BT-Drucksache 17/8589

Entschädigungsleistungen für "Euthanasie"-Geschädigte

Vom 6. Februar 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8589
17. Wahlperiode 06. 02. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Dr. Ilja Seifert, Jan Korte, Dr. Martina Bunge,
Heidrun Dittrich, Diana Golze, Dr. Lukrezia Jochimsen, Cornelia Möhring,
Jens Petermann, Yvonne Ploetz, Ingrid Remmers, Dr. Petra Sitte, Frank Tempel,
Kathrin Vogler, Halina Wawzyniak, Harald Weinberg, Sabine Zimmermann und der
Fraktion DIE LINKE.

Entschädigungsleistungen für „Euthanasie“-Geschädigte

Am 27. Januar 2011 verabschiedete der Deutsche Bundestag einstimmig einen
Antrag, der die Bundesregierung aufforderte, die monatlichen Leistungen für
Zwangssterilisierte auf 291 Euro zu erhöhen und diese Leistungen erstmals auf
die Opfer von „Euthanasie“-Maßnahmen auszuweiten. Die Bundesregierung
hat daraufhin zum 28. März 2011 die Härterichtlinien des Allgemeinen Kriegs-
folgengesetzes (AKG-Härterichtlinien) angepasst. In § 5 wurde klargestellt,
dass zu den Berechtigten der monatlichen Leistungen auch „Euthanasie“-Ge-
schädigte gehören.

Die Umsetzung der Richtlinien veranlasst nun jedoch die Arbeitsgemeinschaft
Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten (AG BEZ) zur
Kritik, die „Euthanasie“-Geschädigten würden „erneut diskriminierend ausge-
grenzt“. Anlass für diese Kritik ist offenbar eine zu enge Auslegung des Begriffs
„Euthanasie-Geschädigte“.

Der Deutsche Bundestag war nach Überzeugung der Fragesteller bei seiner
Entscheidung vom 27. Januar 2011 vom Willen getragen, die bis dahin zu kon-
statierende Ungleichbehandlung von „Euthanasie“- Geschädigten zu beenden.
Diese Ungleichbehandlung bestand darin, dass die Kinder der Ermordeten zwar
eine Einmalzahlung erhalten konnten, wenn sie zum Zeitpunkt der Ermordung
ihrer Eltern unter 21 bzw. 27 Jahre alt waren (§ 7 AKG-Härterichtlinien), vom
Bezug monatlicher Leistungen jedoch ausgeschlossen blieben – im Gegensatz
zu Zwangssterilisierten. Dabei geht die AG BEZ, wie auch die Fragesteller,
davon aus, dass diese Kinder als „Geschädigte“ im Sinne der AKG-Härtericht-
linien zu betrachten sind. Dies ergibt sich schon dadurch, dass diese Personen-
gruppe aufgrund der von den Nazis verübten Verfolgung in der Regel hoch-
gradig traumatisiert ist.

Nach Ansicht der Bundesregierung stehen Einmalzahlungen nur den „unmittel-
bar selbst von NS-Unrechtsmaßnahmen“ betroffenen Personen zu (vgl. Ant-

wort auf die Schriftliche Frage 31 des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert vom
5. August 2011 auf Bundestagsdrucksache 17/6773). Bei der Bewilligung der
Anträge auf die monatlichen Leistungen wird der Begriff der „unmittelbaren
Betroffenheit“ aber ausschließlich auf jene Menschen angewandt, die ihrer ge-
planten Ermordung in letzter Minute entgehen konnten, aber bereits in „Eutha-
nasie“-Anstalten eingewiesen worden waren. Das sind nach Einschätzung der
AG BEZ heute noch ungefähr fünf bis zehn Personen. Aus Sicht der AG BEZ

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wie der Fragesteller sind aber auch Kinder und ggf. andere Angehörige der
Ermordeten unmittelbar vom „Euthanasie“-Unrecht betroffen, etwa durch Ver-
bringung in NS-Kinderheime oder NS-Pflegefamilien, „erbbiologische“ Begut-
achtungen, durch Nachteile auf dem Ausbildungs- und Berufsweg und infolge
Nachteile bei der Rentenzahlung, und nicht zuletzt durch (u. U. lebenslange)
Traumatisierung als Folge all dieser Maßnahmen. Die Fragesteller halten es für
nicht vermittelbar, dass diese Betroffenen zwar Einmalzahlungen erhalten
konnten, womit sie als Opfer anerkannt wurden, von monatlichen Leistungen
aber ausgeschlossen blieben.

