BT-Drucksache 17/8139

Menschenrechtliche Situation für Flüchtlinge in Griechenland verbessern - Für eine solidarische Flüchtlingspolitik der EU

Vom 13. Dezember 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8139
17. Wahlperiode 13. 12. 2011

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Annette Groth, Sevim Dag˘delen, Jan Korte,
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Agnes Alpers, Christine Buchholz,
Dr. Diether Dehm, Nicole Gohlke, Heike Hänsel, Dr. Rosemarie Hein, Inge Höger,
Andrej Hunko, Dr. Lukrezia Jochimsen, Harald Koch, Stefan Liebich,
Niema Movassat, Thomas Nord, Petra Pau, Jens Petermann, Paul Schäfer (Köln),
Dr. Petra Sitte, Frank Tempel, Alexander Ulrich, Katrin Werner
und der Fraktion DIE LINKE.

Menschenrechtliche Situation für Flüchtlinge in Griechenland verbessern –
Für eine solidarische Flüchtlingspolitik der EU

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der Bundestag ist besorgt darüber, dass sich die Europäische Union (EU)
und deren Mitgliedstaaten systematisch vor Flüchtlingen abzuschotten ver-
suchen und dadurch den internationalen Flüchtlingsschutz schwächen.
Durch Kooperations- und Rückübernahmeabkommen werden Drittstaaten in
die Fluchtabwehr einbezogen und infrastrukturell so ausgerüstet, dass sie
Flüchtlinge möglichst effektiv vom Grenzübertritt oder einer Weiterflucht in
die EU abhalten können.

2. Der Bundestag weist auf die Verantwortung aller EU-Mitgliedstaaten für
diese Abschottungspolitik hin. Mit Hilfe eines ganzen Arsenals an techni-
schen Mitteln, der Zusammenführung von grenzpolizeilichen, militärischen
und nachrichtendienstlichen Ressourcen und Arbeitsweisen in der Europä-
ischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der
Mitgliedstaaten der Europäischen Union (FRONTEX) wird der so genannte
Grenzschutz perfektioniert. Die Flüchtlinge werden zu Formen des „Grenz-
übertritts“ gezwungen, die lebensgefährlich sind. Nach Angaben der Nicht-
regierungsorganisation „Fortress Europe“ sind seit 1988 mindestens 17 738
Personen entlang der europäischen Grenzen gestorben. Davon sind 8 145 im
Meer verschollen, 12 943 Migrantinnen und Migranten sind im Mittelmeer
sowie im Atlantischen Ozean, unterwegs nach Spanien, gestorben. Allein in
der Ägäis zwischen der Türkei und Griechenland wurden bisher 1 392 Tote,
davon sind 828 verschollen, registriert (http://fortresseurope.blogspot.com/
2006/01/festung-europa.html).
3. Griechenland stellt für die Abschottungspolitik der EU zurzeit das bedeu-
tendste Land dar, weil die überwiegende Zahl aller registrierten irregulären
Einreisen in die EU über die griechischen Grenzen erfolgt. Die Situation der
Flüchtlinge in Griechenland hat sich in den letzten Jahren entsprechend dra-
matisch zugespitzt. Viele Flüchtlinge leben in völlig überfüllten Internie-
rungslagern unter unmenschlichen Bedingungen, andere sind gezwungen,

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schutzlos auf offener Straße oder in Wäldern zu leben. Flüchtlinge und Mig-
rantinnen und Migranten werden durch rassistische und faschistische Grup-
pen verfolgt, vertrieben und zum Teil auch misshandelt, die Polizei schaut
zu oder ist selbst daran beteiligt. Hiervon sind auch tausende minderjährige
unbegleitete Flüchtlinge betroffen, deren verzweifelte Lage mit internationa-
len Verpflichtungen, vor allem der UN-Kinderrechtskonvention, völlig un-
vereinbar ist.

