BT-Drucksache 17/8741

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin Finanzhilfen für Griechenland und Europäischer Rat am 1./2. März 2012 in Brüssel

Vom 27. Februar 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8741
17. Wahlperiode 27. 02. 2012

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Andrej Hunko, Thomas Nord, Alexander
Ulrich, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, Sevim Dag˘delen,
Werner Dreibus, Annette Groth, Heike Hänsel, Inge Höger, Harald Koch, Stefan
Liebich, Ulrich Maurer, Niema Movassat, Paul Schäfer (Köln), Kathrin Vogler,
Sahra Wagenknecht, Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin

Finanzhilfen für Griechenland und Europäischer Rat am 1./2. März 2012 in Brüssel

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Auf dem EU-Gipfel vom 30. Januar 2012 beschlossen die Staats- und Regie-
rungschefs der Europäischen Union (EU) mit Ausnahme Großbritanniens
und Tschechiens einen zwischenstaatlichen „Fiskalvertrag“ für die Mitglie-
der der Eurozone und weitere EU-Staaten. Der Vertrag soll auf dem nächsten
Gipfel im März 2012 unterzeichnet werden und bis zum 1. Januar 2013 rati-
fiziert werden.

2. Die Beschlüsse zeigen deutlich, dass die Bundesregierung sich mit ihrer ver-
fehlten Analyse durchgesetzt hat, die Eurokrise sei als Staatsschuldenkrise
ursächlich auf unverantwortliche Haushaltsführung zurückzuführen. Folg-
lich wird der auf dieser Analyse basierende Vertrag die Krise nicht lösen – im
Gegenteil, denn die tatsächlichen, tiefer liegenden Ursachen der Eurokrise
werden im Vertragstext nicht einmal erwähnt. Wirksame Instrumente zu ihrer
Überwindung sind darin nicht vorgesehen: Maßnahmen zur Regulierung der
Finanzmärkte, zur Entkopplung der Staatsfinanzierung von den privaten
Kapitalmärkten, zur Vermeidung von Leistungsbilanzungleichgewichten
oder ähnliche Instrumente kommen entsprechend nicht einmal ansatzweise
vor. Damit geht auch die massive Umverteilung von unten nach oben weiter;
die Verursacher und Profiteure der Krise werden nicht zur Finanzierung der
Krisenkosten herangezogen und auch am europäischen Steuer-, Lohn- und
Sozialdumping wird sich nichts ändern.
3. Der sogenannte Fiskalvertrag zwingt die Vertragsstaaten dauerhaft zu einer
Kürzungs- und Austeritätspolitik: Die Unterzeichner verpflichten sich dem
Ziel, ausgeglichene Haushalte oder Haushaltsüberschüsse zu erwirtschaften.
Hierzu müssen sie Schuldenbremsen – vorzugsweise in ihren Verfassungen –
verankern, die ihre Neuverschuldung auf maximal 0,5 Prozent (bzw. 1 Pro-
zent bei gering verschuldeten Ländern) ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) be-
grenzt. Darüber hinaus enthält der Vertrag eine Schuldenabbauregel für alle

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Staaten, deren Schuldenquote 60 Prozent des BIP übersteigt. Diese müssen
ihre Verschuldung jährlich um durchschnittlich ein Zwanzigstel reduzieren.
Die Europäische Kommission wird ermächtigt, die Einhaltung der Regeln zu
überwachen. Wenn die Schuldenbremse nicht eingehalten wird, greifen auto-
matische Korrekturmechanismen, deren „Art, Umfang und Zeitrahmen“ (Ar-
tikel 3 Absatz 2 des Fiskalvertrags) die Europäische Kommission vorschlägt.
Diejenigen Staaten, die die Schuldenbremsen nicht vertragsgemäß in natio-
nales Recht umsetzen, sollen künftig vor dem Europäischen Gerichtshof
(EuGH) auf Geldbußen bis zu 0,1 Prozent ihres BIP verklagt werden können.
Die Modalitäten für den Klageweg sollen bis zur Unterzeichnung des Ver-
trags im März 2012 festgelegt werden. Überdies wird der im letzten Jahr be-
reits verschärfte Stabilitäts- und Wachstumspakt noch einmal strikter gefasst,
indem automatische Sanktionen eingeführt werden und die Länder, die das
Defizitkriterium von 3 Prozent verletzen, faktisch ihrer Haushaltssouveräni-
tät beraubt werden.

