BT-Drucksache 17/745

Auswirkungen des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 9. Februar 2010 auf das Asylbewerberleistungsgesetz

Vom 17. Februar 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/745
17. Wahlperiode 17. 02. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Sevim Dag˘delen,
Heidrun Dittrich, Diana Golze, Katja Kipping, Cornelia Möhring, Wolfgang Neskovic,
Petra Pau, Ingrid Remmers, Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Auswirkungen des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 9. Februar 2010
auf das Asylbewerberleistungsgesetz

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit Urteil vom 9. Februar 2010
– 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 – ein Grundrecht auf Gewährleistung eines
menschenwürdigen Existenzminimums nach Artikel 1 Absatz 1 des Grundgeset-
zes (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikels 20 Absatz 1 GG
statuiert. Dieses Grundrecht sichert jedem Hilfebedürftigen ein menschenwürdi-
ges Existenzminimum zu, das nicht nur die physische Existenz des Menschen,
sondern auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und
politischen Leben umfasst.

Das Bundesverfassungsgericht fordert vom Gesetzgeber, dass bei der Konkre-
tisierung dieses Grundrechts ein transparentes und sachgerechtes Verfahren zur
realitätsgerechten Bedarfsermittlung gewählt wird. Der ermittelte Bedarf muss
fortwährend überprüft und auf geänderte Rahmenbedingungen (zum Beispiel
Preissteigerungen) muss zeitnah reagiert werden. Die Festsetzung der Leistun-
gen hat auf der Grundlage vollständig ermittelter, verlässlicher Zahlen und
schlüssiger Berechnungsverfahren zu erfolgen. Werden die im Gesetzgebungs-
verfahren eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nicht nachvollzieh-
bar offengelegt, ist die Ermittlung des Existenzminimums bereits aus diesem
Grunde verfassungswidrig, so das Bundesverfassungsgericht (Rn. 144 des Ur-
teils).

An diesen allgemeinen verfassungsrechtlichen Vorgaben muss sich auch das
Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) messen lassen, dessen Grundleistungen
um mehr als ein Drittel unterhalb der Leistungen des Zweiten Buches Sozial-
gesetzbuch (SGB II) liegen. Nach den oben ausgeführten Maßstäben ist das
AsylbLG offenkundig verfassungswidrig, denn die dortigen Leistungssätze sind
noch viel weniger nachvollziehbar als im SGB II; sie beruhen ausschließlich auf
einer freihändigen Setzung ohne irgendeine empirische und methodische Fun-
dierung. Auch die durch mehrere Gesetzesänderungen erfolgte sukzessive Ver-
längerung der Frist, innerhalb derer nur gekürzte Leistungen gewährt werden,
von einem über drei auf derzeit vier Jahre ist mit realitätsnahen Ermittlungs-

methoden nicht zu begründen. Sie geht allein auf die politisch gewollte Ab-
schreckungsfunktion des AsylbLG zurück. Die vom Verfassungsgericht ge-
forderte zeitnahe Anpassung der Sätze an gestiegene Lebenshaltungskosten ist
im AsylbLG als Möglichkeit zwar vorgesehen – faktisch hat dies jedoch seit Ein-
führung des Gesetzes im Jahr 1993 nicht stattgefunden. Schließlich ist auch der
Ausschluss der Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen
Leben, zumal über vier Jahre hinweg, mit dem Grundrecht auf ein menschenwür-
diges Existenzminimum unvereinbar.

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Wir fragen die Bundesregierung:

1. Gilt das vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 9. Februar 2010
statuierte Grundrecht eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Arti-
kel 1 Absatz 1 und Artikel 20 Absatz 1 GG für alle Menschen unabhängig von
ihrer Herkunft und ihrem Aufenthaltsstatus (bitte begründen)?

2. Welche direkten oder indirekten Auswirkungen und Folgen hat das benannte
Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 auf das Asyl-
bewerberleistungsgesetz (AsylbLG) und seine praktische Anwendung, und
welchen Gesetzesänderungs- oder anderen Handlungsbedarf sieht die Bun-
desregierung?

3. Wie werden gegebenenfalls Einschränkungen des Grundrechts eines men-
schenwürdigen Existenzminimums bei Personen, die bislang noch dem Asyl-
bewerberleistungsgesetz unterfallen, in Kenntnis des Urteils des BVerfG be-
gründet, und wie wird insbesondere das genaue Ausmaß der Abweichung
vom sonst üblichen Existenzminimum realitätsnah bestimmt, ermittelt und
berechnet?

