BT-Drucksache 17/7747

EU-Pläne zur Errichtung "intelligenter Grenzen"

Vom 16. November 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7747
17. Wahlperiode 16. 11. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Memet Kilic, Josef Philip Winkler, Wolfgang Wieland,
Dr. Konstantin von Notz, Viola von Cramon-Taubadel, Volker Beck (Köln),
Katja Keul, Omid Nouripour und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

EU-Pläne zur Errichtung „intelligenter Grenzen“

Auf Aufforderung des Rates der EU hat die Europäische Kommission am
25. Oktober 2011 die Mitteilung „Intelligente Grenzen: Optionen und weiteres
Vorgehen“ vorgelegt. Darin werden die auf dem informellen Rat der EU-Innen-
minister in Sopot (Juli 2011) bereits diskutierten Pläne für die Errichtung eines
Einreise-/Ausreisesystems (EES) und eines Registrierprogramms für Reisende
(RTF) weiterentwickelt.

Das RTF soll die Durchführung automatischer Grenzkontrollen ermöglichen
und dadurch beschleunigte Grenzkontrollen für vorab geprüfte Vielreisende aus
Drittstaaten ermöglichen. Dazu ist die Speicherung auch biometrischer Daten
dieser Personen vorgesehen.

Das EES soll einen Überblick über die Reisebewegungen von Drittstaatsangehö-
rigen in der EU und die Identifizierung von Personen, die ihre laut Visum zuläs-
sige Aufenthaltsdauer in der EU überschreiten, so genannter Overstayer, ermög-
lichen. Auch hierzu ist die Speicherung von biometrischen Daten aller Reisenden
vorgesehen. Der begrenzte Zugriff von Polizei- und Strafverfolgungsbehörden
auf diese Daten ist ebenfalls vorgesehen. Die IT-Agentur der EU soll den Betrieb
des EES und des RTF übernehmen.

Nach Durchführung einer grundrechtsorientierten Folgenabschätzung will die
Europäische Kommission 2012 Legislativvorschläge zum so genannten smart
border package vorlegen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Gehört die Bundesregierung zu den EU-Mitgliedstaaten, die sich auf dem Rat
der EU Justiz- und Innenminister am 27./28. Oktober in Luxemburg für die
kurzfristige Realisierung eines Einreise-/Ausreisesystems und die baldige
Vorlage von Legislativvorschlägen zum „smart border package“ aus-
gesprochen haben?

2. Hält die Bundesregierung die Anwendung des Grundsatzes, Erfordernisse

des Datenschutzes bereits bei der Konzeption zu berücksichtigen, das so
genannte privacy by design auf die Entwicklung eines RTF und eines EES
für richtig und wichtig?

Wenn ja, hat sie oder wird sie dies in den zuständigen Gremien entsprechend
vertreten?

Drucksache 17/7747 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

3. Welche Kostenschätzungen der Europäischen Kommission und anderer
Akteure zum „smart border package“ sind der Bundesregierung bekannt?

Wir bitten um Antwort unter Berücksichtigung der Entwicklungs- und
Betriebskosten eines EES und eines RTF einschließlich der Betriebs- und
Investitionskosten auf EU-Ebene und nationaler Ebene einschließlich der
Kosten, die den Mitgliedstaaten u. a. für die Prüfung von Anträgen auf
Erteilung des Status eines registrierten Reisenden und die Errichtung auto-
matischer Kontrollgates entstehen.

4. Hält die Bundesregierung Projekte wie das EES und das RTF für technisch
leichter realisierbar als das Schengener Informationssystem II (SIS II), das
sich seit Jahren als nicht funktionsfähig erweist?

Einreise-/Ausreisesystem

5. Was hält die Bundesregierung von EU-Systemen automatischer Grenz-
kontrollen, die auch EU-Bürger umfassen?

6. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung darüber, wie viele Personen
die zulässige Aufenthaltsdauer ihres von einer deutschen Behörde bzw. von
einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Schengen-Visums in den Jahren
2005 bis 2010 überschritten haben?

7. Hält die Bundesregierung die Errichtung des EES und des RTP für erforder-
lich im Sinne des Verfassungsrechts?

Falls ja, zu welchem Zweck, und aufgrund welcher objektiv nachprüfbarer
Tatsachen?

8. Teilt die Bundesregierung die Auffassung der Europäischen Kommission,
dass die Mitgliedstaaten von ihren Möglichkeiten zur Kontrolle des un-
erlaubten Aufenthalts von Drittstaatsangehörigen nur unzureichend Ge-
brauch machen, insbesondere die Möglichkeiten zur Ausschreibung zur
Einreiseverweigerung im Schengener Informationssystem (SIS) nicht hin-
reichend nützen (siehe KOM(2011) 291, S. 10)?

9. Kann ein Einreise-/Ausreisesystem das Auffinden von Personen ohne gülti-
ges Visum, die sich in den Mitgliedstaaten aufhalten, besser gewährleisten
als die Kontrolle der bisherigen Visa-Marken im Pass?

Wenn ja, wie?

10. Wie würde sich die Erfassung biometrischer Daten im Einreise-/Ausreise-
system auf die für den Grenzübertritt benötigte Zeit auswirken?

11. Wie beurteilt die Bundesregierung die Evaluation des dem geplanten EES
vergleichbaren US-VISIT-Programms, wonach auch nach Ansicht des
US Department of Homeland Security aufgrund der Fehleranfälligkeit des
Systems erhebliche Zweifel an der Zuverlässigkeit und Kosteneffizienz
bestehen?

Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dieser Evaluation für
die Verhandlungen auf EU-Ebene?

