BT-Drucksache 17/7731

Deutschlands Rolle im KSE-Prozess

Vom 14. November 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7731
17. Wahlperiode 14. 11. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, Sevim Dag˘delen,
Andrej Hunko, Harald Koch, Stefan Liebich, Niema Movassat, Thomas Nord,
Paul Schäfer (Köln), Kathrin Vogler, Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Deutschlands Rolle im KSE-Prozess

Am 29. September 2011 fand in Wien, von der westeuropäischen Öffentlichkeit
fast unbemerkt, die vierte Vertragsstaatenkonferenz aller 30 KSE-Vertragsstaa-
ten inklusive Russland, das die Implementierung 2007 ausgesetzt hat, statt.

Der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) wurde
1990 zwischen Teilnehmerstaaten der NATO und des damaligen Warschauer
Pakts im Rahmen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa (KSZE) unterzeichnet. Er legt sowohl nationale als auch territoriale
Obergrenzen für Hauptwaffensysteme fest und strebt Verbesserungen im Infor-
mations- und Verifikationsregime an. Im Jahr 1999 wurden Anpassungen des
Vertrags erforderlich und das Übereinkommen über die Anpassung des Ver-
trags über Konventionelle Streitkräfte in Europa (A-KSE) von den Teil-
nehmerstaaten unterzeichnet. Dieser adaptierte Vertrag wurde jedoch bislang
von keinem NATO-Staat und insgesamt erst von drei postsowjetischen Staaten
ratifiziert (Russland, Weißrussland und Kasachstan).

Seit über einem Jahrzehnt sind es vor allem die Differenzen zwischen östlichen
und westlichen Vertragsstaaten, insbesondere der Russischen Föderation und
den USA, über die militärischen Obergrenzen in den sogenannten Flanken-
regionen und die Umsetzung der sogenannten Istanbul Commitments (mittel-
fristiger Abzug russischer Truppen aus Georgien und dem von Moldawien
abtrünnigen Transnistrien), welche die Verhandlungen über den angepassten
KSE-Vertrag blockieren. Während besonders die USA eine Umsetzung
der „Istanbul Commitments“ als eine Voraussetzung für die Ratifikation des
A-KSE ansehen, verweist Russland darauf, dass diese Zusatzforderungen nicht
Vertragsbestandteil seien und das Junktim nicht akzeptiert würde.

Nur ein Jahr, nachdem US-Präsident Barack Obama im Februar 2010 mit
Victoria Nuland eigens eine Sonderbeauftragte für den KSE-Prozess ernannt
hatte, ist diese Stelle seit Juni 2011 nunmehr vakant. Die geringe Bedeutung,
die die teilnehmenden Staaten dem KSE-Vertrag gegenwärtig noch beimessen,
ist daran abzulesen, dass die meisten Regierungen nur auf der Ebene von Vize-

ministern oder Staatssekretären in Wien vertreten waren. Erwartungsgemäß
wurden in Wien erneut keinerlei Fortschritte erzielt. Auch die informellen Ge-
spräche, die im Format „36“ (30-KSE-Vertragsstaaten zuzüglich sechs NATO-
Beitrittsstaaten) stattfanden, sind im Mai 2011 abgebrochen worden.

Obwohl laut Auswärtigem Amt die Bundesregierung „die konventionelle
Rüstungskontrolle in Europa weiterhin für ein unverzichtbares Element einer
verlässlichen europäischen Sicherheitsarchitektur“ hält, scheint eine Wieder-

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belebung des KSE-Prozesses derzeit keine Priorität im Regierungshandeln zu
genießen. Die Möglichkeit, durch die Ratifizierung des angepassten KSE-Ver-
trags auch innerhalb der NATO ein deutliches Zeichen für die Aufrecht-
erhaltung dieses wichtigen Instruments der Rüstungskontrolle und der Vertrau-
ensbildung zu setzen, wurde in der Vergangenheit nicht wahrgenommen. Die
Bundesregierung plant hingegen als einziger NATO-Staat die Implementierung
der Vertragsverpflichtungen gegenüber Russland auszusetzen und schließt
somit de facto eine zukünftige Wiederbelebung des KSE-Regimes unwider-
ruflich aus.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie beurteilt die Bundesregierung die Ergebnisse der vierten Überprü-
fungskonferenz des KSE-Vertrags am 29. September 2011 in Wien?

2. Mit welchen Vorstellungen für die Zukunft des KSE-Vertrags ist die Bun-
desregierung zu der Überprüfungskonferenz gereist, und welche der Vor-
stellungen konnten umgesetzt werden?

3. Welche Anstrengungen hat die Bundesregierung seit der einseitigen Aus-
setzung des KSE-Vertrags durch Russland 2007 unternommen, um den
KSE-Vertragsprozess wiederzubeleben?

4. Welche Gründe sprechen nach Auffassung der Bundesregierung dagegen,
das Flankenregime für Russland neu zu verhandeln?

5. Welche Gründe sprechen nach Auffassung der Bundesregierung dagegen,
die Obergrenzen für die NATO-Staaten neu zu verhandeln, insbesondere
vor dem Hintergrund, dass alle Vertragsstaaten – mit Ausnahme von Arme-
nien und Aserbaidschan – seit Jahren die Obergrenzen weitgehend unter-
schreiten?

6. Welche Gründe sprechen nach Auffassung der Bundesregierung dagegen,
dass die NATO darauf verzichtet, dauerhaft „substantielle“ Waffensysteme
und ausländische Kampftruppen in östlichen NATO-Staaten zu stationie-
ren?