4. Der Bundestag weist darauf hin, dass Menschenrechtsorganisationen früh-
zeitig und immer wieder durch Recherchen und Berichte belegt haben, dass
die Menschenrechte im Umgang mit Schutzsuchenden in Griechenland und
an den EU-Außengrenzen verletzt werden (vgl. z. B. die Petition von PRO
ASYL e. V. an den Deutschen Bundestag vom 21. Februar 2008). Erst kürz-
lich dokumentierte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch
(HRW), dass auch FRONTEX in den menschenunwürdigen Umgang mit
Flüchtlingen in Griechenland involviert ist (HRW 2011: „The EU’s Dirty
Hands: Frontex Involvement in Ill-Treatment of Migrant Detainees in
Greece“). Das Bundesverfassungsgericht hatte im Rahmen zahlreicher einst-
weiliger Anordnungen – erstmalig mit Beschluss vom 9. September 2009
(2 BvQ 56/09) – deutlich gemacht, dass es angesichts der Situation in Grie-
chenland seine Urteile vom 14. Mai 1996 zur Änderung des Grundrechts auf
Asyl (2 BvR 1938/93 und 2315/93) bezüglich der angenommenen Sicherheit
von EU-Mitgliedstaaten für überprüfungsbedürftig hält. Entsprechend ent-
schied dann der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am
21. Januar 2011 in der Sache M.S.S. gegen Belgien und Griechenland
(30696/09): Die Haft- und Lebensbedingungen Asylsuchender und die Män-
gel des Asylverfahrens in Griechenland stellten ebenso Menschenrechts-
verletzungen dar wie die Praxis Belgiens, Asylsuchende in ein solches Land
– zumal ohne wirksamen Rechtsbehelf – zu überstellen. Der Bundestag kri-
tisiert mit Nachdruck, dass ungeachtet der seit spätestens Frühjahr 2009 (so
die Feststellung des EGMR) offenkundigen Menschenrechtsverletzungen in
Griechenland Schutzsuchende von deutschen Behörden bis Januar 2011
dorthin zurücküberstellt wurden und die Bundesrepublik Deutschland damit
für schwere Menschenrechtsverletzungen die Verantwortung trägt – ohne
dass es bis heute auch nur eines offiziellen Wortes des Bedauerns oder der
Entschuldigung gegeben hätte.

5. Der Bundestag begrüßt, dass die Bundesregierung angekündigt hat, für ein
weiteres Jahr auf Überstellungen von Flüchtlingen nach Griechenland zu
verzichten. Zugleich kritisiert der Bundestag, dass die Bundesregierung
nach wie vor am menschenrechtswidrigen Ausschluss der aufschiebenden
Wirkung von Rechtsmitteln gegen geplante Überstellungen festhält und
auch auf europäischer Ebene gegen die Verankerung eines wirksamen
Rechtsschutzes im Dublin-Verfahren und gegen die Einführung eines Aus-
setzungsmechanismus bei einer großen Zahl neu einreisender Schutzsuchen-
der in einen Mitgliedstaat eintritt.

6. Der Bundestag kritisiert, dass die Bundesregierung am Dublin-System fest-
halten will, obwohl Länder wie Griechenland, Italien, Polen, Slowakei,
Malta oder Zypern mit der Aufnahme und Versorgung der Flüchtlinge sowie
der Durchführung fairer Asylverfahren überfordert oder auch nicht Willens
sind, grundlegende Menschen- und Asylverfahrensrechte zu gewährleisten.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich im Europäischen Rat und gegenüber der griechischen Regierung für
eine sofortige Lösung für die menschenunwürdige Situation der Flüchtlinge

in Griechenland einzusetzen;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8139

2. sich im Europäischen Rat im Sinne einer wesentlichen Entlastung des grie-
chischen Asylsystems für eine gemeinsame Übernahme von Schutzsuchen-
den in Griechenland durch die EU-Mitgliedstaaten einzusetzen und im
Alleingang zunächst etwa 5 000 besonders Schutzbedürftige, z. B. minder-
jährige Schutzsuchende, aufzunehmen;

3. sich innerhalb der EU für hohe, einheitliche Asylstandards einzusetzen und
im nationalen Recht effektive Rechtsschutzmöglichkeiten mit aufschieben-
der Wirkung gegen Entscheidungen im Asyl- bzw. Überstellungs- und Ab-
schiebungsverfahren zu regeln;

4. sich auf EU-Ebene für ein grundlegend anderes Verantwortungsteilungsprin-
zip einzusetzen (Dublin-II-Verordnung), das sich in erster Linie nach den
berechtigten Wünschen der Betroffenen und dem Land der Asylantragstel-
lung richtet und Ungleichgewichte bei der Aufnahme entsprechend der
Größe und Wirtschaftskraft der Mitgliedstaaten auf finanzieller Ebene aus-
gleicht, eine grundsätzliche Offenheit und Aufnahmebereitschaft für Flücht-
linge in den Ländern mit EU-Außengrenzen sicherzustellen;

5. sich innerhalb der EU für eine grundlegend andere Asyl- und Flüchtlings-
politik einzusetzen, die Schutzsuchenden einen sicheren Zugang verschafft;

6. für eine gerechte Weltwirtschafts- und Friedenspolitik auf europäischer
Ebene einzutreten, die auch eine Beseitigung von Fluchtursachen zur Folge
hat;

7. sich auf EU-Ebene für eine Abschaffung von FRONTEX einzusetzen, da
das Ziel dieser europäischen Agentur die Perfektionierung der bisherigen
verfehlten Politik der Abschottung ist.

