BT-Drucksache 17/7670

Euratom-Vertrag ändern - Atomausstieg europaweit voranbringen - Atomprivileg beenden

Vom 9. November 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7670
17. Wahlperiode 09. 11. 2011

Antrag
der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Ekin Deligöz, Katja Dörner,
Kai Gehring, Agnes Krumwiede, Monika Lazar, Tabea Rößner, Krista Sager,
Till Seiler, Jerzy Montag, Sven-Christian Kindler, Claudia Roth (Augsburg)
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Euratom-Vertrag ändern – Atomausstieg europaweit voranbringen –
Atomprivileg beenden

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest,

dass sich die politischen und gesellschaftlichen Hoffnungen und Erwartungen
in die Atomkraft nicht erfüllt haben. Vielmehr haben die aktuellen Ereignisse in
Japan deutlich vor Augen geführt, dass die Energiegewinnung durch Kern-
spaltung – auch in hoch technologisierten Ländern – ein für Menschen un-
beherrschbares Risiko darstellt. Die Ausrichtung des Euratom-Vertrages mit
dem Ziel der „Entwicklung einer mächtigen Kernindustrie“ entspricht nicht
mehr den energiepolitischen und gesellschaftlichen Anforderungen der heuti-
gen Zeit, in der es gilt, die Entwicklung und Förderung erneuerbarer Energien
voranzutreiben, um so eine Energieversorgung ohne unbeherrschbare Techno-
logierisiken sicherzustellen.

II. Der Deutsche Bundestag stellt des Weiteren fest,

dass der seit 1957 nahezu unverändert gebliebene Euratom-Vertrag grund-
legend in Frage steht und auf europäischer Ebene der Entwicklung eines zu-
kunftsfähigen Energiekonzeptes entgegensteht. Der Deutsche Bundestag weist
darauf hin, dass die Bundesrepublik Deutschland mit anderen EU-Mitglied-
staaten eine Erklärung zur Schlussakte von Lissabon vom 13. Dezember 2007
abgegeben hat, in der sie ihre Unterstützung für eine zeitgemäße Veränderung
des Euratom-Vertrages zum Ausdruck gebracht hat. Dies ist bisher unter-
blieben.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass schnellstmöglich eine Regie-
rungskonferenz einberufen wird, die den Vertrag zur Gründung der Europäischen
Atomgemeinschaft (EURATOM) grundlegend überarbeitet. Dabei soll die Bun-

desregierung auf folgende Neuausrichtung hinwirken:

a) Die durch den Euratom-Vertrag festgeschriebene Sonderstellung der Kern-
energie (Kernspaltung und Kernfusion) soll abgeschafft werden; insbe-
sondere sollen alle Passagen des Euratom-Vertrages gestrichen werden, die
Investitionen, Forschungsförderung und Genehmigungsprivilegien in die
Atomkraft begünstigen. Die frei werdenden Mittel sollen stattdessen außer-

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halb von Euratom für die Forschung und Entwicklung sowie für Kreditver-
günstigungen u. a. finanzielle Unterstützung von erneuerbaren Energien,
eingesetzt werden. Die Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der
Kernspaltung soll sich auf Sicherheits-, Entsorgungs- und Gesundheitsfragen
beschränken.

b) Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Atomenergie noch einige Zeit
Teil des Energiemixes vieler Mitgliedstaaten bleiben wird, müssen höchst-
mögliche, verbindliche Sicherheitsstandards für Kernkraftwerke gelten. Die
Kontrolle der Sicherheitsstandards soll verschärft werden.

Zudem soll die Europäische Atomgemeinschaft den Austausch mit den
Nachbarländern der EU ausbauen, um diese über Fortschritte bei Sicher-
heits- und Gesundheitsfragen zu informieren und ihnen bei der Umsetzung
höchstmöglicher Sicherheitsstandards behilflich sein.

c) Die Anlagen zur Zwischen- und Endlagerung müssen dem bestmöglichen
Stand von Wissenschaft und Technik entsprechen. Der Export von Atom-
müll und abgebranntem Kernbrennstoff muss verboten werden.

d) Die Maßnahmen zur Verhinderung von Proliferation müssen verbessert wer-
den.

e) Der europaweite Ausstieg aus der Atomkraft soll vorbereitet werden. Hier-
bei steht der Euratom-Vertrag grundsätzlich in Frage oder muss mit einem
Enddatum versehen werden.

f) Die Revision des Euratom-Vertrages muss die volle demokratische Kon-
trolle und Beteiligung durch das Europäische Parlament erreichen.

g) Die Schaffung einer Europäischen Gemeinschaft für erneuerbare Energien
muss vorbereitet werden.