7. Hält die Bundesregierung die Erfüllung der sogenannten Istanbul Commit-
ments für rüstungskontrollpolitisch und sicherheitspolitisch notwendig,
und falls ja, mit welcher Begründung?

8. Wie bewertet die Bundesregierung die seit dem Sommer 2007 bestehende
neue Realität im Hinblick auf Georgien und der in Südossetien und Ab-
chasien dauerhaft stationierten russischen Truppen?

9. Welche Gründe sprachen bislang aus Sicht der Bundesregierung gegen eine
Ratifizierung des A-KSE durch Deutschland, und unter welchen Bedingun-
gen wäre die Bundesregierung bereit gewesen, den A-KSE-Vertrag dem
Deutschen Bundestag zur Ratifizierung vorzulegen?

10. Verfügt die Bundesregierung über Informationen, ob die im Mai 2011 ab-
gebrochenen informellen Gespräche im Format „36“ (30 KSE-Vertrags-
staaten zuzüglich sechs NATO-Beitrittsstaaten) endgültig für beendet er-
klärt werden?

11. Was sind die Beweggründe der Bundesregierung, die Implementierung der
A-KSE-Vertragsverpflichtungen gegenüber Russland mit Hinblick auf das
Informationsregime auszusetzen?

a) Ist dieser Schritt mit den Vertragspartnern vorher abgestimmt worden?

b) Warum geht die Bundesrepublik Deutschland diesen Schritt alleine?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/7731

c) Ist die Aussetzung der Implementierung seitens der Bundesregierung
zeitlich befristet?

d) Inwiefern erwartet die Bundesregierung, dass dieser Schritt dazu bei-
trägt, die russische Vertragspartei künftig wieder zurück an den Ver-
handlungstisch zu holen?

e) Welche Reaktion erwartet die Bundesregierung vonseiten der russischen
Regierung bzw. wie wurde die Ankündigung zu diesem Schritt auf-
genommen?

12. Inwiefern bemüht sich die Bundesregierung derzeit neue Ansätze für eine
Modernisierung des KSE-Regimes zu finden, auf Vertragsstaaten zuzuge-
hen und sich dafür einzusetzen, dass die konventionelle Rüstungskontrolle
in der europäischen Sicherheitsarchitektur erhalten bleibt?

13. Wie sollen die russischen Partner von der Notwendigkeit ihrer Teilnahme
an einem künftigen Regime überzeugt werden, und von wem?

14. Hat der Beauftragte der Bundesregierung für Fragen der Abrüstung und
Rüstungskontrolle, Rolf Nikel, bei seinem Besuch in Moskau Ende Okto-
ber 2011 das Thema Konventionelle Rüstungskontrolle angesprochen?

Was war das Ziel seines Besuchs?

15. Welche KSE-Vertragsstaaten unterstützt die Bundesregierung bei der Um-
setzung des KSE-Vertrags durch die Bereitstellung von Ausbildungskräften
und die Durchführung zusätzlich vereinbarter Inspektionen (bitte unter An-
gabe der jeweiligen Unterstützungsmaßnahmen)?

16. In welchen Vertragsstaaten hat Deutschland seit 2007 selbst Inspektionen
durchgeführt?

17. Verfolgt die Bundesregierung das Ziel, sich in Zukunft auch auf höchster
politischer Ebene der konventionellen Rüstungskontrolle anzunehmen
(erste Ansätze gab es in diesem Zusammenhang 2008 unter dem damaligen
Bundesminister des Auswärtigen Dr. Frank-Walter Steinmeier)?

18. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass eine Umsetzung der ge-
heimen NATO-Planungen für eine Verteidigung der baltischen Staaten
nach Artikel 5 des NATO-Vertrags gegen einen potenziellen russischen
Angriff mit dem Namen „Eagle Guardian“ (http://wikileaks.org/cable/
2009/12/09STATE127892.html) in seiner Konsequenz die Vertrauens- und
Sicherheitsbildenden Maßnahmen (gemäß Wiener Dokument von 1999)
unterminieren würde, die unter anderem eine Grundlage für die gegen-
seitigen Verifikationsregime des KSE-Vertrags darstellen?

Und falls nicht, welche Position vertritt die Bundesregierung in dieser
Frage?

19. War der Bundesregierung der Plan „Eagle Guardian“ bekannt und trifft es
zu, dass er auf einer Initiative der Bundesregierung basiert?

a) Wurden im Rahmen dieses Verteidigungsplans im vergangenen Jahr
militärische Manöver durchgeführt?

b) Falls ja, wo fand das Manöver statt, und welche deutschen Streitkräfte-
einheiten haben zu welchem Zeitpunkt, in welcher Zahl und mit welcher
Ausrüstung daran teilgenommen?

20. Aus welchen Gründen erfüllt die Bundesregierung seit 1997 nicht mehr die
Verpflichtung des Vertrags über den Offenen Himmel (Open Skies Treaty),
der die Bereitstellung eigener Beobachtungsflugzeuge für diesen Vertrag

vorsieht?

Drucksache 17/7731 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
21. Über wie viele Dienstposten verfügt das Zentrum für Verifikationsaufga-
ben der Bundeswehr in Geilenkirchen derzeit?

Wie viele permanente Dienstposten und welches Jahresbudget sind in den
kommenden fünf Jahren für das Zentrum eingeplant?

Berlin, den 14. November 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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