4. Inwieweit ist die zentrale Begründung des AsylbLG, wonach den nach
AsylbLG Leistungsberechtigten für einen vorübergehenden Zeitraum (der
mittlerweile vier Jahre umfasst) kein soziokulturelles Existenzminimum
zugestanden werden müsse, mit dem Grundrecht eines menschenwürdigen
Existenzminimums vereinbar, das nach dem Urteil des BVerfG sowohl die
materiellen Voraussetzungen als auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesell-
schaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst?

5. Inwieweit wird die Konkretisierung der Höhe der Leistungssätze nach dem
AsylbLG den Anforderungen des Urteils vom 9. Februar 2010 gerecht, insbe-
sondere hinsichtlich der Anforderung eines transparenten, sachgerechten,
realitätsnahen, schlüssigen und nachvollziehbaren Berechnungsverfahrens
zur Ermittlung des Existenzminimums von Leistungsberechtigten nach dem
AsylbLG, und inwieweit wird die Bundesregierung gegebenenfalls eine sol-
che verfassungsgemäße Berechnung nachholen und/oder das AsylbLG än-
dern oder aufheben und sich dabei an der Frist des Bundesverfassungsgerichts
zum Stichtag 1. Januar 2011 orientieren (bitte begründen)?

6. Auf welche verlässlichen Zahlen hat sich der Gesetzgeber bei der Festsetzung
des Existenzminimums nach AsylbLG gestützt, auf welchen tatsächlichen
Bedarf wurde dabei konkret abgestellt?

7. Inwieweit ist die Ermittlung des Existenzminimums nach dem AsylbLG nicht
schon deshalb verfassungswidrig, weil der Gesetzgeber die dabei im Gesetz-
gebungsverfahren eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte in keiner
Weise nachvollziehbar offengelegt hat, wie vom BVerfG gefordert?

8. Inwieweit muss in Kenntnis des Urteils des BVerfG vom 9. Februar 2010 die
Bestimmung der Höhe der Grundleistungen im AsylbLG aus dem Jahr 1993
nicht bereits deshalb als verfassungswidrig angesehen werden, weil

a) sie ausschließlich auf der „Grundlage von Kostenschätzungen“ erfolgte,
wie die vormalige Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache 16/9018
zu Frage 2f bekannte, was den Anforderungen des Grundrechts auf men-
schenwürdiges Existenzminimum offenkundig nicht genügt;

b) „durch die Ergebnisse der Verhandlungen zu Asyl und Zuwanderung vom
6. Dezember 1992 u. a. vorgegeben [war], dass der Mindestunterhalt wäh-
rend des Asylverfahrens deutlich abgesenkt zu den Leistungen nach dem
damaligen Bundessozialhilfegesetz bestimmt werden sollte“, wie die vor-
malige Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache 16/9018 zu Frage 2f

bekannte, was aber bedeutet, dass die Höhe der Grundleistungen vor allem
politischen Vorgaben und nicht etwa einer realen Bedarfsermittlung folgte?

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9. Inwieweit ist die Bestimmung des Existenzminimums für Kinder von Leis-
tungsberechtigten nach dem AsylbLG verfassungswidrig, weil diese Sätze
offenkundig ebenfalls freihändig geschätzt und nicht im Hinblick auf einen
realen kinderspezifischen Bedarf (auch in Bezug auf Bildung und Schule)
ermittelt wurden?

10. Inwieweit ist eine Abweichung beim gewährten Existenzminimum bei Kin-
dern von Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG gegenüber anderen Kin-
dern verfassungsrechtlich und sachlich begründbar vor dem Hintergrund,
dass nicht ersichtlich ist, welche konkreten kindspezifischen Bedarfe Kinder
von Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG im Gegensatz zu anderen hier
lebenden Kindern von Leistungsberechtigten nach SGB II oder SGB XII
– zumal über einen Zeitraum von vier Jahren hinweg – nicht haben sollen
(bitte gegebenenfalls beispielhaft einzelne abweichende Bedarfe benennen)?

11. Inwieweit ist eine Abweichung beim gewährten Existenzminimum bei Neu-
geborenen und bis zu vierjährigen Kindern von Leistungsberechtigten nach
dem AsylbLG gegenüber anderen Babys und Kleinkindern verfassungs-
rechtlich und sachlich begründbar vor dem Hintergrund, dass nicht ersicht-
lich ist, welche konkreten kindspezifischen Bedarfe diese Kinder von Leis-
tungsberechtigten nach dem AsylbLG im Gegensatz zu anderen hier gebore-
nen und aufwachsenden Kindern von Leistungsberechtigten nach SGB II
oder SGB XII nicht haben sollen (bitte gegebenenfalls beispielhaft einzelne
abweichende Bedarfe benennen, benötigen Kinder von Asylsuchenden z. B.
andere oder weniger Windeln)?