4. Die neuen haushaltspolitischen Regelungen werden EU-weit zu massiven
Ausgabenkürzungen, zu systematisch verschärftem Sozialabbau und zu Pri-
vatisierungen staatlichen Eigentums und öffentlicher Leistungen führen.
Allein in der Eurozone liegen in über zwei Drittel der Mitgliedstaaten die
Schuldenstände infolge der Krise und der Bankenrettung zum Teil deutlich
über der 60-Prozent-Marke. EU-weit müssten in den nächsten fünf Jahren
über 1,5 Bio. Euro eingespart werden. Auch die Menschen in Deutschland
wären von diesem brutalen Angriff auf Löhne und Arbeitsplätze im öffent-
lichen Dienst, dem Druck auf Renten und Sozialleistungen sowie der flächen-
deckenden Privatisierung direkt betroffen. Mit der Vertragsunterzeichnung
soll die europaweite neoliberale Kürzungs- und Austeritätspolitik weiter
radikalisiert, völkerrechtlich festgeschrieben und damit unumkehrbar ge-
macht werden.

5. Dieser Vertrag und diese Politik, die ohne Rücksicht auf die soziale und wirt-
schaftliche Situation Kürzungsdiktate zur obersten Priorität erhebt, führt die
EU immer tiefer in die Krise: Nicht nur die Entwicklungen in Griechenland
zeigen die verheerenden Folgen einer Haushalts- und Wirtschaftspolitik, die
einseitig auf Ausgabenkürzung und Staatsabbau sowie neoliberalen Wettbe-
werb ausgerichtet ist. Nach aktuellen Prognosen – u. a. der portugiesischen
Zentralbank, die für 2013 einen erneuten Wirtschaftsrückgang von –3,1 Pro-
zent befürchtet – droht derzeit auch Portugal in einen vergleichbaren Zyklus
von radikaler Ausgabenkürzungspolitik, vertiefter Rezession und wachsen-
den Schulden zu geraten. Auch von der jüngsten Abwertung von neun
Euroländern durch die Ratingagentur Standard & Poor’s im Januar 2012
waren Staaten betroffen, die massive Spar- und Kürzungsprogramme durch-
laufen. Selbst die Ratingagentur mahnte dort Konjunkturprogramme zur
Stärkung der Binnennachfrage sowie Maßnahmen zum Abbau von Leis-
tungsbilanzungleichgewichten in der Eurozone und der EU an, um die Krise
zu überwinden. Doch der Fiskalvertrag bleibt gerade in den Abschnitten zur
wirtschaftspolitischen Koordinierung äußerst vage. Sinnvolle Maßnahmen
wie z. B. ein außenwirtschaftlicher Stabilitätspakt oder eine Koordinierung
der Steuerpolitik zur Bekämpfung des Steuerdumpings werden nicht erwähnt.

6. Die mit dem Vertrag angestrebte „Stabilitätsunion“ ist nicht nur sozial- und
wirtschaftspolitisch fatal, sie ist auch ein massiver Anschlag auf die Demo-
kratie in allen beteiligten Staaten. Das demokratische Haushaltsrecht der
nationalen Parlamente wird ausgehebelt, sobald ein Land vom strikten Weg
der Austerität und von den verschärften Regeln der Währungsunion ab-
weicht: Die Ermächtigung der Europäischen Kommission, „Defizitsündern“
wirtschafts- und haushaltspolitische Vorgaben zu machen, reduziert die Ge-

staltungs- und Entscheidungsmacht der mitgliedstaatlichen Parlamente dras-
tisch. Eine aktive Konjunkturpolitik wird künftig ebenso unmöglich sein wie

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8741

eine gestaltende Finanzpolitik, z. B. zur Einleitung der sozial-ökologischen
Wende. Das Europäische Parlament (EP) wird im Rahmen der neuen Regeln
völlig marginalisiert und die im Vertrag vorgesehene Einrichtung einer
Konferenz der relevanten Ausschüsse des EP und der Mitgliedstaaten zur
Förderung einer koordinierten Fiskal- und Wirtschaftspolitik ist völlig un-
zureichend, da sie keine wirksamen Kontroll- und Gestaltungskompetenzen
vorsieht.

