BT-Drucksache 17/8026

Mehrheitswillen respektieren - Gesetzlicher Mindestlohn jetzt

Vom 30. November 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8026
17. Wahlperiode 30. 11. 2011

Antrag
der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze,
Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich, Werner Dreibus, Klaus Ernst, Katja Kipping,
Cornelia Möhring, Jens Petermann, Yvonne Ploetz, Jörn Wunderlich und der
Fraktion DIE LINKE.

Mehrheitswillen respektieren – Gesetzlicher Mindestlohn jetzt

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die überwältigende Mehrheit der Menschen in Deutschland will einen flächen-
deckenden gesetzlichen Mindestlohn. 86 Prozent votierten in einer Umfrage
von TNS Emnid Medien- und Sozialforschung GmbH im November 2011 für
einen Mindestlohn. Dem muss die Politik endlich Rechnung tragen. Selbst die
CDU hat nun erkannt, dass man den Willen der Bevölkerung nicht gänzlich
ignorieren kann, und mit der selbst ins Leben gerufenen Diskussion große Er-
wartungen geweckt.

Festzustellen ist jedoch: Der Beschluss auf dem Parteitag der CDU ist eine
Mogelpackung. Die Einführung einer Lohnuntergrenze lediglich für Bereiche,
in denen kein tarifvertraglich festgelegter Lohn existiert, ist völlig unzurei-
chend und allenfalls ein Mindestlohn „light“. Der kleine Koalitionspartner FDP
hält im Bundestag weiterhin an seiner grundsätzlichen Blockade jeder Art von
Mindestlöhnen fest. So besteht weiterhin die Gefahr, dass trotz breiter gesell-
schaftlicher Debatten und Forderungen die dringende und gewünschte Einfüh-
rung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns ausbleibt.

Ein gesetzlicher Mindestlohn ist unabdingbar, um die Realwirtschaft über eine
gestärkte Binnennachfrage zu stabilisieren und Arbeitsplätze zu schaffen.
Deutschland darf nicht länger im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern
auf Lohndumping setzen. Ohne Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ist
dies nicht zu erreichen. Ein Mindestlohn von 10 Euro pro Stunde stärkt die
private Kaufkraft. Die Realeinkommenswirkung würde bei rund 17,7 Mrd.
Euro liegen (PROGNOS AG: Fiskalische Effekte eines gesetzlichen Mindest-
lohns, April 2011).

Ein allgemeiner Mindestlohn muss seinem Namen gerecht werden, darf sich
also, anders als von der CDU vorgeschlagen, nicht nur auf Bereiche ohne Tarif-
vertrag beschränken. Ein gesetzlicher Mindestlohn muss eine verbindliche

Lohnuntergrenze für alle in Deutschland Beschäftigten festlegen, die durch
Tarifverträge nur überschritten, aber niemals unterschritten werden darf. So
richtig es ist, die Tarifpartner verantwortlich in die Mindestlohngestaltung ein-
zubeziehen, so kontraproduktiv wäre es – wie im Vorschlag der CDU –, damit
ein faktisches Vetorecht für Arbeitgeber zu verbinden. Die Spitzenverbände der
Arbeitgeber lehnen bisher einen Mindestlohn ab. Ein Mindestlohn in angemes-
sener Höhe darf nicht am Veto der Arbeitgeber scheitern.

Drucksache 17/8026 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Entgegen den Behauptungen von Vertretern der Arbeitgeberverbände und des
Wirtschaftsflügels von CDU und CSU vernichten Mindestlöhne keine Arbeits-
plätze. Das belegen aktuelle Untersuchungen im Auftrag des Bundesministe-
riums für Arbeit und Soziales. Ein Mindestlohn hebt den Lohn von derzeit niedrig
entlohnten Beschäftigten an. Neben den betroffenen Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmern werden insbesondere die Betriebe und Unternehmer profitieren,
die mit ihren Umsätzen auf die Binnennachfrage angewiesen sind.

Zentral ist die Höhe des Mindestlohns. Er muss gewährleisten, dass ein Voll-
zeitbeschäftigter bzw. eine Vollzeitbeschäftigte von seiner bzw. ihrer Arbeit
leben kann. Zudem hat das heutige Arbeitseinkommen eine auskömmliche
Rente im Alter zu ermöglichen, die nach 45 Beitragsjahren oberhalb der Höhe
der Grundsicherung im Alter liegt. Das macht nach Berechnungen der Bundes-
regierung einen Mindestlohn in Höhe von rund 10 Euro pro Stunde notwendig.
Die Gewerkschaften fordern, mit einem Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde
einzusteigen und ihn zügig auf 10 Euro zu erhöhen.