12. Auf welches Berechnungsverfahren und welche verlässlichen Zahlen hat
sich der Gesetzgeber gestützt, als im Jahr 1993 festgelegt wurde, dass ge-
kürzte Leistungen nach dem AsylbLG jedenfalls für ein Jahr zumutbar seien,
weil erst danach von sozialen Integrationsbedürfnissen auszugehen sei (vgl.
Bundestagsdrucksache 12/5008, S. 15), und auf welchen tatsächlichen
Bedarf bzw. welche Abschläge vom üblichen Bedarf wurde dabei konkret
abgestellt?

13. Auf welches Berechnungsverfahren und welche verlässlichen Zahlen hat
sich der Gesetzgeber gestützt, als im Jahr 1997 festgelegt wurde, dass ge-
kürzte Leistungen nach dem AsylbLG jedenfalls für drei Jahre zumutbar
seien, weil erst danach von sozialen Integrationsbedürfnissen auszugehen
sei (Bundestagsdrucksache 13/2746, S. 15), und auf welchen tatsächlichen
Bedarf bzw. welche Abschläge vom üblichen Bedarf wurde dabei konkret
abgestellt?

14. Auf welches Berechnungsverfahren und welche verlässlichen Zahlen hat
sich der Gesetzgeber gestützt, als im Jahr 2007 festgelegt wurde, dass ge-
kürzte Leistungen nach dem AsylbLG jedenfalls für vier Jahre zumutbar
seien, weil erst danach von sozialen Integrationsbedürfnissen auszugehen
sei (Bundestagsdrucksache 16/5065, S. 232), und auf welchen tatsächlichen
Bedarf bzw. welche Abschläge vom üblichen Bedarf wurde dabei konkret
abgestellt?

15. Inwieweit ist die von der vormaligen Bundesregierung auf Bundestags-
drucksache 16/9018 zu Frage 6a bzw. 6b gegebene, völlig unkonkrete Ant-
wort, bei der Bestimmung und Verlängerung des Zeitraums abgesenkter
Leistungen (von einem auf vier Jahre) sei die „Zumutbarkeit der Dauer eines
Ausschlusses von der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben unter Berück-
sichtigung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein
mit den Erfahrungen bei der Anwendung des AsylbLG sowie im Hinblick
auf noch nicht verfestigte Aufenthaltsrechte der Betroffenen abgewogen“
worden, mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen einer realitätsnahen

und nachvollziehbaren Bedarfsermittlung vereinbar, insbesondere was die

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offenkundig willkürliche Festsetzung der jeweils geltenden Wartezeit anbe-
langt?

16. Wie lässt sich nach Auffassung der Bundesregierung begründen, dass Leis-
tungsberechtigte nach dem AsylbLG angeblich erst (und zwar genau) nach
vier Jahren soziale Integrationsbedürfnisse entwickeln (bei der Beantwor-
tung bitte darauf achten, dass nach der Rechtsprechung des BVerfG auf reale
Bedürfnisse abzustellen ist, die nachvollziehbar ermittelt werden müssen –
eine Antwort dergestalt, für einen solchen Zeitraum seien Einschränkungen
zumutbar, wäre hiermit unvereinbar)?

17. Inwieweit ist die ursprüngliche Gesetzesbegründung des AsylbLG, die auf
Asylsuchende, einen kurzen, vorübergehenden Aufenthalt und auf die Dauer
der Durchführung eines Asylverfahrens abstellte, heute überhaupt noch trag-
fähig, da

a) inzwischen nicht nur Asylsuchende, sondern z. B. auch Personen mit
einer Aufenthaltserlaubnis wegen eines Krieges oder wegen humanitärer,
rechtlicher oder tatsächlicher Abschiebungshindernisse auf das AsylbLG
verwiesen werden (vgl. § 1 AsylbLG; 1994 machten Asylsuchende noch
54 Prozent aller Berechtigten nach dem AsylbLG aus, 2006 waren es nur
noch 25 Prozent, vgl. Bundestagsdrucksache 16/9018, Frage 2a);

b) im Jahr 2006 fast 48 Prozent aller Leistungsberechtigten nach dem
AsylbLG Leistungen bereits seit mehr als drei Jahren erhielten, d. h. nicht
nur für einen kurzen, vorübergehenden Zeitraum, und nur knapp 22 Pro-
zent hingegen seit nicht einmal einem Jahr (vgl. Bundestagsdrucksache
16/9018, Frage 2a);

und welche Schlussfolgerungen ergeben sich nach Auffassung der Bundes-
regierung hieraus?

