagern. Nach wissenschaftlichen Schätzungen fie-
len dem Vernichtungsfeldzug zwischen 1904 und 1908 bis zu 80 Prozent der
Herero und mehr als 50 Prozent der Nama sowie ein großer Teil der Damara
und San zum Opfer.

2. Der Deutsche Bundestag schließt sich den Forschungsergebnissen der Mehr-
heit der Fachwelt an und sieht in dem Vorgehen gegen die Herero, Nama,
Damara und San die Kriterien für einen Völkermord erfüllt, wie sie in der
Konvention der Vereinten Nationen von 1948 über die Verhütung und Bestra-
fung des Völkermordes definiert wurden. Die Kriegsführung der deutschen
Kolonialtruppe in Deutsch-Südwestafrika in den Jahren 1904 bis 1908 sowie
die danach folgenden Maßnahmen der Kolonialverwaltung erfüllen die heute
geltenden Kriterien für Völkermord. Sowohl der Befehl des deutschen Gene-
rals Lothar von Trotha vom 2. Oktober 1904 als auch die folgende Kriegfüh-
rungspraxis gegen die Herero und Nama belegen eine Vernichtungsabsicht,
wie sie auch in § 6 des Völkerstrafgesetzbuches der Bundesrepublik Deutsch-
land niedergelegt ist.

3. Der Deutsche Bundestag bittet die Nachfahren der vom Völkermord betrof-
fenen Herero, Nama, Damara und San um Entschuldigung.
4. Der Deutsche Bundestag bekräftigt mit diesem Beschluss den hunderttausen-
den Opfern des deutschen Kolonialismus gegenüber seine Scham, sein tiefes
Bedauern und seine Trauer angesichts der im deutschen Namen begangenen
Verbrechen. Zugleich erkennt und ehrt er den langen, aktiven und mutigen
Widerstand der Menschen in Afrika gegen die Kolonialherrschaft.

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5. Der Deutsche Bundestag betont erneut die besondere historische und morali-
sche Verantwortung Deutschlands gegenüber dem heutigen Namibia und der
namibischen Bevölkerung, zu der sich der Bundestag bereits in seinen Ent-
schließungen vom April 1989 und Juni 2004 bekannt hat.

6. Der Deutsche Bundestag respektiert den einstimmigen Beschluss der nami-
bischen Nationalversammlung vom 26. Oktober 2006, der den von deutschen
Truppen verübten Völkermord anerkennt und die in der Nationalversamm-
lung aufgestellten Forderungen nach Entschädigungen unterstützt. Der Bun-
destag unterstützt den in diesem Beschluss angemahnten Prozess eines um-
fassenden, zielgerichteten und strukturierten Dialogs ohne Vorbedingungen,
das heißt ohne Auslassung auch der Wiedergutmachungsfrage als eines wich-
tigen Bestandteils des Versöhnungsprozesses.

7. Der Deutsche Bundestag begrüßt die verstärkte bilaterale Zusammenarbeit
mit Namibia – insbesondere auf dem Gebiet der Entwicklungszusammen-
arbeit –, die seit der Unabhängigkeit Namibias aufgrund der besonderen
Verantwortung Deutschlands geleistet wird. Entwicklungszusammenarbeit
unterscheidet sich jedoch grundsätzlich von Wiedergutmachung. Sie kann
diese daher nicht ersetzen. Bei Wiedergutmachung handelt es sich nicht um
Hilfeleistung, sondern um einen Anspruch von Geschädigten, der sich aus
der Anerkennung von erlittenem Unrecht ergibt.

8. Der Deutsche Bundestag ist sich bewusst, dass die Auswirkungen des Völ-
kermordes und des deutschen Kolonialismus im ehemaligen Deutsch-Süd-
westafrika in der sozialen und ökonomischen Wirklichkeit Namibias bis
heute präsent sind. Die Vertreibung der Bevölkerung und die Aneignung von
Ländereien und Viehbeständen unter Missachtung traditioneller Landrechte
hat bis heute eine ungerechte Landverteilung zur Folge. Insbesondere den
Herero, Nama, Damara und San fehlen die Mittel, um Land zu erwerben oder
in anderer Form die historischen Verluste wettzumachen und sich eine eigen-
ständige wirtschaftliche Grundlage wieder aneignen zu können. Wiedergut-
machung sollte hier ansetzen und das Ziel verfolgen, diese historisch aus der
Kolonialzeit bis heute wirkenden strukturellen Nachteile auszugleichen.