Des Weiteren entspricht ein Mindestlohn von 10 Euro pro Stunde der Höhe
gesetzlicher Mindestlöhne in vergleichbaren europäischen Volkswirtschaften
wie Frankreich. Klar ist: Ein Mindestlohn, der sich beispielsweise auf dem
Niveau der geplanten Lohnuntergrenze in der Leiharbeit bewegt, verfehlt diese
positiven Effekte. Er ist zu niedrig und daher abzulehnen. Gleiches gilt für eine
Ungleichbehandlung von Beschäftigten in Ost und West, die mehr als 20 Jahre
nach dem Fall der Mauer nicht mehr zu rechtfertigen ist. Ebenso ist eine Diffe-
renzierung nach Branchen oder Regionen nicht hinnehmbar. Jeder und jede Be-
schäftigte hat das Recht auf einen angemessenen Lohn, unabhängig davon, in
welcher Branche oder Region er oder sie arbeitet. Daher ist ein einheitlicher
und flächendeckender Mindestlohn notwendig.

Dieser allgemeine Mindestlohn ist auf gesetzlichem Wege einzuführen. Bei der
Ausgestaltung der konkreten Modalitäten der Einführung sowie bei zukünfti-
gen Erhöhungen sind über einen nationalen Mindestlohnrat die Tarifvertrags-
parteien ebenso einzubeziehen wie die Wissenschaft.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

unverzüglich einen Gesetzentwurf vorzulegen, der sich an folgenden Eckpunk-
ten orientiert:

– die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns, der noch
in dieser Wahlperiode auf 10 Euro pro Stunde erhöht wird und jährlich min-
destens in dem Maße wächst, wie die Lebenshaltungskosten steigen. Er bil-
det die allgemeine Untergrenze der Entlohnung, die einheitlich für alle in
Deutschland Beschäftigten gilt.

– Höhere tarifliche Branchenmindestlöhne werden für die jeweilige Branche
für allgemeinverbindlich erklärt. Um dies zu gewährleisten, soll das Arbeit-
nehmerentsendegesetz auf alle Branchen ausgeweitet und die Allgemeinver-
bindlichkeitserklärung erleichtert werden.

– Die konkreten Bedingungen der Einführung des Mindestlohns sowie seine
jährliche Anpassung (mindestens entsprechend der Steigerung der Lebens-
haltungskosten) bestimmt die Bundesregierung per Rechtsverordnung auf
Vorschlag von Tarifvertragsparteien und wissenschaftlichen Expertinnen
und Experten. Dazu wird ein nationaler Mindestlohnrat einberufen. Seine
Mitglieder werden auf Vorschlag der Tarifparteien vom Bundesminister
bzw. von der Bundesministerin für Arbeit und Soziales ernannt. Er setzt sich
zu je einem Drittel aus Vertreterinnen und Vertretern der Gewerkschaften,
der Arbeitgeberverbände und der Wissenschaft zusammen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8026

– Um den Mindestlohn in der Praxis wirksam durchzusetzen, werden beste-
hende Kontrollmechanismen ausgeweitet, indem das Personal der Finanz-
kontrolle Schwarzarbeit aufgestockt wird. Zudem wird ein Verbandsklage-
recht für die Gewerkschaften eingeführt.

Berlin, den 30. November 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Nach Berechnungen des Instituts Arbeit und Qualifikation arbeiteten im Jahr
2008 knapp sieben Millionen Beschäftigte zu einem Stundenlohn unterhalb der
Niedriglohngrenze von 9,06 Euro. Mehr als eine Million hat sogar nur ein Ent-
gelt unter 5 Euro pro Stunde. Setzt man die Grenze bei 6 Euro pro Stunde, sind
es über zwei Millionen Beschäftigte. Angesichts dieser Situation ist die Politik
aufgefordert, unverzüglich zu handeln und einen gesetzlichen Mindestlohn ein-
zuführen.

Der Mindestlohn muss zwingend oberhalb des Existenzminimums von vollzeit-
beschäftigten Alleinstehenden liegen. Ist dies nicht gewährleistet, hat der Min-
destlohn seine Funktion verfehlt, da auch weiterhin unzureichende Erwerbsein-
kommen mit Steuergeldern subventioniert werden müssen. Ein Mindestlohn
unterhalb von 8 Euro pro Stunde kann derzeit auch bei Vollzeiterwerbstätigkeit
nicht die Existenz von Alleinstehenden sichern. Forderungen nach einem Min-
destlohn, die 8 Euro unterschreiten, sind daher unseriös.