IV. Sollte diese Neuausrichtung auf europäischer Ebene nicht durchsetzbar
sein,

fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf, den Euratom-Vertrag
von deutscher Seite aus zu kündigen.

Berlin, den 9. November 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Zu Nummer I

Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft wurde in den
nunmehr 54 Jahren seit seiner Unterzeichnung am 25. März 1957 in Rom kaum
verändert. Die Vorzeichen, unter denen er gegründet wurde, sind jedoch völlig
andere als die, unter denen heute eine verantwortliche Energiepolitik betrieben
werden muss. Damaliges Ziel war, die Entwicklung der zivilen Atomenergienut-
zung in Europa zu fördern, aus der damaligen Überzeugung heraus, dass die
Kernenergie eine unentbehrliche Hilfsquelle für die Entwicklung und Belebung
der Wirtschaft und für den friedlichen Fortschritt darstellt. Die Hoffnungen auf
eine saubere und vor allem sichere Energieversorgung durch Atomenergie

haben sich jedoch nicht erfüllt. Dies haben die Unfälle von Harrisburg, Tscher-
nobyl oder auch Fukushima leidvoll gezeigt. Zudem sind wichtige Fragen, wie

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/7670

die der Endlagerung der atomaren Abfälle, auch heute noch ungelöst. Auch die
Trennung in friedliche und militärische Nutzung der Atomenergie konnte die
weitere Ausbreitung von Atomwaffen nicht verhindern.

Der Vertrag hat den politischen und gesellschaftlichen Wandel bei der Akzep-
tanz der Atomenergie nicht nachvollzogen. Die Zielrichtung des Euratom-Ver-
trages, „die Voraussetzungen für die Entwicklung einer mächtigen Kernindust-
rie zu schaffen“, steht vielmehr in eklatantem Widerspruch zu den Bemühun-
gen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union, eine sichere und nachhal-
tige Energieversorgung durch erneuerbare Energien zu verwirklichen. Trotz
divergierender Ansichten der Mitgliedstaaten zur Atomkraft besteht doch ein
Konsens dahingehend, dass die Zukunft der Energieversorgung nicht in der
Kernspaltung, sondern in regenerativen Energien liegt.

Zu Nummer II

Ein möglicher atomarer Unfall und seine Folgen bedrohen die Bevölkerung
ganz Europas. Nur ein gemeinsames europäisches Handeln kann die Bevölke-
rung und die Umwelt ausreichend schützen. Um ein zukunftsfähiges Energie-
konzept zu entwickeln, muss zunächst der Vertrag zur Gründung der Europäi-
schen Atomgemeinschaft grundlegend reformiert werden.

Bisher hat der Euratom-Vertrag alle energiepolitischen Debatten der letzten
Jahrzehnte nahezu unverändert überstanden. Auch nach Inkrafttreten des Ver-
trages von Lissabon blieb die Europäische Atomgemeinschaft als eigenständige
Organisation neben der EU bestehen. Der Euratom-Vertrag wurde lediglich an
die neuen Regelungen angepasst, blieb aber inhaltlich unverändert. Damit
wurde die Chance vertan, den Euratom-Vertrag an die energiepolitischen
Herausforderungen des 21. Jahrhunderts anzupassen. Der Aktualisierungs-
bedarf wurde jedoch schon von einigen Mitgliedstaaten, darunter der Bundes-
republik Deutschland, erkannt. Sie gab mit anderen Mitgliedstaaten folgende
Erklärung zur Schlussakte von Lissabon vom 13. Dezember 2007 ab:

„Erklärung Nr. 54: Deutschland, Irland, Ungarn, Österreich und Schweden stel-
len fest, dass die zentralen Bestimmungen des Vertrags zur Gründung der Euro-
päischen Atomgemeinschaft seit seinem Inkrafttreten in ihrer Substanz nicht
geändert worden sind und aktualisiert werden müssen. Daher unterstützen sie
den Gedanken einer Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitglied-
staaten, die so rasch wie möglich einberufen werden sollte.“

An diese Erklärung muss nun angeknüpft werden.

Zu Nummer III

Der Euratom-Vertrag entspricht mit seinen Regelungen nicht mehr der heutigen
Bewertung der Atomenergie mit all ihren Risiken. Durch die Neuausrichtung
muss daher zunächst die Sonderstellung abgeschafft werden, die der Atom-
energie bisher durch den Euratom-Vertrag – beispielsweise durch Investitions-
erleichterungen – zukommen. Diese Sonderstellung entspricht auch nicht der
Rolle, die die Energieerzeugung durch Atomkraft tatsächlich im Rahmen des
Energiemixes der EU-Mitgliedstaaten einnimmt: Ihr Anteil an der Energieer-
zeugung liegt bei rund einem Viertel in der gesamten EU.