7. Das Herausbrechen wesentlicher Bereiche aus dem Recht des „Staatenver-
bunds“ EU und ihre Überführung in einen außerhalb des EU-Rechts zu etab-
lierenden „Fiskalvertrag“ stellt nach dem „Euro-Plus-Pakt“ einen weiteren
Schritt europäischer Desintegration dar. Durch die vertragliche Festschrei-
bung von Euro-Gipfeln mit privilegierter Stellung der Eurostaaten gegenüber
den anderen Vertragsstaaten und durch die Schaffung eines Präsidenten der
Eurogruppe wird die Spaltung der EU weiter vorangetrieben. Der Vertrag be-
deutet zugleich einen eklatanten Verstoß gegen das geltende EU-Recht, weil
er zentrale Organe der EU einer anderen Rechtsordnung als der der EU-Ver-
träge unterwerfen will. Damit wird die Rechtsstaatlichkeit der EU insgesamt
in Frage gestellt. Daran ändert auch die angekündigte Überführung des
„Fiskalvertrags“ in den Rechtsrahmen der EU innerhalb von fünf Jahren
nichts. Es ist zu erwarten, dass aus diesen Gründen der EuGH erfolgreich an-
gerufen werden kann.

8. Durch den geplanten völkerrechtlichen Vertrag soll die Schuldenbremse des
Grundgesetzes (GG) der Aufhebung oder Änderung durch den deutschen
Verfassungsgesetzgeber auf Dauer entzogen werden. Dies verstößt gegen die
sogenannte Ewigkeitsgarantie des Artikels 79 Absatz 3 GG und die aus ihm
folgende unabänderliche demokratische Budgetverantwortung des jeweiligen
Bundestages. Ein solcher Verstoß müsste von dem dagegen angerufenen
Bundesverfassungsgericht nach Maßgabe seiner Ausführungen im Lissabon-
Urteil vom Juni 2009 aufgehoben werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. den „Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung der Wirtschafts-
und Währungsunion“ (Fiskalvertrag) nicht zu unterzeichnen;

2. sich stattdessen in der EU dafür einzusetzen, die tatsächlichen Ursachen der
Krise anzugehen, und selbst dazu eigene Beiträge zu leisten: Die Verursacher
und Profiteure der Krise müssen durch eine EU-weite Vermögensabgabe zur
Krisenfinanzierung herangezogen werden, der Bankensektor muss neu struk-
turiert und private Großbanken in öffentliche Hand überführt werden, ein
geordnetes Insolvenzverfahren für überschuldete Staaten eingeführt, die
Finanzmärkte streng reguliert und durch eine Finanztransaktionssteuer ent-
schleunigt werden; die Staatsfinanzierung durch die Schaffung einer Bank
für öffentliche Anleihen vom Diktat der Finanzmärkte befreit werden und es
müssen wirksame Maßnahmen zur Verhinderung der Leistungsbilanzun-
gleichgewichte getroffen werden;

3. sich dementsprechend für eine grundlegende Revision der EU-Verträge ein-
zusetzen, um auf diesem Wege einen Neustart für ein demokratisches, sozia-
les und friedliches Europa zu ermöglichen. Zu revidieren sind insbesondere
die Bestimmungen, die die Mitgliedstaaten auf ein System offener Märkte
mit freiem Wettbewerb festlegen, die effektive Finanzmarktregulierung er-
schweren und Kapitalverkehrskontrollen verbieten sowie die Direktfinanzie-
rung von Staaten durch die Europäische Zentralbank untersagen. Zum Zweck

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der Vertragsrevision soll ein Konvent einberufen werden, der die Zusammen-
setzung sowohl des EP als auch der nationalen Parlamente angemessen
widerspiegelt. Über das Ergebnis des Konvents soll die Bevölkerung in
einem Referendum entscheiden.

Berlin, den 27. Februar 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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