BT-Drucksache 17/8064

Gesundheitsrisiken in der Leiharbeit

Vom 2. Dezember 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8064
17. Wahlperiode 02. 12. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Markus Kurth, Maria Klein-Schmeink,
Brigitte Pothmer, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Birgitt Bender,
Priska Hinz (Herborn), Sven-Christian Kindler, Elisabeth Scharfenberg
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gesundheitsrisiken in der Leiharbeit

Die Integration in den Arbeitsmarkt gilt als zentrale Voraussetzung für soziale
Teilhabe und gesellschaftliche Inklusion. Diese beiden Faktoren beeinflussen
das Wohlergehen und die psychische Gesundheit der Menschen in einem ganz
erheblichen Maße. Medizinische und psychologische Experimentalstudien von
2011 haben gezeigt, dass soziale Exklusion einen psychischen Zustand hervor-
rufen kann, der vergleichbar ist mit dem Empfinden physischer Schmerzen.
Das logische Denken wird beeinflusst und Betroffene sehen seltener einen Sinn
in ihrem Leben. Die Wahrnehmung sozial ausgeschlossen zu sein, fördert die
Neigung zu risikoreichem Konsumverhalten (z. B. Drogenkonsum) und die
Motivation verringert sich, anderen zu helfen sowie sich sozial und politisch zu
engagieren.

Frühere Studien haben gezeigt, dass die Arbeitsbedingungen in der Leiharbeit
mit einer Reihe von Risiken für die soziale Teilhabe und die gesellschaftliche
Inklusion einhergehen. Dazu gehören niedrigere Löhne, ein erhöhtes Arbeits-
losigkeitsrisiko und verminderte Weiterbildungschancen. Der Gesundheits-
report 2009 der Techniker Krankenkasse mit dem Schwerpunkt Leiharbeit zeigt
bei der Diagnose psychischer Störungen, dass die Fehlzeiten unter den männ-
lichen Beschäftigten aus der Leiharbeitsbranche (nach der Adjustierung des
Tätigkeitsspektrums) um 36 Prozent über den Erwartungswerten (von sozial-
versicherungspflichtig Beschäftigten anderer Branchen) liegen. Entscheidend
sei hier, neben der Unzufriedenheit über ein niedrigeres Einkommen und einen
unsicheren Arbeitsplatz, die Diskrepanz zwischen Qualifikation und ausgeübter
Tätigkeit. Leiharbeit macht zudem häufiger krank als ein normales Beschäf-
tigungsverhältnis. Die dauerhafte Unsicherheit hinsichtlich der Arbeitsbedin-
gungen und der Sicherheit des Arbeitsplatzes führen zu einer langanhaltenden
Stresssituation. Eine aktuelle Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufs-
forschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB), „Soziale Teilhabe ist eine Frage
von stabilen Jobs“, kam nun zu dem Schluss, dass sich Leiharbeitskräfte nach
den Arbeitslosen als am schlechtesten in die Gesellschaft integriert wahrnehmen.
Wir fragen die Bundesregierung:

I. Psychische Belastungen in der Leiharbeit

1. Wie bewertet die Bundesregierung die Studie des IAB, mit der ein Zusam-
menhang zwischen Beschäftigungsform sowie subjektiv gefühlter Teilhabe
und Integration in die Gesellschaft aufgezeigt wird?

Drucksache 17/8064 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

2. Welche Unterschiede gibt es bezogen auf Teilhabe und Integration zwi-
schen Leiharbeits- und Normalarbeitsverhältnissen, und welche arbeits-
marktpolitischen Schlüsse zieht die Bundesregierung hieraus?

3. Wie bewertet die Bundesregierung den Befund im Gesundheitsbericht
2009 der Techniker Krankenkasse, dass in der Leiharbeitsbranche (nach
der Adjustierung des Tätigkeitsspektrums) bei der Diagnose psychische
Störungen eine um 36 Prozent höhere krankheitsbedingte Fehlzeit unter
männlichen Beschäftigten im Vergleich zu männlichen Beschäftigten aus
anderen Branchen besteht?

4. Welche Arbeitsbedingungen sind für den höheren Anteil an psychischen
Erkrankungen bei Leiharbeitskräften im Vergleich zu den übrigen Erwerbs-
tätigen verantwortlich, und welche Maßnahmen plant die Bundesregierung
zum Schutz der Beschäftigten in der Leiharbeit vor psychischen Erkran-
kungen und früh einsetzender Erwerbsunfähigkeit?