Es handelt sich um eine äußerst geringe Zahl: Bis Ende 2010 hat es nur 330
positive Entscheidungen über Einmalleistungen von „Euthanasie“-Geschädig-
ten gegeben. Mehr Leistungsberechtigte wären daher auch bei den monatlichen
Zahlungen nicht zu erwarten.

Nach Auffassung der Fragesteller ist es zudem geboten, auch die Geschichte der
Entschädigungszahlungen aufzuarbeiten. Das Heraushalten von Zwangssterili-
sierten und „Euthanasie“-Geschädigten aus dem Bundesentschädigungsgesetz
basierte wesentlich auf einer Anhörung des Deutschen Bundestages aus dem
Jahr 1961. Das Bundesministerium der Finanzen (BMF) hat gegenüber dem
Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages noch mit Schreiben vom 1. Juli
2008 mitgeteilt, sämtliche Gesichtspunkte der Wiedergutmachungsgesetzgebung
seien damals „nach Anhörung führender Fachleute der Psychiatrie sorgfältig ge-
prüft worden.“

Diesen Satz verstehen die NS-Opfer aus Sicht der Fragesteller zu Recht als
Demütigung. Denn an der fraglichen Anhörung nahmen mehrere Mediziner
teil, die aus heutiger Sicht schlicht als Verbrecher zu bezeichnen sind: Ein Pro-
fessor Erhardt, der Gutachten für Erbgesundheitsgerichte erstellte, ein Profes-
sor Nachtsheim, der an Menschenversuchen mit epileptischen Kindern beteiligt
war, und ein Professor Villinger, der als „T4“-Gutachter zirka 1 700 Menschen
zur Zwangssterilisation anzeigte und „biologisch Minderwertige“ in den Tod
schickte. Es kann nicht angehen, sich auf diese Täter aus der Nazizeit weiterhin
positiv zu beziehen. Vielmehr ist es geboten, die Entschädigungspolitik auf den
Prüfstand zu stellen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Menschen wurden nach aktuellen Erkenntnissen der Bundesregie-
rung während der „Euthanasie“-Verbrechen ermordet, wie viele kamen an-
derweitig zu Schaden?

2. Welche Leistungen wurden den Opfern zugestanden auf welcher Rechts-
grundlage?

a) Wann traten die unterschiedlichen Leistungsregelungen in Kraft, und wie
hoch waren die vorgesehenen Leistungen (bitte die jeweiligen Beträge
den entsprechenden Zeiträumen seit Schaffung der Rechtsgrundlage zu-
ordnen)?

b) Wie viele Zwangssterilisierte und „Euthanasie“-Geschädigte (bitte diffe-
renzieren) haben jemals Einmalzahlungen erhalten?

c) Wie viele Zwangssterilisierte und „Euthanasie“-Geschädigte (bitte diffe-
renzieren) haben jemals monatliche Leistungen erhalten?

d) Wie hoch waren die Einmalzahlungen für jede der genannten Opfergrup-
pen insgesamt seit Inkrafttreten der ersten einschlägigen Regelung bis
heute?

e) Auf welche Gesamtsummen belaufen sich die laufenden monatlichen

Leistungen für jede der genannten Opfergruppen seit Inkrafttreten der
ersten einschlägigen Regelung bis heute?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8589

f) Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die gewährten Leistungen
dem Verfolgungsschicksal der Betroffenen angemessen waren bzw. sind
(bitte begründen), und wenn nicht, welche Konsequenzen will sie daraus
ziehen?

3. Wie viele Zwangssterilisierte beziehen derzeit laufende Leistungen?

Wie viele waren es vor Umsetzung des Bundestagsbeschlusses vom 27. Ja-
nuar 2011?

4. Wie viele „Euthanasie“-Geschädigte beziehen derzeit laufende Leistungen?

Wie viele waren es vor Umsetzung des Bundestagsbeschlusses vom 27. Ja-
nuar 2011?

5. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung der AG BEZ, dass die Kinder
der im „Euthanasie“-Programm Ermordeten infolge des erlittenen Verfol-
gungsschicksals und einer auch nach dem Ende der NS-Herrschaft erlittenen
Diskriminierung als Betroffene von NS-Unrecht einzuschätzen sind und
eine Traumatisierung dieser Personen angesichts ihres Verfolgungsschick-
sals plausibel ist, und wenn nein, warum nicht?

Teilt sie die Einschätzung, dass viele der Angehörigen mitunter gravierende
Nachteile und Behinderungen hinsichtlich ihrer Ausbildung und Berufsaus-
bildung erlitten haben, die sich heute in geringeren Rentenansprüchen aus-
wirken (bitte begründen), und wenn ja, welche Konsequenzen will sie hier-
aus ziehen?

