BT-Drucksache 17/7990

zu der Beratung der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Petra Pau, Jan Korte, Sevim Dagdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. - Drucksachen 17/5303, 17/7161 - Mindestens 137 Todesopfer rechter Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland seit 1990

Vom 29. November 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7990
17. Wahlperiode 29. 11. 2011

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Petra Pau, Jan Korte, Agnes Alpers, Sevim Dag˘delen,
Ulla Jelpke, Ulrich Maurer, Kornelia Möller, Jens Petermann, Raju Sharma,
Frank Tempel, Halina Wawzyniak, Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Beratung der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage
der Abgeordneten Petra Pau, Jan Korte, Sevim Dag˘delen, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE.
– Drucksachen 17/5303, 17/7161 –

Mindestens 137 Todesopfer rechter Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland
seit 1990

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Ermordung von neun Bürgern mit Migrationshintergrund und einer
Polizistin durch die rechtsterroristische Gruppierung „Nationalsozialisti-
scher Untergrund“ (NSU) hat auf erschreckende Weise die tödliche Dimen-
sion des Rechtsextremismus in Deutschland verdeutlicht. Die Tötungs-
delikte, Anschläge und Banküberfälle des NSU haben aber auch offenbart,
dass die Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder die Gefahren des
Neonazismus völlig unterschätzt haben. 14 Jahre lang konnte der NSU mit
ihrem Unterstützerkreis unentdeckt von den Sicherheitsbehörden seine
Gewalttaten verüben. Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz
erklärte dies als „Niederlage“.

2. Zu ähnlichen Fehleinschätzungen kamen die Sicherheitsbehörden des Bun-
des und der Länder auch bei den rechtsextrem und fremdenfeindlich moti-
vierten Tötungsdelikten: Neben den zehn Todesopfern der so genannten
Zwickauer Zelle ermordeten bzw. töteten nach Informationen von „DER
TAGESSPIEGEL“ und „DIE ZEIT“ Rechtsextreme seit 1990 in Deutsch-
land mindestens 138 Menschen (vgl. DER TAGESSPIEGEL vom 20. No-
vember 2011, S. 4 f.; d. h., ein Todesopfer kam nach Recherchen des Tages-
spiegels nach der Beantwortung der Großen Anfrage noch hinzu). Beide

Zeitungen stützen ihre Einschätzung auf Gerichtsurteile, Dokumente von
Staatsanwaltschaften, Gerichten, Sicherheitsbehörden und Opferberatungs-
stellen sowie Gespräche mit Hinterbliebenen.

3. Im Gegensatz zu den 138 Tötungsdelikten, die die o. g. Zeitungen recher-
chiert haben, weisen die offiziellen Statistiken der Sicherheitsbehörden
lediglich 48 Fälle aus, die als politisch rechts motivierte Tötungsverbrechen

Drucksache 17/7990 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

eingestuft werden. Diese Diskrepanz fördert weder das Vertrauen in die
staatlichen Angaben noch in die Arbeit der Sicherheitsbehörden allgemein.
Vor allem aber verhindert sie, dass die Bürgerinnen und Bürger eine realisti-
sche Einschätzung der tatsächlichen Gefährdung treffen können, denen er-
hebliche Teile der Bevölkerung in Deutschland ausgesetzt sind.