18. Welche Bedarfe/Posten/Güter haben Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG
gegenüber solchen nach dem SGB II nicht (bitte konkret und einzeln benen-
nen, gegebenenfalls auch nach Dauer des Aufenthalts differenzieren, falls
dies für erforderlich gehalten wird), bzw. welche spezifischen Bedarfe
haben Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG in welchem Umfang – und
falls die Bundesregierung hierauf nicht antworten kann oder will, wie will
sie das Existenzminimum von Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG
verfassungsgemäß bestimmen?

19. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung daraus, dass nach
dem BVerfG „auf geschätzte Abschläge insoweit zu verzichten“ ist, wenn
„keine ausreichende Datengrundlage“ für eine nachvollziehbare Berech-
nung solcher Abschläge (gegenüber einer empirisch nachvollziehbar ermit-
telten Bezugsgröße) vorhanden ist (Rn. 176) – insbesondere im Hinblick
darauf, dass das gesamte AsylbLG auf solchen verfassungswidrigen
„feihändigen Schätzungen“ und Abschlägen vom sonst üblichen Sozialhil-
fesatz beruht?

20. Inwieweit wurden oder werden bei der Ermittlung des Existenzminimums
besondere Bedarfe von Personen nach dem AsylbLG berücksichtigt (z. B.
Anwaltskosten, Kosten zur Aufrechterhaltung von Kontakten ins Herkunfts-
land, z. B. zur Beweisbeschaffung, aber auch zur Pflege familiärer Bindun-
gen)?

21. Inwieweit ist die Regelung nach § 3 Absatz 3 AsylbLG, wonach die Bedarfs-
sätze jeweils zum 1. Januar eines Jahres durch das Bundesministerium für
Arbeit und Soziales im Einvernehmen mit dem Bundesministerium des
Innern und dem Bundesministerium der Finanzen und mit Zustimmung des

Bundesrates festgesetzt werden sollen, wenn und soweit dies angesichts der
realen Lebenshaltungskosten erforderlich ist, mit dem Urteil vom 9. Februar

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/745

2010 vereinbar, in dem im Hinblick auf das Grundrecht auf ein menschen-
würdiges Existenzminimum ein Anpassungsmechanismus gefordert wird,
der einer fortwährenden Überprüfung und Weiterentwicklung der festge-
setzten Leistungen bei sich ändernden wirtschaftlichen Rahmenbedingun-
gen genügt (Rn. 214 des Urteils), und welche Änderungen plant die Bundes-
regierung diesbezüglich;

a) falls die Bundesregierung die oben benannte, geltende Regelung zur
Anpassung der Bedarfssätze nach dem AsylbLG für verfassungsgemäß
hält, wie ist dies damit vereinbar, dass diese Bestimmung seit 1993
niemals angewandt wurde, obwohl die allgemeinen Verbraucherpreise
alleine von 1994 bis 2007 um 22 Prozent gestiegen sind (Bundestags-
drucksache 16/9018, Frage 2f) und deshalb offenkundig auch von einem
gestiegenen Bedarf bei Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG ausge-
gangen werden muss, wenn auch womöglich in einem leicht anderen Um-
fang (das BVerfG hat in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 ausgeführt,
dass „allgemeine Preissteigerungen bei den Gütern und Dienstleistun-
gen“ auch „dazu führen, dass die Kosten des untersten Quintils der Ein-
kommensbezieher zur Abdeckung ihres Existenzminimums steigen“
(Rn. 186);

b) falls die Bundesregierung die geltende Regelung zur Anpassung der
Bedarfssätze nach dem AsylbLG für verfassungsgemäß hält, wie ist dies
damit vereinbar, dass das Bundesverfassungsgericht die Orientierung am
aktuellen Rentenwert als verfassungswidrig bezeichnet hat, weil dieser
zur „realitätsgerechten Fortschreibung des Existenzminimums nicht
tauglich“ sei (Rn. 184), und inwieweit hält sie den übereinstimmenden
politischen Willen zur Leistungserhöhung seitens dreier Bundesministe-
rien und des Bundesrates – der sich in 13 Jahren niemals eingestellt hat –
für ein geeignetes Mittel, um die reale Bedarfsentwicklung bezüglich des
Existenzminimums feststellen und/oder hierauf reagieren zu können
(bitte begründen);