Berlin, den 13. Dezember 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Das griechische Asylverfahren ist seit Jahren gekennzeichnet durch unzurei-
chende Anhörungen, mangelhafte Verfahren und extrem hohe Ablehnungsquo-
ten von zeitweilig fast 100 Prozent. Diesbezüglich gibt es erst seit kurzem ge-
ringfügige Änderungen, eine grundlegende Besserung ist jedoch nicht in Sicht.
Viele Schutzbedürftige verzichten auf die Stellung eines ohnehin aussichtslosen
Asylantrags, weil insbesondere Asylsuchende bis zu sechs Monate unter un-
erträglichen Bedingungen inhaftiert werden. In der Terminologie der EU sind
diese Menschen dann Teil der „illegalen Migration“, für deren Bekämpfung
weitaus mehr Ressourcen zur Verfügung gestellt werden als für die menschen-
würdige Aufnahme von Schutzsuchenden und faire Asylverfahren.

Immer wieder berichten Betroffene, dass sie von griechischen Grenzbeamten
am Grenzübertritt gehindert oder sogar in Gruppen über die griechisch-tür-
kische Grenze in die Türkei zurückgeschoben werden – ohne jegliches Verfah-
ren, und ohne dass sie ihr Asylgesuch hätten vortragen können. Das Gros der
Schutzsuchenden wird jedoch in die Aufnahmelager gebracht, in denen er-
schreckende Zustände herrschen, wie Abgeordnete des Deutschen Bundestages
im Zuge einer Delegationsreise im September 2011 feststellen mussten. Auch
FRONTEX ist an dieser unmenschlichen Politik beteiligt, indem die eingesetz-

ten Beamten aufgegriffene Schutzsuchende in die Lager verbringen oder an der
Zurückschiebung in die Türkei mitwirken. In so genannten Screening-Verfah-

Drucksache 17/8139 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

ren an den Grenzen, an denen ebenfalls Beamte von FRONTEX mitwirken,
sollen die Identität, das Herkunftsland und Alter der Flüchtlinge festgestellt
werden. Dabei kommt es nach Recherchen von PRO ASYL e. V. häufig zu
Fehleinschätzungen und minderjährige Flüchtlinge werden systematisch zu Er-
wachsenen gemacht.

Auf den unerträglichen Umgang mit Flüchtlingen in Griechenland weisen
Menschenrechtsorganisationen wie PRO ASYL e. V., Human Rights Watch oder
Ärzte ohne Grenzen seit vielen Jahren hin. Auch die Fraktion DIE LINKE. hat
die Bundesregierung kontinuierlich durch Kleine Anfragen mit den dortigen Zu-
ständen konfrontiert (erstmalig auf Bundestagsdrucksache 16/8861, zuletzt auf
Bundestagsdrucksache 17/7210). Die Bundesregierung hielt dessen ungeachtet
und über Jahre hinweg an Überstellungen Schutzsuchender in diese menschen-
rechtswidrigen Zustände fest. Sie tat dies, obwohl deutsche Gerichte in weit über
100 Fällen Abschiebungen Asylsuchender nach Griechenland untersagten, da-
runter mehrfach auch das Bundesverfassungsgericht (vgl. z. B. Bundestags-
drucksache 17/4356). Die Bundesregierung verfügte dann im Januar 2011 vor
allem deshalb einen Überstellungsstopp, um eine bevorstehende Grundsatzent-
scheidung des Bundesverfassungsgerichts zu vermeiden, mit der das Gericht
seine Billigung des so genannten Asylkompromisses aus dem Jahr 1996 vermut-
lich korrigiert hätte. Bis heute hält die Bundesregierung im nationalen Recht und
auf europäischer Ebene jedoch daran fest, Schutzsuchenden im Dublin-Verfah-
ren einen effektiven Rechtsschutz mit aufschiebender Wirkung zu verweigern.
Dieser Umgang mit Schutzsuchenden ist nicht mit den Grundsätzen der Rechts-
staatlichkeit zu vereinbaren.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) brandmarkte mit
seinem Urteil „M.S.S.“ vom 21. Januar 2011 nicht nur die Zustände in Grie-
chenland als Verstoß gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskon-
vention, das Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung. Indem er
den abschiebenden Staat (Belgien) zu 24 900 Euro Schadensersatz verurteilte,
Griechenland hingegen zu (nur) 1 000 Euro, machte der EGMR zudem unmiss-
verständlich klar, dass sich Verantwortung nicht unter Verweis auf formale Zu-
ständigkeitsregelungen abschieben lässt. Der EGMR hielt in seinem Urteil auch
fest, dass bereits seit 2009 die Zustände im griechischen Asylsystem bekannt
gewesen seien, Zurückschiebungen aus menschenrechtlicher Sicht also hätten
unterbleiben müssen. Die massive Verschlechterung der Zustände im griechi-
schen Asylsystem hängt auch mit dem massiven Anstieg von Asylbewerber-
zahlen seit 2009 zusammen. Aufgrund der durch FRONTEX koordinierten,
verstärkten Überwachung des Seewegs über das Mittelmeer wichen viele
Schutzsuchende und Migranten auf den Landweg über die Türkei aus. Im Jahr
2010 wurden 90 Prozent der irregulären Grenzübertritte an den Außengrenzen
der EU an den griechischen Grenzen registriert.