9. Der Deutsche Bundestag ist sich darüber bewusst, dass die Auseinanderset-
zung mit den historischen Ereignissen, die zum Völkermord führten und sei-
nen Folgen auch unmittelbare Bedeutung für die Gegenwart hat. Deshalb
muss sich Deutschland seiner kolonialen Vergangenheit in aller Klarheit und
Deutlichkeit stellen. Geschichtsaufarbeitung kann nicht ohne eine breite ge-
sellschaftliche Debatte und Auseinandersetzung mit der deutschen kolonia-
len Vergangenheit gelingen. Sie darf sich nicht auf Wissenschaft und Politik
beschränken. Die kritische Reflexion der kolonialen Vergangenheit der in
diesem Zusammenhang verübten Verbrechen und der bis heute fortdauernden
kolonialen Prägungen der deutschen Gesellschaft ist auch Voraussetzung für
eine nachhaltige und wirkungsvolle Auseinandersetzung mit dem insbeson-
dere gegen schwarze Menschen gerichteten Rassismus. Einen wichtigen Bei-
trag zur Erinnerung können die Bundesländer und Kommunen leisten. Auf-
gabe der Bildungspolitik muss es sein, dazu beizutragen, dass die
Aufarbeitung des Völkermordes und der deutschen Kolonialherrschaft we-
sentlich systematischer als bisher auch in Schulen erfolgt und darüber hinaus-
gehende Bildungsprogramme und -kampagnen zur kritischen Aufarbeitung
der deutschen und europäischen Kolonialgeschichte gefördert werden.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8767

II. Der Deutsche Bundestag beschließt,

1. der namibischen Nationalversammlung einen gemeinsamen Parlamentarier-
dialog vorzuschlagen, der die mit dem Fortgang der Versöhnung zusammen-
hängenden Fragen bearbeitet und Vorschläge formuliert. Bei Interesse der
namibischen Seite wird der Deutsche Bundestag mit dieser in einen offenen,
zielgerichteten und strukturierten Dialog eintreten;

2. eine deutsch-namibische Parlamentariergruppe einzurichten, um der beson-
deren Rolle Namibias infolge der historischen und moralischen Verantwor-
tung Deutschlands und der damit einhergehenden Sonderbeziehung beider
Länder gerecht zu werden.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. ihrer besonderen historischen Verantwortung gerecht zu werden und anzuer-
kennen, dass es sich bei dem Vernichtungskrieg gegen die Herero, Nama und
andere Volksgruppen in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika um
einen Völkermord handelte, wie er in der Konvention der Vereinten Nationen
von 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes definiert
wurde;

2. diesen Beschluss des Deutschen Bundestages aufzugreifen und die Herero,
Nama, Damara und San, sowie die Republik Namibia im deutschen Namen
um Entschuldigung für diesen Völkermord zu bitten;

3. die Bereitschaft gegenüber der namibischen Regierung zu erklären, in einen
offenen, zielgerichteten und strukturierten Dialog unter Einbeziehung der be-
troffenen Bevölkerungsgruppen über den weiteren Versöhnungsprozess und
die damit zusammenhängenden Fragen, wie geeignete Wiedergutmachungs-
leistungen, einzutreten;

4. der namibischen Regierung die Einrichtung eines Strukturausgleichsfonds
oder einer Stiftung unter der Entscheidungshoheit der namibischen National-
versammlung und Regierung unter Einbeziehung der betroffenen Bevölke-
rungsgruppen anzubieten, mittels dessen ein Ausgleich der aus der deutschen
Kolonialzeit bis heute nachwirkenden strukturellen Benachteiligungen – ins-
besondere bei der Landfrage und bei mangelnder Infrastruktur – und der dar-
aus resultierenden sozialen Gegensätze hergestellt werden kann;

5. eine geeignete Rechtsgrundlage zu schaffen, die eine angemessene finanzi-
elle Beteiligung der Organisationen und Unternehmen und ihrer Rechtsnach-
folger, die von Zwangsarbeit, Enteignungen und Vertreibungen profitiert ha-
ben, an der Ausstattung des Strukturausgleichsfonds bzw. der Stiftung oder
anderer im Dialog ausgehandelter Wiedergutmachungsmaßnahmen gewähr-
leistet;