Die bestehenden Einrichtungen der Europäischen Atomgemeinschaft sollen
künftig verstärkt dazu genutzt werden, höchste einheitliche Sicherheits-
standards in der EU zu garantieren und die Forschung und Entwicklung von
Sicherheits- und Endlagerkonzepten voranzutreiben. Dabei soll auch der Aus-
tausch mit den Nachbarländern der EU gefördert werden, um auch diese an der

Verbesserung der Sicherheit von Atomkraftanlagen teilhaben zu lassen.

Drucksache 17/7670 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
Die extrem hohen Forschungsförderungen der öffentlichen Hand für Kernspal-
tung und Kernfusion sind weitgehend erfolglos geblieben. So wurden OECD-
weit (OECD: Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung) in den letzten 60 Jahren weit über 90 Prozent aller öffentlichen For-
schungsmittel in Kernspaltung und Kernfusion investiert. Die Kernspaltung
deckt aber gerade mal gut 2 Prozent der Weltenergienachfrage und die Kern-
fusion kann sicher nicht bis Mitte dieses Jahrhunderts, wahrscheinlich aber nie
einen Beitrag zur Energieversorgung liefern. Andererseits decken die erneuer-
baren Energien, die nur einen winzigen Bruchteil der öffentlichen Forschungs-
mittel bekamen, heute bereits über 13 Prozent der Weltenergienachfrage. Vor
allem aus Gründen des effektiven und verantwortungsvollen Umgangs mit
Steuergeldern sollte die Forschungsförderung auf erneuerbare Energien, Ener-
gieeffizienz und Energieeinsparung konzentriert werden, statt sie weiterhin in
die Kernenergie zu stecken. Selbst das Büro für Technikfolgen-Abschätzung
beim Deutschen Bundestag hat bereits 2002 dem Deutschen Bundestag geraten,
eine Neubewertung der Kernfusion vorzunehmen. Dies ist bis heute nicht
erfolgt. Da allerdings große Mengen Atommülls in den nächsten Jahren entsorgt
werden müssen und viele Atomreaktoren weltweit noch am Netz sind, sollte die
Forschungsförderung für die Entsorgung und die Sicherheit von existierenden
Reaktorlinien aufrechterhalten bleiben.

Der Euratom-Vertrag weist nicht nur inhaltliche Mängel auf; auch sind die da-
rin normierten Entscheidungsverfahren nicht angemessen transparent. Es ent-
scheidet in der Regel der Rat auf Vorschlag der Kommission. Das Parlament
fungiert nicht als Mitentscheidungsorgan. Es hat in einzelnen Bereichen ledig-
lich Anhörungsrechte. Dies ist ein Anachronismus, nachdem der Lissabon-Ver-
trag auch zum Ziel hatte, die demokratische Legitimation zu stärken.

Zu Nummer IV

Der Euratom-Vertrag steht in seiner jetzigen Fassung im Widerspruch zur Ener-
giepolitik vieler Mitgliedstaaten. Zudem bietet er keine Lösung für die drängen-
den energiepolitischen Fragen des 21. Jahrhunderts. Daher gilt eine Kündigung
des Euratom-Vertrages als letztes Mittel für gerechtfertigt, obwohl Euratom
einer der drei Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften ist.

Ein Austritt ist auch rechtlich möglich. Der Lissaboner Vertrag sieht vor, dass
ein Mitgliedstaat einseitig aus dem Euratom-Vertrag ausscheiden kann
(Artikel 106a des Euratom-Vertrages i. V. m. Artikel 50 des Vertrags über die
Europäische Union). Es gibt jedoch keine Regelung, die vorsieht, dass dies nur
zusammen mit dem Austritt aus der Europäischen Union möglich wäre.

Auch ist Euratom nach dem Lissaboner Vertrag nicht mehr ein Teil der
Säulenstruktur der Europäischen Union. Euratom und die EU besitzen nun
beide eine jeweils eigene Rechtspersönlichkeit und stehen somit als zwei Orga-
nisationen rechtlich nebeneinander.

Ein Austritt aus dem Euratom-Vertrag würde zwar einen gewissen personellen
und finanziellen Aufwand mit sich bringen, da die gemeinsamen Institutionen
und auch der Haushalt von EU und Euratom voneinander getrennt werden
müssten. Diese Art von Zweigleisigkeit ist der EU jedoch nicht unbekannt. Ein
Beispiel hierfür ist der Euroraum als Teil der Europäischen Union, dem nicht
alle Mitgliedstaaten angehören.

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