BT-Drucksache 17/8118

Öffentlichkeitsbeteiligung bei Infrastrukturmaßnahmen und beim Bau von Industrieanlagen

Vom 6. Dezember 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8118
17. Wahlperiode 06. 12. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Herbert Behrens, Jan Korte, Karin Binder, Heidrun Bluhm,
Eva Bulling-Schröter, Ulla Jelpke, Katrin Kunert, Sabine Leidig, Ralph Lenkert,
Thomas Lutze, Dorothee Menzner, Kornelia Möller, Petra Pau, Jens Petermann,
Ingrid Remmers, Kersten Steinke, Sabine Stüber, Frank Tempel, Halina
Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Öffentlichkeitsbeteiligung bei Infrastrukturmaßnahmen und beim Bau
von Industrieanlagen

Die heftige öffentliche Diskussion über den Bahnhofsneubau in Stuttgart hat
deutlich gemacht, dass die formellen Möglichkeiten zur Öffentlichkeitsbeteili-
gung bei Infrastrukturvorhaben nicht ausreichen und nicht mehr zeitgemäß sind.
Zwar wurde mit dem am 5. August 2011 in Kraft getretenen Netzausbau-
beschleunigungsgesetz Übertragungsnetz (NABEG) ein erster Schritt hin zu
einer besseren Einbeziehung der Bevölkerung beim Ausbau der Energienetze
unternommen, aber die jährlich etwa 750 Zulassungsentscheidungen im Bereich
der Infrastruktur fallen nicht unter dieses Gesetz (Quelle: UVPG des Bundes).
Bislang hat die Bundesregierung weder konkrete Maßnahmen angekündigt noch
einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt, um auch bei Infrastrukturmaß-
nahmen und beim Bau von Industrieanlagen zu substantiellen Verbesserungen
der Öffentlichkeitsbeteiligung zu gelangen.

Im Gegenteil, mit dem Referentenentwurf für ein „Gesetz zur Vereinheitlichung
und Beschleunigung von Planfeststellungsverfahren“ versandte die Bundes-
regierung einen Gesetzentwurf, mit dem es nicht mehr, sondern weniger
Bürgerbeteiligung geben sollte. Zwar wurde dieses Gesetzesvorhaben nach
öffentlichen Protesten nicht weiterverfolgt, aber welche Schlussfolgerungen die
Bundesregierung aus diesen Protesten zieht, ist nicht bekannt. Auch der An-
kündigung von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel vom 16. Juni 2011 sind
bislang noch keine Taten gefolgt. Sie sagte auf einer öffentlichen Veranstaltung
(www.bundeskanzlerin.de/nn_683608/Content/DE/Rede/2011/06/2011-06-16-
merkel-reinhard-mohn-preis.html):

„Deshalb geht es nicht nur darum, dass Politik fertige Entscheidungen präsen-
tiert. Im Idealfall sollten schon vorher die Entscheidungsfindungsprozesse mög-
lichst nachvollziehbar gestaltet werden. Das Schlichtungsverfahren zum Bahn-
hofsprojekt Stuttgart 21 hat zum Beispiel, wenn auch spät, gezeigt und ein-

drucksvoll unter Beweis gestellt, welche Wirkung ein solches Vorgehen entfalten
kann. Für die Zukunft sollten wir uns deshalb vornehmen, derartige Diskussions-
prozesse deutlich früher stattfinden zu lassen als im konkreten Fall. (…)

Deshalb wollen wir im Verwaltungsverfahrensgesetz eine möglichst frühe
Beteiligung der Öffentlichkeit vorsehen. Damit verbinden wir als Bundes-
regierung die Erwartung, dass sich so manche Konflikte und verhärtete Fronten

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vermeiden lassen. Je mehr Verständnis Entscheidungen finden, desto trag-
fähiger sind sie. Das liegt im Interesse aller Beteiligten.

Bekannte Instrumente direkter Demokratie, wie Volksbegehren und Volks-
entscheide, haben sich auf Länderebene und in den Kommunen bewährt“.

Die Diskussionen der letzten Monate haben gezeigt, dass eine Verzahnung zwi-
schen formellen und informellen Beteiligungsverfahren eine der wichtigsten
Aufgaben aus Sicht von Partizipationswissenschaftlerinnen und -wissenschaft-
lern ist.