Die aktuelle Ermittlung des menschenwürdigen Existenzminiums entspricht
aber nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsge-
richts. Ein sachgerechtes menschenwürdiges Existenzminimum muss bei etwa
500 Euro für den reinen Lebensunterhalt zuzüglich angemessener Kosten für
die Unterkunft liegen. Damit der Mindestlohn über diesem Existenzminimum
liegt, muss er mindestens 10 Euro pro Stunde betragen. Nicht zuletzt orientiert
sich ein Mindestlohn von 10 Euro an der Niedriglohnschwelle, die vom Statis-
tischen Bundesamt mit 9,85 Euro beziffert wird.

Argumente, denen zufolge ein Mindestlohn zu Arbeitsplatzverlusten führt, sind
angesichts der mittlerweile breiten empirischen Forschung zu diesem Sachver-
halt nicht haltbar. So hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales eine
Reihe von Studien in Auftrag gegeben, um die Beschäftigungseffekte der beste-
henden Branchenmindestlöhne zu erforschen. Diese kommen allesamt zu dem
Ergebnis, dass keine negativen Beschäftigungseffekte zu erkennen seien.

Auch die neuere empirische Forschung zum Zusammenhang von Mindestlöh-
nen und Beschäftigung in Großbritannien und den USA kommt zu dem Ergeb-
nis, dass Mindestlöhne nicht zu negativen Beschäftigungseffekten führen. Dies
gilt auch für typische Niedriglohnbranchen. In Großbritannien gab es verschie-
dene Studien im Auftrag der Low Pay Commission, die alle belegen, dass der
Mindestlohn nicht zu Beschäftigungsverlusten führt. Für die USA haben For-
scher um den Berkeley-Professor Michael Reich eine Studie vorgelegt, die in-
ternational Aufsehen erregt hat, da sie als die bisher anspruchsvollste empirische
Untersuchung von möglichen Beschäftigungseffekten höherer Mindestlöhne
gilt. Die Forscher kommen zu dem Ergebnis, dass Mindestlohnerhöhungen
weder kurz- noch langfristig zu Arbeitsplatzverlusten bei Niedriglohntätigkeiten

führen. Hierbei ist festzuhalten, dass die US-amerikanischen Mindestlöhne nicht
immer als ausgesprochen niedrig einzuordnen sind. Die sog. living wages in

Drucksache 17/8026 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
amerikanischen Städten liegen in Kaufkraft gemessen bei 10 Euro pro Stunde
und mehr.

Ein Mindestlohn führt nicht zu dem Verlust von Arbeitsplätzen, sondern erhöht
die Binnennachfrage, sodass Arbeitsplätze gesichert und geschaffen werden.
Nach Berechnungen der PROGNOS AG würde ein Mindestlohn von 10 Euro
pro Stunde die Realeinkommen um 17,7 Mrd. Euro erhöhen. Das könnte dieser
Untersuchung zufolge zu positiven Beschäftigungseffekten in Höhe von mehr als
200 000 Arbeitsplätzen führen. Hinzu kommt, dass der Staat pro Jahr 2,5 Mrd.
Euro an aufstockenden Leistungen für erwerbstätige Leistungsbeziehende nach
dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch einsparen würde. Zählt man noch die
infolge der Lohnerhöhungen steigenden Steuer- und Sozialversicherungsein-
nahmen mit, beliefe sich der gesamtfiskalische Effekt sogar auf 12,8 Mrd. Euro.

In begründeten Einzelfällen sind wirtschaftliche Hilfen für Unternehmen in der
Einführungsphase für einen begrenzten Zeitraum notwendig. Über die Höhe
und Dauer der Gewährung dieser wirtschaftlichen Hilfen soll der Mindestlohn-
rat entscheiden. Dies ist eine sinnvolle Lösung, da für die Genehmigung so-
wohl eine Überprüfung der wirtschaftlichen Lage des einzelnen Unternehmens
als auch der Branchensituation sowie der regionalen Bedingungen notwendig
ist. Die Voraussetzungen für wirtschaftliche Hilfen sind angesichts der sehr
unterschiedlichen Problemlagen in den einzelnen Branchen und Regionen nicht
pauschal festzulegen, sondern es bedarf konkreter Analysen für einzelne Unter-
nehmen, Branchen und Regionen. Denn zum einen soll vermieden werden, dass
Unternehmen gefördert werden, die auch auf anderem Wege (Arbeitsorganisa-
tion, Reduzierung der Gewinne o. Ä.) zur Einführung eines Mindestlohns in
der Lage wären. Zum anderen dürfen nicht Unternehmen gefördert werden, die
lediglich aufgrund von Dumpinglöhnen konkurrenzfähig sind, obwohl in der
Branche an sich höhere Löhne üblich sind.

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