c) stimmt die Bundesregierung der Auffassung zu, dass das Argument,
durch die Sachleistungsgewährung käme es bei der aktuellen Bedarfs-
ermittlung im Bereich des AsylbLG auf allgemeine Preissteigerungen
nicht oder nicht wesentlich an, unzulässig ist vor dem Hintergrund, dass
z. B. im Jahr 2006 mehr Leistungen nach dem AsylbLG in Bargeldform
erbracht wurden als in Sachleistungs- oder Wertgutscheinform (vgl. Bun-
destagsdrucksache 16/9018, Tabelle in Anhang 5), und wenn nein, bitte
auch im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Anforderung eines reali-
tätsnahen und nachvollziehbaren Bedarfsberechnungsverfahrens begrün-
den;

d) wie haben sich die Lebenshaltungskosten im Zeitraum 1994 bis heute ent-
wickelt, und welche genaueren Spezifizierungen liegen vor zu Preisent-
wicklungen insbesondere beim Verbraucherverhalten des unteren Quin-
tils der Einkommensbezieher oder zu Verbrauchsgütern, die typischer-
weise von Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG benötigt werden?

22. Inwieweit ist die ursprüngliche Gesetzesbegründung, wonach bei Leistungs-
berechtigten nach dem AsylbLG von einem „kurzen vorübergehenden Auf-
enthalt ausgegangen“ werden könne und deshalb Leistungen zur „sozialen
Integration“ nicht gewährt werden müssten (vgl. Bundestagsdrucksache
16/9018, Vorbemerkung der Bundesregierung), verfassungsgemäß und
vereinbar

a) mit dem Urteil des Verfassungsgerichts vom 9. Februar 2010, das eine
konkrete, realitätsnahe und nachvollziehbare Berechnungsmethode ein-

fordert und solche bloßen Annahmen ins Blaue hinein nicht zulässt;

Drucksache 17/745 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

b) mit dem Umstand, dass von einem nur kurzen vorübergehenden Aufent-
halt angesichts der inzwischen vorgesehenen vierjährigen Frist, innerhalb
derer grundsätzlich nur gekürzte Leistungen zu gewähren sind, nicht die
Rede sein kann;

c) mit dem Umstand, dass mittlerweile sogar Personen mit einer Aufent-
haltserlaubnis aus humanitären, rechtlichen oder tatsächlichen Gründen
dem AsylbLG zugeordnet werden, bei denen nicht von einem nur kurzen,
vorübergehenden Aufenthalt ausgegangen werden kann?

23. Wie bewertet es die Bundesregierung und welche Schlussfolgerungen zieht
sie daraus, dass mittlerweile ein hoher Prozentsatz von Asylsuchenden aner-
kannt wird (2009 erhielten über ein Drittel aller Asylsuchenden einen
Schutzstatus durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2008
waren es sogar fast 38 Prozent, hinzu kommen Anerkennungen durch die
Gerichte) und dass auch vielen abgelehnten Asylsuchenden später noch ein
dauerhaftes Aufenthaltsrecht zugestanden wird und dass die Missachtung
von sozialen Integrationsbedürfnissen in diesen Fällen bis zu vier Jahre oder
sogar darüber hinaus, im Falle eines späteren Bleiberechts eine – gesamtge-
sellschaftlich betrachtet – extrem kontraproduktive und für die Betroffenen
besonders ausgrenzende, dequalifizierende und demotivierende Wirkung
hat?

24. Inwieweit ist die Begründung zur Einschränkung des nach dem AsylbLG ge-
währten Existenzminimums, es solle kein Anreiz geschaffen werden, „aus
wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland zu kommen“ (Bundestags-
drucksache 12/5008, S. 2), nach Auffassung der Bundesregierung mit dem
absolut und uneingeschränkt geltenden Grundrecht auf ein menschen-
würdiges Existenzminimum vereinbar, d. h. inwieweit sind einwanderungs-
politische Überlegungen bei der Konkretisierung des Grundrechts auf ein
menschenwürdiges Existenzminimum überhaupt zulässig?

25. Inwieweit ist das Anknüpfen an die Dauer des Leistungsbezugs – und nicht
an der Dauer des Aufenthalts – in § 2 AsylbLG bei der Frage, ob höhere Leis-
tungen nach vier Jahren gewährt werden (vgl. auch Bundestagsdrucksache
16/9018, Frage 7), mit dem Urteil vom 9. Februar 2010 vereinbar, insofern
sich die realen Bedürfnisse, an denen nachvollziehbar anzuknüpfen ist,
wenn überhaupt, dann entsprechend der Dauer des Aufenthalts und nicht
nach der Dauer des Bezugs von Leistungen verändern?

Berlin, den 17. Februar 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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