4. Unter dem Eindruck der dramatischen Pannen und Fehleinschätzungen hat
nun der Minister für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt, Holger
Stahlknecht (CDU), angekündigt, das Landeskriminalamt und das Landes-
amt für Verfassungsschutz sieben Tötungsdelikte, die mutmaßlich von
Rechtsextremisten in Sachsen-Anhalt verübt worden waren und nicht in der
Statistik des Landes und des Bundes auftauchten, neu überprüfen zu lassen.
Auch der nordrhein-westfälische Minister für Inneres und Kommunales, Ralf
Jäger (SPD), hat angekündigt, einen Dreifachmord eines Rechtsextremisten
aus dem Juni 2000, der gleichfalls nicht offiziell als rechts motiviertes
Tötungsdelikt geführt wird, neu überprüfen zu lassen. Auch die Bundes-
regierung musste in ihrer Antwort auf die Große Anfrage „Mindestens 137
Todesopfer rechter Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland seit 1990“
vom 27. September 2011 einräumen, dass sie heute nicht mehr nachvollzie-
hen kann, ob die 137 Tötungsdelikte „dem BKA im Rahmen des KPMD-S
bzw. KPMD-PMK als rechtsextremistische bzw. politisch rechts motivierte
Straftaten gemeldet und später infolge anderer Erkenntnisse berichtigt wor-
den“ sind, da ein „mit der statistischen Erfassung einhergehende lückenlose
chronologische Ablage und damit Dokumentation der Meldungen der Länder
über einen längeren Zeitraum“ nicht vorgesehen ist (Bundestagsdrucksache
17/7161, S. 41 f.). Immerhin musste die Bundesregierung einräumen, dass
11 von 92 von „DER TAGESSPIEGEL“ und der „DIE ZEIT“ aufgeführten
rechts motivierten Tötungsdelikte in den „Täglichen Lagemeldungen PMK“
zwar auftauchten, nicht aber in die offizielle Statistik übernommen wurden.

5. Im Jahr 2000 beschloss die Innenministerkonferenz, den „Kriminalpolizei-
lichen Meldedienst Staatsschutz“ (KPMD-S), der „in der Praxis zu unein-
heitlichen Bewertungen und Erfassungsdefiziten geführt“ hat (Zweiter Perio-
discher Sicherheitsbericht, S. 135), durch das Definitionssystem „Politisch
motivierte Kriminalität“ (PMK) zu ersetzen, wodurch die Tatmotivation
zum zentralen Erfassungskriterium wird: „Als politisch motiviert gilt eine
Tat insbesondere dann, wenn die Umstände der Tat oder die Einstellung des
Täters darauf schließen lassen, dass sie sich gegen eine Person aufgrund
ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Haut-
farbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft, sexuellen Orientierung, Behin-
derung oder ihres äußeren Erscheinungsbildes bzw. ihres gesellschaftlichen
Status‘ richtet.“ (ebd.).

6. Diese Neuordnung der polizeilichen Erfassung politisch motivierter Strafta-
ten hat nur in Einzelfällen dazu geführt, dass bis dato von den Sicherheitsbe-
hörden unberücksichtigte Tötungsdelikte nunmehr Eingang in die offizielle
Statistik fanden. Auch nach der Einführung des „Kriminalpolizeilichen Mel-
dedienstes – Politisch motivierte Kriminalität“ am 1. Januar 2001 sind zahl-
reiche Tötungsverbrechen von den zuständigen Sicherheitsbehörden nicht
als rechtsextrem motiviert eingestuft worden. Die praktische Anwendung
des Erfassungssystems weist also ebenso noch deutliche Schwächen auf wie
die subjektive oder individuelle Kompetenz, rechtsextremistische Straftaten
als solche zu erkennen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. bei den Landesregierungen daraufhinzuwirken, dass jene 92 Fälle, die von

„DER TAGESSPIEGEL“ und „DIE ZEIT“ erfasst, jedoch von den Sicher-
heitsbehörden nicht als politisch rechts motivierte Kriminalität klassifiziert

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/7990

worden sind, einer erneuten Prüfung auf der Grundlage des Definitions-
systems „Kriminalpolizeilichen Meldedienstes – Politisch motivierte Krimi-
nalität“ unterzogen werden,

2. eine Evaluation des Definitionssystems „Kriminalpolizeilichen Meldediens-
tes – Politisch motivierte Kriminalität“ unter Einbeziehung externer Sach-
verständiger mit einem Schwerpunkt der praktischen Umsetzung der Erfas-
sungskriterien („Hasskriminalität“) durchzuführen und

3. sich gleichfalls bei den Landesregierungen dafür einzusetzen, dass systema-
tische Schulungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Polizei, Staats-
anwaltschaften, Gerichten sowie den Landeskriminalämtern durchgeführt
werden, die auf die Sensibilisierung der Beamtinnen und Beamten und An-
gestellten der Behörden für den Rechtsextremismus und die Perspektive der
Opfer rechter Gewalt abzielen.

Berlin, den 29. November 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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