6. eine vollständige Bestandsaufnahme einschließlich der Provenienzfeststel-
lung von in deutschen Archiven und Beständen lagernden geraubten mensch-
lichen Überresten und Kulturgütern aus ehemaligen deutschen Kolonien und
Überseegebieten sicherzustellen und den Herkunftsländern und betroffenen
Bevölkerungsgruppen das Angebot zur Rückgabe dieser menschlichen Über-
reste und Kulturgüter zu unterbreiten;

7. einen würdigen und diplomatisch angemessenen Rahmen für die Rückfüh-
rung der geraubten menschlichen Überreste aus ehemaligen deutschen Kolo-
nien und Überseegebieten zu schaffen, indem sie diese über Verträge und Ab-
kommen mit den beteiligten deutschen Institutionen und Bundesländern in
die Verantwortung der Bundesregierung überführt und den Rückführungs-
prozess zusammen mit den betroffenen Staaten organisiert und durchführt;

Drucksache 17/8767 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

8. die Gründung einer Bundesstiftung in die Wege zu leiten, deren Zweck es
ist, in Deutschland das historische Bewusstsein über Kolonialismus all-
gemein und speziell die deutsche Kolonialvergangenheit zu stärken, das
Wissen über die kulturelle Vielfalt und Geschichte der vom Kolonialsystem
unterworfenen Länder und Völker sowie deren Widerstands- und Befrei-
ungskampf zu vertiefen. Dazu gehört auch die Intensivierung und Systema-
tisierung des bilateralen Austauschs zwischen Deutschland und Namibia
sowie anderen ehemaligen Kolonien insbesondere auf der Ebene der län-
derübergreifenden Jugend- und Bildungsarbeit. Aussöhnungsprozesse in
Europa können dabei als Vorbild dienen. Auf eine angemessene finanzielle
Beteiligung am Stiftungsvermögen der Organisationen und Unternehmen
und ihrer Rechtsnachfolger, die von Zwangsarbeit, Enteignungen und
Vertreibungen in ehemaligen deutschen Kolonien profitiert haben, ist hin-
zuwirken;

9. der Regierung Namibias die Einrichtung einer deutsch-namibischen Schul-
buchkommission nach dem Vorbild der deutsch-polnischen Schulbuchkom-
mission anzubieten und in diesem Rahmen Schulbücher über die gemein-
same Geschichte durch Historiker beider Länder erarbeiten zu lassen,
analog den in jüngster Vergangenheit erschienenen und noch in Erarbeitung
befindlichen deutsch-französischen und deutsch-polnischen Schulbüchern;

10. in der Kultusministerkonferenz darauf zu dringen, dass die Auseinanderset-
zung mit der deutschen und europäischen Kolonialvergangenheit und deren
bis heute anhaltenden Auswirkungen fest in den Lehrplänen an deutschen
Schulen verankert wird und die Unterrichtsmaterialien dementsprechend
überarbeitet und ergänzt werden.

Berlin, den 29. Februar 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Die deutsche Kolonialvergangenheit ist konstitutiver Bestandteil der deutschen
Geschichte, die ihre Spuren in den betroffenen Ländern und in Deutschland bis
heute hinterlassen hat. Die Bundesrepublik Deutschland hat dies im Falle der
ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika durch den Aufbau von Sonderbe-
ziehungen zum heutigen Namibia zum Ausdruck gebracht. Bei den Gedenkfei-
erlichkeiten zum 100. Jahrestag der Niederschlagung der Herero-Aufstände in
Namibia bat Bundesministerin a. D. Heidemarie Wieczorek-Zeul 2004 erstmals
die Nachkommen der Opfer offiziell um Vergebung und stellte fest: ,Die dama-
ligen Gräueltaten waren das, was heute als Völkermord bezeichnet würde – für
den ein General von Trotha heutzutage vor Gericht gebracht und verurteilt
würde. Wir Deutschen bekennen uns zu unserer historisch-politischen, mora-
lisch-ethischen Verantwortung und zu der Schuld, die Deutsche damals auf sich
geladen haben. Ich bitte Sie im Sinne des gemeinsamen „Vater unser“ um Ver-
gebung unserer Schuld. Ohne bewusste Erinnerung, ohne tiefe Trauer kann es
keine Versöhnung geben. Versöhnung braucht Erinnerung.‘