Registrierprogramm für Reisende

12. Teilt die Bundesregierung die Ansicht der Europäischen Kommission, dass
die Mitgliedstaaten von der Möglichkeit der Vergabe von Mehrfachvisa,
die – ebenso wie ein RTF – die Formalitäten für die Antragsteller wesent-
lich verkürzen würden, bisher nur sehr zögerlich Gebrauch machen (siehe
KOM(2011) 248, S. 12)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/7747

13. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass das geplante RTF, das nach
Vorkontrollen zwischen vertrauenswürdigen Vielreisenden, so genannten
bona fide-Reisenden, und anderen unterscheiden soll, genauso sicher sein
kann, wie die derzeit vorgeschriebene gründliche Kontrolle jedes/jeder
Drittstaatsangehörigen an der EU-Außengrenze?

14. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass das geplante RTF, das nach
Vorkontrollen zwischen so genannten bona fide-Reisenden und anderen
unterscheiden soll, im Einklang mit geltenden Diskriminierungsverboten
umsetzbar wäre?

Wenn ja, wie?

Erprobung biometrischer Systeme

15. Welches der von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Modelle
für ein Einreise-/Ausreisesystem hält die Bundesregierung für das scho-
nendste im Hinblick auf den Schutz der Grundrechte der Betroffenen, ins-
besondere unter Datenschutzaspekten?

16. Welche Mindestanforderungen stellt die Bundesregierung an die Verläss-
lichkeit und Sicherheit von biometrischen Daten, die in einem zukünftigen
Entry-/Exitsystem gespeichert werden?

17. Welche Mindestanforderungen stellt die Bundesregierung an die Verläss-
lichkeit und Sicherheit der Speicherung und Übertragung der für das
„smart border package“ erforderlichen Daten?

Welche Mindestanforderungen stellt sie an die Sicherung der Systeme
gegen den Zugriff durch Dritte?

Welche Mindestanforderungen stellt sie bei der Begrenzung des zum
Zugriff auf die Daten berechtigten Personenkreises?

18. Welche Erfahrung hat die Bundesregierung mit der Erfassung von bio-
metrischen Daten zur Ein- und Ausreisekontrolle sowie zur Identifikation
von Menschen, die sich im Schengenraum aufhalten?

19. Welche Projekte und Einrichtungen gibt es zur Erprobung biometrischer
Systeme im Bundesgebiet (z. B. im Zuge des Pilotprogramms für „regis-
trierte Vielreisende“)?

20. Welche Systeme werden/wurden wo getestet, und wie sind die bisherigen
Erkenntnisse und Erfahrungen (beispielsweise Iris/Retina-Scanner, Erfas-
sung von Gesichtsgeometrie, Finger- und Handabruckscanner, Stimmen-
erkennung etc.)?

21. Zu welchen Systemen zur Erfassung von biometrischen Daten zur Ein- und
Ausreisekontrolle sowie zur Identifikation von Menschen, die sich im
Schengenraum aufhalten, hat die Bundesregierung bislang Erkenntnisse
oder Erfahrungen gesammelt?

Wie sind ihre Einschätzungen und Erkenntnisse zu den einzelnen Systemen,
jeweils aufgeschlüsselt nach Kosten, Dauer der Erfassung pro Reisendem,
Fehleranfälligkeit, Schwere des Grundrechtseingriffs?

22. Mit welchen Staaten (EU-Mitgliedstaaten oder Drittstaaten) kooperiert die
Bundesregierung bei der Erprobung biometrischer Systeme?

Wie sieht diese Kooperation genau aus?

Welche Systeme werden wo getestet, und wie sind die bisherigen Erkennt-
nisse und Erfahrungen?

Drucksache 17/7747 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
23. Gibt es im Rahmen der „smart borders“-Planungen Hinweise, dass auch
Körperscanner einbezogen werden?

Wird die Bundesregierung die schlechten Erfahrungen aus den in Deutsch-
land durchgeführten Pilotprojekten aktiv auf europäischer Ebene kundtun,
und sich für alternative Lösungen einsetzen?

Vernetzter Datenzugriff

24. Hält die Bundesregierung die geplanten Zugriffsmöglichkeiten der Polizei-
und Strafverfolgungsbehörden auf die Datenbestände des EES und des
RTF für erforderlich im Sinne der Verfassung?

Wenn ja, warum?

Welche Tatsachen liegen der Bewertung der Bundesregierung zugrunde?

25. Wie beurteilt die Bundesregierung die Zulässigkeit der Umsetzung des
geplanten „smart border packages“ vor dem Hintergrund der laut Bundes-
verfassungsgericht bei jeder neuen Überwachungsmöglichkeit vorab
durchzuführenden Überwachungsgesamtrechnung (siehe Bundesverfas-
sungsgericht, Urteil zur Vorratsdatenspeicherung vom 2. März 2010)?

26. Ist der Bundesregierung bekannt, ob und inwieweit Pläne für die Inter-
operabilität bzw. Verknüpfung von EES mit anderen Datenbeständen auf
EU-Ebene und auf nationaler Ebene vorliegen?

Wenn ja, mit welchen Datenbeständen?

27. Bestehen aus Sicht der Bundesregierung Bedenken hinsichtlich des Vor-
schlags der Europäischen Kommission, die Datenbestände des EES sowie
des RTP bei der neuzuschaffenden IT-Agentur der EU anzusiedeln?

Wenn nein, warum nicht?

28. Wann rechnet die Bundesregierung mit der Inbetriebnahme dieser euro-
päischen IT-Agentur?

Berlin, den 16. November 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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