Dies entbindet den griechischen Staat selbstverständlich nicht von seinen asyl-
und menschenrechtlichen Verpflichtungen. Aber genauso wichtig wie die so-
fortige und radikale Verbesserung der Lage in Griechenland ist es, die Ursachen
für die systematische Überforderung Griechenlands anzugehen. Geändert wer-
den müssen deshalb vor allem die Regeln der so genannten Dublin-II-Verord-
nung. Demnach ist, vereinfacht gesagt, dasjenige Land für Asylsuchende und
irreguläre Migrantinnen und Migranten verantwortlich, über das die Betroffe-
nen in die EU eingereist sind. Während insbesondere die südlichen Außen-
grenzstaaten der EU sich seit Jahren für eine Änderung dieser Regelung einset-
zen, sind es die Kernstaaten der EU – allen voran die Bundesrepublik Deutsch-
land –, die sich allen Vorschlägen zur Aufweichung oder Änderung dieses Prin-
zips erbittert entgegenstellen. Dass griechische Behörden sich ihrer
Verantwortung mit einer Politik der Härte und Abschreckung entledigen wol-

len, ist inakzeptabel, aber auch eine Folge der systematischen Ungleichvertei-
lung der Aufgaben innerhalb der EU.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/8139

Nach außen basiert diese Politik auf Abschottung und eine Strategie der Vor-
verlagerung der Grenzen durch Kooperation mit an die EU angrenzenden Staa-
ten. Im Innern ist die Asylpolitik der EU gekennzeichnet durch eine systemati-
sche Ungleichverteilung der Verantwortung und eine unzureichende Harmoni-
sierung, die unter anderem völlig unterschiedliche Anerkennungsquoten und
Unterbringungsstandards in der EU zur Folge hat. Für die menschenunwürdige
Situation der Flüchtlinge in Griechenland gibt es mithin eine gesamteuropä-
ische Verantwortung. In Griechenland fehlt es den Flüchtlingen an Ärzten,
Krankenpflegepersonal, an Unterkünften, an ausreichendem Essen, funktionie-
renden Toiletten und Betten. Hier ist neben der konkreten humanitären Hilfe
vor Ort ein solidarisches Handeln der Europäischen Union gefordert, insbeson-
dere auch durch die Entlastung Griechenlands durch eine Übernahme von
Schutzsuchenden. Allein eine Unterstützung einzelner besonders belasteter
Mitgliedstaaten ad hoc ist jedoch auf die Dauer nicht ausreichend. Stattdessen
muss ein dauerhaft wirkender Mechanismus geschaffen werden, der die unter-
schiedlichen Belastungen im Rahmen der flüchtlingsrechtlichen Verpflichtun-
gen der Mitgliedstaaten ausgleicht und Schutzsuchenden und anerkannten
Flüchtlingen die Möglichkeit gibt, ihren Lebensort in der EU selbst zu wählen.
Wird kein solcher Mechanismus geschaffen, werden sich menschenrechtliche
Tragödien wie in Griechenland jederzeit auch in anderen EU-Staaten mit Au-
ßengrenzen wiederholen können.

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