Auch Rechts- und Verwaltungswissenschaftler in der Bundesrepublik Deutsch-
land wie beispielsweise Prof. Dr. Rudolf Steinberg halten eine frühzeitige
Beteiligung in Form einer „informellen Unterrichtung und Erörterung“ inzwi-
schen für dringend geboten (Zeitschrift für Umweltrecht, 7–8/2011, S. 344).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wann wird die Bundesregierung den von der Bundeskanzlerin angekündigten
Entwurf für ein Planungsvereinheitlichungsgesetz mit der von der Bundes-
kanzlerin angekündigten „möglichst frühzeitigen Öffentlichkeitsbeteiligung“
vorlegen?

2. Durch welche (weiteren) gesetzgeberischen Maßnahmen will die Bundes-
regierung die Öffentlichkeitsbeteiligung in formellen Verfahren bei großen
Projekten (Planfeststellungsverfahren sowie Verfahren nach dem Bundes-
Immissionsschutzgesetz) verbessern?

3. Beabsichtigt die Bundesregierung, die Bestimmungen zur Öffentlichkeits-
beteiligung, die dem NABEG zugrunde liegen, auch auf Verfahren nach dem
Bundes-Immissionsschutzgesetz und für Planfeststellungsverfahren zu über-
tragen?

Wenn nein, warum nicht?

4. Wenn Frage 3 bejaht wird, wann soll ein entsprechender Gesetzentwurf
vorgelegt werden, und soll darin eine 1:1-Übernahme der Regelungen
vorgenommen oder hinsichtlich der Bürgerbeteiligung über die Vorgaben
des NABEG (gegebenenfalls in welcher Form) hinausgegangen werden?

5. Wie soll die von Experten, Parteien aber auch von Bürgern und Verbänden
in jüngster Zeit geforderte frühzeitige Beteiligung bei großen Projekten
(Planfeststellungsverfahren sowie Verfahren nach dem Bundes-Immissions-
schutzgesetz) konkret ausgestaltet werden?

6. Geht die Bundesregierung in Übereinstimmung mit vielen Experten davon
aus, dass es künftig statt des fakultativen Erörterungstermins eher mehrere
Erörterungstermine und davon mindestens einen als Pflichttermin geben
sollte, um den Genehmigungsbehörden flexiblere Instrumente der Öffent-
lichkeitsbeteiligung an die Hand zu geben?

Wenn nein, warum nicht?

7. Welche informellen Verfahrenselemente sollen künftig wie in die formellen
Beteiligungsverfahren der Öffentlichkeitsbeteiligung eingebaut werden?

8. Sollen neue konzeptionelle Ansätze modellhaft erprobt werden?

Wenn ja, wann werden solche Ansätze erprobt?

Wenn nein, warum nicht?

9. Sollen Bürgerinnen und Bürger außerhalb der parlamentarischen Demokratie
eine direkte Einflussmöglichkeit auf die Entscheidung über die Realisierung
eines großen Projektes erhalten?
Wenn ja, wie?

Wenn nein, warum nicht?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8118

10. Sollen Instrumente der direkten Demokratie, wie z. B. Volksentscheide, vor
dem Hintergrund der positiven Bewertung durch die Bundeskanzlerin in
diesen Neuanfang einbezogen werden?

Wenn ja, wie?

Wenn nein, warum nicht?

11. Soll es eine Bereitstellung finanzieller Mittel und anderer Ressourcen für
Bürgerinnen und Bürger geben, die diese für die Ausstattung eines Partizi-
pationsprozesses unbürokratisch beantragen können, wie es beispielsweise
das Modell der Stiftung Mitarbeit vorsieht?

Wenn ja, in welcher Form?

Wenn nein, warum nicht?

12. Wie will die Bundesregierung sicherstellen, dass sich insgesamt die Kultur
der Beteiligung in der Planung von größeren Projekten in Deutschland
verbessert?

13. Welche praktischen Maßnahmen (Förderprogramme, neue Institutionen,
Begleitforschung) sind geplant, um einen nachhaltigen, glaubhaften und
sichtbaren Neuanfang in der Beteiligung und Einbeziehung der Bevölke-
rung bei Infrastrukturprojekten nach Stuttgart 21 zu beginnen?

14. Welche Untersuchungen, Begleitforschungen etc. zu Fragen der Bürger-
beteiligung an großen Projekten hat die Bundesregierung bislang durch-
geführt, bzw. welche laufen derzeit oder sind in absehbarer Zeit geplant?

15. Wie soll die nach der EU-Richtlinie über die Prüfung der Umweltauswir-
kungen bestimmter Pläne und Programme vorgeschriebene Öffentlichkeits-
beteiligung bei der Aufstellung des nächsten Bundesverkehrswegeplanes
umgesetzt werden, und in welchen Verfahrensschritten ist zu welchen
Fragen eine Beteiligung der Öffentlichkeit und der Verbände jeweils vor-
gesehen?

Berlin, den 5. Dezember 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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