Nach der im Krieg gegen die Herero entscheidenden Schlacht am Waterberg
vom 11./12. August 1904 flohen zehntausende Männer, Frauen und Kinder vor
den deutschen Truppen in die Omaheke-Wüste. Das Sandfeld wurde militärisch

abgeriegelt, um die Herero darin verdursten zu lassen. Am 2. Oktober 1904 gab
der verantwortliche General Lothar von Trotha folgenden Vernichtungsbefehl:

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/8767

„Innerhalb der deutschen Grenzen wird jeder Herero mit und ohne Gewehr, mit
oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe
sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auf sie schießen.“ Der deutsche General-
stabschef Alfred Graf von Schlieffen nannte den Krieg einen „Rassenkampf“
und billigte ausdrücklich die „Vernichtung oder vollständige Knechtung“ der
Herero. Unter dem Eindruck des Vernichtungsfeldzugs gegen die Herero erho-
ben sich die Nama und verwickelten die deutschen Truppen in einen jahrelangen
Guerillakrieg. Auch deren Widerstand schlugen die deutschen Truppen brutal
und unter gezielter Inkaufnahme der Vernichtung auch von Frauen und Kindern
nieder. Die Volksgruppen der Damara und San waren von der deutschen Kriegs-
führung ähnlich hart betroffen, auch wenn sie sich zu keinem Zeitpunkt in einem
erklärten Krieg gegen das Kaiserreich befanden. Die San fielen systematisch be-
triebenen sogenannten Buschmannjagden zum Opfer. Neben den unmittelbaren
Massentötungen im Rahmen der militärischen Kriegsführung wurden insbeson-
dere Frauen, Kindern und Alten vorsätzlich äußere Lebensumstände auferlegt,
die ihren Tod herbeiführen mussten. Dazu gehörte das Hinaus- und Zurücktrei-
ben in die Wüste mit Verdursten und Verhungern, der Erschöpfungstod durch
Zwangsarbeit sowie das Massensterben durch Seuchen aufgrund der unhygieni-
schen Zustände und der Verweigerung von medizinischer Behandlung in Inter-
nierungslagern, den so bezeichneten Konzentrationslagern.

Ausgangspunkt der aus heutiger Sicht legitimen Aufstände war die Erfahrung
der Unterdrückung im deutschen Kolonialsystem. Deutsche Oppositionspoliti-
ker, wie etwa August Bebel, vertraten im Reichstag auch damals schon diese
Auffassung. Weite Landstriche wurden von den Kolonialbehörden durch Ab-
schluss betrügerischer, auch militärisch erzwungener „Schutzverträge“ der je-
weiligen Bevölkerung entzogen.

Im Verlauf des Krieges perfektionierte die Regierung in Berlin die Enteignungen
durch Methoden, die ihre Vernichtungsabsicht bestätigten. Per kaiserlichem
Dekret vom 26. Dezember 1905 sowie durch die Bekanntmachungen vom
23. März 1906 und 8. Mai 1907 erklärte sie das Land der aufständischen Bevöl-
kerungsgruppen zum Staatseigentum. Den traditionell von der Viehzucht leben-
den Herero und den Nama wurde der Besitz von Pferden und Rindern verboten.
Zehntausende Tiere wurden ohne Zahlung von Kompensationsleistungen ge-
raubt. Damit wurden die ökonomischen Existenzgrundlagen der Überlebenden
zerstört. Die bis in die Gegenwart nachwirkende extrem ungleiche Landvertei-
lung im heutigen Ost-, Zentral- und Südnamibia hat ihren historischen Ursprung
in den von den deutschen Kolonialherren durchgeführten Landenteignungen.

Die Überlebenden der militärischen Vernichtungsmaßnahmen wurden häufig als
Strafgefangene unter menschenunwürdigen Bedingungen in so bezeichneten
Konzentrationslagern eingepfercht. Sie wurden zur Verrichtung schwerster kör-
perlicher Arbeiten vor allem im Eisenbahnbau gezwungen. In dem berüchtigten
Lager auf der Haifischinsel vor der Lüderitzbucht starb ein Großteil der Inhaf-
tierten an den Folgen bewusst herbeigeführter Unterversorgung. Vergewaltigun-
gen von Frauen durch deutsche Soldaten wurden von der Militärführung gedul-
det oder sogar gefördert. Menschliche Überreste wurden in größerer Anzahl
geraubt und zu „rassekundlichen“ Forschungszwecken nach Deutschland ver-
bracht. Herero-Frauen wurden dazu gezwungen, die abgetrennten Köpfe ihrer
ermordeten Männer vor der Verschiffung auszuwaschen und die Haut mit Glas-
scherben abzukratzen.