II. Unfallgefahr in der Leiharbeit

5. Wie viele meldepflichtige Arbeitsunfälle von Leiharbeitskräften gab es seit
2005 pro Jahr, und wie viele dieser Arbeitsunfälle führten zum Bezug einer
Erwerbsminderungsrente oder zum Tod?

6. Ist das Unfallrisiko von Leiharbeitskräften höher als von Stammbeleg-
schaften?

Wenn ja, wie stark, und in welchen Branchen unterscheidet sich das Unfall-
risiko von Leiharbeitskräften von dem der Stammbelegschaften, und wel-
che Gegenmaßnahmen sind geplant?

7. Wie beurteilt die Bundesregierung den Ansatz „Integration und Einar-
beitung von Leiharbeitskräften“ mit Hilfe des Patenmodells des Projekts
„Gestaltung, Umsetzung und Transfer von Instrumenten zum Ressourcen-
management und zum Arbeitsschutz im Rahmen eines zielgruppenbezoge-
nen Ansatzes für Leiharbeitnehmer in Entleihunternehmen“ (GRAziL), um
die Unfallzahlen von Leiharbeitskräften zu senken, und wie viele Leih-
arbeitskräfte haben bisher und sollen in Zukunft von den Maßnahmen des
Projekts GRAziL profitieren?

8. Wie beurteilt die Bundesregierung einen gesetzlich zwingenden Abschluss
einer Arbeitsschutzvereinbarung, wie beispielsweise von GRAziL ent-
wickelt, als Bestandteil des Überlassungsvertrags zwischen Entleiher und
Verleiher, um Unklarheiten in Bezug auf Arbeitsschutzpflichten wirksam
auszuräumen?

9. Ist die Bundesregierung der Meinung, dass leiharbeitsspezifische Aspekte
bei der Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen beachtet werden soll-
ten?

Wenn ja, in welcher Form, und wie häufig werden diese Aspekte bei Ge-
fährdungsbeurteilungen mitberücksichtigt, bzw. wie wird dies kontrolliert?

Wenn nein, warum nicht?

10. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass in manchen Entleihbetrie-
ben ganze Arbeitsbereiche mit Leiharbeitskräften besetzt werden und damit
die Bestimmung aus § 12 Absatz 1 Satz 3 des Arbeitnehmerüberlassungs-
gesetzes bezüglich der Unterrichtung über die Arbeitsbedingungen ver-
gleichbarer Stammarbeitskräfte ins Leere läuft und somit eine für den
Arbeits- und Unfallschutz wichtige Unterrichtung „de facto“ entfällt?
Wenn nein, warum nicht?

Wenn ja, was plant die Bundesregierung dagegen zu unternehmen?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8064

11. Wie viele Ordnungswidrigkeitsverfahren wurden wegen Verstößen gegen
das Arbeitsschutzgesetz seit 2005 pro Jahr eingeleitet, und wie hoch war
die Anzahl von Verwarnungen, Verfallsentscheidungen, Geldbußen und die
Summe der Bußgelder, die pro Jahr verhängt wurden (bitte nach Entleih-
bzw. Verleihbetrieben und Vergehen differenzieren)?

12. Wie viele Strafverfahren wurden wegen Verstößen gegen das Arbeits-
schutzgesetz seit 2005 pro Jahr eingeleitet, und wie viele davon wurden mit
Geldbußen und Freiheitsstrafen abgeschlossen (bitte nach Entleih- sowie
Verleihbetrieben und Vergehen differenzieren)?

13. Welche Maßnahmen oder gesetzliche Änderungen plant die Bundesregie-
rung, um den Arbeitsschutz für Leiharbeitskräfte zu erhöhen, und in wel-
cher Form sollen die Betriebsräte in den Entleihbetrieben diesbezüglich
einbezogen werden?

III. Arbeitsprogramm „Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz in der Zeit-
arbeit“

14. Welche konkreten Erfolge hat das Arbeitsprogramm „Arbeitssicherheit und
Gesundheitsschutz in der Zeitarbeit“ der Bundesanstalt für Arbeitsschutz
und Arbeitsmedizin (BAuA) im Rahmen der Gemeinsamen Deutschen
Arbeitsschutzstrategie (GDA) bisher vorzuweisen, und sind die bisherigen
Erfolge aus Sicht der Bundesregierung zufriedenstellend?