6. Wie ist es aus Sicht der Bundesregierung zu rechtfertigen, dass Angehörige
von im Rahmen der „Euthanasie“ Ermordeten zwar Einmalzahlungen erhal-
ten konnten und dadurch als Geschädigte anerkannt wurden, aber trotz erlit-
tenen Verfolgungsschicksals (Einweisung in NS-Kinderheime, Traumatisie-
rung usw. wie in der Vorbemerkung beschrieben) keine laufenden monatli-
chen Leistungen erhalten sollen?

7. Kann die Bundesregierung nachvollziehen, dass die AG BEZ (und mit ihr
die Fragesteller) unter den Begriff „Euthanasie“-Geschädigte aufgrund
Traumatisierungen und beruflich-finanzieller Nachteile auch die Kinder der
Ermordeten verstehen, und wenn nein, warum nicht, und wenn ja, welche
Konsequenzen will sie daraus ziehen?

8. Welche Überlegungen führten dazu, die Formulierung des Bundestags-An-
trages („Opfer von ,Euthanasie‘-Maßnahmen“) in der Neufassung der AKG-
Härterichtlinien in „Geschädigte“ zu ändern (was von der AG BEZ und den
Fragestellern ausdrücklich befürwortet wird, weil der Begriff „Geschädigte“
geeignet ist, klarzustellen, dass auch die Kinder der Ermordeten gemeint
sind), und welche Definitionen verbindet die Bundesregierung jeweils mit
diesen Begriffen?

Welche Kriterien müssen erfüllt sein, um als Geschädigter bzw. Opfer der
„Euthanasie“ anerkannt zu werden?

9. Bleibt die Bundesregierung bei ihrer Ansicht, die geltende Gesetzeslage er-
mögliche die Gewährung laufender Leistungen nur an die sehr wenigen Per-
sonen, die ihrer geplanten Ermordung im Rahmen der „Euthanasie“-Pro-
gramme entgangen sind, und wenn nein, welche Schritte will sie unterneh-
men, und wenn ja, inwiefern sieht sie politische oder rechtssystematische
Schwierigkeiten hinsichtlich einer etwaigen Gesetzesänderung, die laufende
monatliche Leistungen auch für jene Angehörige vorsieht, die in Folge der
im Rahmen der „Euthanasie“ Ermordeten schwere berufliche, biographische
bzw. psychologische Nachteile erlitten haben?

Drucksache 17/8589 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
10. Warum werden Antragstellern seitenlange Unterlagen für Selbstauskünfte
zugeschickt, und inwiefern ist die Bundesregierung bereit, das Antragsver-
fahren zu vereinfachen, da die etwaige Gewährung der monatlichen Leis-
tungen ohnehin nicht zu einer Minderung anderer Einkünfte führen soll,
auf die die Betroffenen einen Anspruch haben (§ 8 AKG-Härterichtlinien)?

11. Inwiefern gibt es auf Seiten der Bundesregierung Bedenken hinsichtlich
Forderungen (wie sie etwa die AG BEZ vertritt), Zwangssterilisierte und
„Euthanasie“-Geschädigte ausdrücklich als aus rassistischen Gründen des
Naziregimes Opfer einer rassistisch motivierten Verfolgung durch die
Nazis anzuerkennen, und insoweit über die Festlegungen des Bundesent-
schädigungsgesetzes hinauszugehen?

12. Hält die Bundesregierung an ihrer Auffassung fest, man könne sich bei
heutigen Stellungnahmen zur Thematik auf die Ausführungen berufen, die
„führende Fachleute der Psychiatrie“ 1961 im Bundestagsausschuss für
Wiedergutmachung getan haben (bitte begründen)?

a) Hält sie es für angemessen, die in der Vorbemerkung genannten Medizi-
ner als „führende Fachleute der Psychiatrie“ zu bezeichnen (bitte be-
gründen)?

b) Hält sie es weiterhin für plausibel, eine mit Hilfe von mindestens drei an
den „Euthanasie“- und Zwangssterilisationsverbrechen der Nazis betei-
ligten Medizinern bestrittene Anhörung biete Gewähr für eine „sorgfäl-
tige Prüfung“ der Ansprüche von Opfern dieser Verbrechen (bitte be-
gründen)?

c) Wie bewertet die Bundesregierung unter dem Aspekt der vorangestell-
ten Bemerkungen die Ausführungen im genannten Brief des BMF?

Berlin, den 27. Januar 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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