Erst mit der Unabhängigkeit Namibias 1990 waren die Nachfahren der Opfer in
der Lage, gegenüber der Bundesrepublik Deutschland als Rechtsnachfolger des
deutschen Kaiserreichs die Anerkennung des Völkermords und Wiedergutma-
chung einzufordern. Ein Dialog hierüber wurde seither von offiziellen Stellen in

Deutschland mehrfach abgelehnt. Die seit 2004 laufende „Sonderinitiative“, oft
auch „Versöhnungsinitiative“ genannt, durch die Gelder der KfW Banken-

Drucksache 17/8767 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

gruppe in die betroffenen Gebiete fließen, wurde von der Bundesregierung ein-
seitig, ohne Konsultationen mit der namibischen Seite über dessen konkrete
Ausgestaltung, beschlossen. Am 26. Oktober 2006 erkannte die namibische
Nationalversammlung den Völkermord als solchen einstimmig an und forderte
ihre Regierung auf, mit der Bundesregierung in Verhandlungen über Entschä-
digungszahlungen einzutreten. Spätestens seit der offiziellen Übermittlung am
15. November 2007 hat die Bundesregierung Kenntnis dieses Beschlusses. Sub-
stantielle Schritte der Bundesregierung sind jedoch bislang unterblieben.

Erst Ende September 2011 wurde mit der Rückführung von menschlichen Über-
resten von Opfern des deutschen Vernichtungsfeldzugs vor 100 Jahren nach
Namibia begonnen. Die dafür anreisende namibische Delegation unter Leitung
des namibischen Ministers für Jugend, Nationale Dienste, Sport und Kultur
wurde nicht offiziell durch die Bundesregierung empfangen. Lediglich an der
Übergabezeremonie beteiligte sie sich als Gast der Charité – Universitätsmedi-
zin Berlin durch eine von der Staatsministerin im Auswärtigen Amt gehaltene
Rede. Eine von der namibischen Seite erwartete offizielle Entschuldigung für
den Völkermord in mahnender Anwesenheit der 20 Totenschädel seiner Opfer
blieb abermals aus. Ohne sich die Rede des namibischen Ministers anzuhören,
verließ die Staatsministerin den Festsaal.

Das Verhalten deutscher Regierungen zeigt, dass dieses Kapitel der Geschichte
in Deutschland bis heute nicht befriedigend aufgearbeitet wurde. In deutschen
Schul- und Bildungseinrichtungen ist der deutsche Kolonialismus zumeist ein
weißer Fleck. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Zeit Deutschlands als
Kolonialmacht findet bis heute kaum statt. Über die der namibischen Seite an-
zubietende gemeinsame Schulbuchkommission kann die Aufarbeitung der ge-
meinsamen Geschichte gestärkt werden und namibische Perspektiven bekämen
ihren angemessenen Platz im Unterricht. Zugleich ergeben sich hier einzigartige
Möglichkeiten des Austauschs über die Bewertung der schwierigen Vergangen-
heit.

Angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ist eine Zusammenar-
beit, die von gegenseitigem Verständnis und Respekt geprägt ist, unabdingbar
für die zukunftsgerichtete Entwicklung beider Länder. Im Bewusstsein seiner
historischen Verantwortung entschuldigt sich der Deutsche Bundestag für den
Völkermord und schlägt der namibischen Nationalversammlung einen offenen
Dialog über den weiteren Versöhnungsprozess und Konsequenzen aus dem Be-
schluss der namibischen Nationalversammlung vor. Unter den Opferverbänden
der Herero und Nama besteht heute Einigkeit, dass Wiedergutmachung nur in
Form nachhaltig wirkender Strukturmaßnahmen zur wirtschaftlichen Entwick-
lung der ursprünglichen Siedlungsgebiete erfolgen kann, indem den Nachfahren
der Opfer, beispielsweise über eine Landreform, eine tragfähige wirtschaftliche
Grundlage ermöglicht wird. Davon würden alle dort heute ansässigen Bewohne-
rinnen und Bewohner Namibias profitieren, einschließlich der Nachfahren deut-
scher Siedlerinnen und Siedler.

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