Wenn nein, welche zusätzlichen Maßnahmen wird die Bundesregierung er-
greifen?

15. Sieht die Bundesregierung die Notwendigkeit, vor dem Hintergrund stei-
gender Beschäftigtenzahlen in der Leiharbeit, das Programm „Arbeits-
sicherheit und Gesundheitsschutz in der Zeitarbeit“ auszuweiten sowie zu-
sätzliche Sach- und Personalmittel bereitzustellen?

Wenn ja, wann, und in welcher Größenordnung soll das Programm ausge-
weitet werden?

Wenn nein, warum nicht?

16. Wie viele Entleihbetriebe gibt es derzeit in Deutschland?

17. In wie vielen Betrieben wurden wie viele Maßnahmen pro Jahr seit Beginn
des Programms „Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz in der Zeit-
arbeit“ seit 2005 durchgeführt, und wie viele Leiharbeitskräfte haben pro
Jahr an diesen Maßnahmen teilgenommen?

18. Welche Qualifizierungsmaßnahmen sind im Rahmen des Programms „Ar-
beitssicherheit und Gesundheitsschutz in der Zeitarbeit“ vorgesehen, und
wie viele Multiplikatoren wurden bereits qualifiziert?

IV. Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM)

19. Sieht die Bundesregierung in der Leiharbeit ein Auseinanderfallen von ge-
setzlichem Anspruch und betrieblicher Wirklichkeit, vor dem Hintergrund
des § 84 Absatz 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch?

Wenn ja, wie plant die Bundesregierung diesen Missstand zu beheben?

Wenn nein, mit welchen Zahlen oder Untersuchungen begründet die Bun-
desregierung die Funktionsfähigkeit des BEM in der Leiharbeit?

20. In wie vielen Fällen hat das Instrument des BEM im Bereich der Arbeit-
nehmerüberlassung seit 2005 pro Jahr Anwendung gefunden?

Drucksache 17/8064 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
21. In wie vielen Fällen, und in welcher Größenordnung wurden seit 2005 pro
Jahr Verleihunternehmen, die ein BEM eingeführt haben, durch die Reha-
bilitationsträger und Integrationsämter mit Prämien oder einem Bonus ge-
fördert?

22. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass in der Leiharbeit die im
Gesetz vorgesehene Beteiligung der Arbeitnehmervertretung im Bereich
des BEM fast vollständig wegen fehlender Betriebsräte entfällt bzw. zu
einseitigen Entscheidungen der Arbeitgeber führt, und soll deshalb die Zu-
ständigkeit des Betriebsrats im Entleihbetrieb gestärkt werden?

Wenn nein, warum nicht?

V. Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit

23. Wie viele Leiharbeitskräfte haben seit 2001 pro Jahr Renten wegen einer
verminderten Erwerbsfähigkeit beantragt und erhalten (bitte nach Jahren
differenzieren)?

24. Welche zehn häufigsten Erstdiagnosen lagen der Bewilligung einer Er-
werbsminderungsrente für Leiharbeitskräfte zugrunde (bitte nach teilwei-
ser und vollständiger Erwerbsminderung differenzieren)?

25. Welche Unterschiede gibt es zwischen dem Renteneintrittsalter von Leihar-
beitskräften, die eine Erwerbsminderungsrente beziehen, und dem Renten-
eintrittsalter von Rentnern, die Erwerbsminderungsrenten beziehen und zu-
vor regulär beschäftigt waren, und auf welche Daten stützt sich die Ein-
schätzung der Bundesregierung?

26. Wie haben sich die durchschnittliche Höhe und der Median beim Bezug
von Erwerbsminderungsrenten von Leiharbeitskräften und von regulär Be-
schäftigten seit 2001 pro Jahr entwickelt?

VI. Allgemeine Fragen zur Leiharbeit

27. Wie viele der bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten freien Arbeits-
stellen sind aktuell Beschäftigungsverhältnisse in der Leiharbeit, und hält
die Bundesregierung diesen Wert für zu hoch?

Wenn ja, warum?

Wenn nein, warum nicht?

28. Teilt die Bundesregierung die im Interview mit „DIE WELT“ geäußerte
Auffassung des Vorsitzenden des Vorstandes der Bundesagentur für Arbeit,
Frank-J. Weise, dass die Beschäftigtenzahl in der Leiharbeit nicht weit über
die Millionengrenze steigen sollte?

Wenn ja, warum?

Wenn nein, warum nicht?

Berlin, den 2. Dezember 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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