BT-Drucksache 17/7373

50 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen - Assoziationsrecht wirksam umsetzen

Vom 19. Oktober 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7373
17. Wahlperiode 19. 10. 2011

Antrag
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, Ulla Jelpke,
Kornelia Möller, Petra Pau, Jens Petermann, Raju Sharma, Frank Tempel, Halina
Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

50 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen – Assoziationsrecht wirksam
umsetzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der 50. Jahrestag der Unterzeichnung des deutsch-türkischen Anwerbe-
abkommens bietet dem Deutschen Bundestag die Gelegenheit, allen im Zuge
der so genannten Gastarbeiter-Anwerbung in die Bundesrepublik Deutsch-
land eingewanderten Menschen Anerkennung und Dank auszusprechen: Für
ihre Bereitschaft, nicht einmal zwei Jahrzehnte nach Beendigung des Zwei-
ten Weltkriegs nach Deutschland zu kommen, für ihren individuellen Wage-
mut und ihre Neugierde, sich auf Neues und Ungewohntes einzulassen, für
ihr Sich-Einbringen in die hiesige Gesellschaft und ihre Entscheidung, ihr
weiteres Leben in Deutschland zu verbringen und die Zukunft ihrer Kinder in
Deutschland zu sehen und natürlich auch für ihre geleistete Arbeit, die nicht
unwesentlich zum wirtschaftlichen Wachstum der 60er- und 70er-Jahre in
Deutschland beigetragen hat.

2. Die Geschichte der „Gastarbeiteranwerbung“ zeigt, dass die aktuell verbrei-
tete Ansicht, die Bundesrepublik Deutschland habe in der Vergangenheit eine
„ungesteuerte“ Einwanderung „erlitten“, völlig falsch ist. Das Gegenteil trifft
zu: Deutschland hat gezielt vor allem unqualifizierte Arbeitskräfte für ein-
fache und körperlich anstrengende Tätigkeiten angeworben und hiervon
enorm profitiert. Die Mehrheit der angeworbenen Menschen kehrte wieder in
ihre Herkunftsländer zurück, viele Migrantinnen und Migranten blieben
jedoch in Deutschland, nicht zuletzt, weil die betroffenen Unternehmen auf
die eingearbeiteten und verlässlichen Arbeitskräfte nicht verzichten wollten.

3. Die Geschichte der „Gastarbeitereinwanderung“ ist auch geprägt von einer
auf Ausgrenzung basierenden, restriktiven „Ausländerpolitik“ und der Ver-
weigerung von Rechten. Jahrzehntelang basierte die offizielle Politik der
Bundesregierung darauf, die Situation einer dauerhaften Einwanderung zu
leugnen und den Betroffenen politische und soziale Rechte zu verweigern:
Statt Integrationshilfen oder Sprachkursangebote gab es staatliche Anreize

zur Rückkehr und Ausweisungsdrohungen. Selbst nachdem klar war, dass
viele Betroffene entgegen der ursprünglichen Annahme Deutschland nicht
wieder verlassen würden und dass sich deren Ausreise aufgrund grundrecht-
licher und rechtsstaatlicher Verpflichtungen auch nicht erzwingen ließe, gab
es keinerlei staatliche Initiativen, um die Bildungs- und soziale Lebenssitua-
tion von Migrantinnen und Migranten gezielt zu verbessern. Defizite, die

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heute beklagt werden, lassen sich weitgehend mit dieser jahrzehntelangen
Politik der Ausgrenzung und Abwehr erklären. Die ins Land geholten Men-
schen wurden seitens der Regierungen nicht als ein Teil der Bevölkerung mit
gleichen Rechten und Pflichten betrachtet, sondern lediglich als nützliche
Arbeitskräfte, derer man sich wieder entledigt, wenn sie zur Last zu fallen
drohen.

4. Der Bundestag betont vor dem Hintergrund dieser Geschichte, dass in der
Einwanderungspolitik die Menschenrechte und eine Politik der Gleichbe-
handlung entscheidende Bedeutung haben müssen und nicht das wirtschaft-
lich-nationalstaatliche Interesse an einer Profitmaximierung durch gezielte
Einwanderung der vermeintlich „Nützlichen“. In der aktuellen Debatte
dominiert jedoch ein instrumenteller Blick, sowohl bei der Anwerbung
Hochqualifizierter als auch bei Modellen einer lediglich „zirkulären Migra-
tion“ vor allem gering Qualifizierter. Auch in den Bereichen der humanitären
und familiären Einwanderung kommen zunehmend Nützlichkeitskriterien
zur Anwendung, etwa bei der Beschränkung des Ehegattennachzugs durch
Sprachanforderungen im Ausland, die vor allem sozial ausgegrenzte Per-
sonen trifft, oder bei der Gewährung eines Bleiberechts nach jahrzehnte-
langem geduldeten Aufenthalt nur bei eigenständiger Lebensunterhaltssiche-
rung, was wiederum sozial benachteiligte Personen, aber auch psychisch und
physisch Kranke und alte Menschen ausschließt.

5. Migrantinnen und Migranten, vor allem soweit sie (noch) nicht die deutsche
Staatsangehörigkeit erworben haben, werden eine Gleichbehandlung und
zahlreiche grundlegende Rechte verweigert, etwa das Wahlrecht, die freie
Berufswahl oder ein uneingeschränktes Recht auf Familienzusammenleben.
Der Bundestag sieht hierin einen dringenden politischen und rechtlichen
Handlungsbedarf und kritisiert anlässlich des 50. Jahrestages des deutsch-
türkischen Anwerbeabkommens insbesondere, dass im Umgang mit türki-
schen Staatsangehörigen auch verbindliches europäisches Recht missachtet
wird. Zahlreiche Gesetzesverschärfungen der letzten Jahre verstoßen gegen
die so genannten Verschlechterungsverbote des EWG-Türkei-Assoziations-
rechts in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof und sind des-
halb auf türkische Staatsangehörige nicht anwendbar – was von der Bundes-
regierung jedoch noch weitgehend geleugnet wird.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. den 50. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens zum Anlass
zu nehmen, ihre bisherige restriktive Einwanderungspolitik grundsätzlich zu
ändern und sich im Umgang mit der eingewanderten Bevölkerung, ihren
Nachkommen und künftiger Einwanderung vor allem von dem Grundsatz
der Gleichbehandlung und den Menschenrechten leiten zu lassen. Dies er-
fordert unter anderem erleichterte Einbürgerungen, ein Wahlrecht auf allen
Ebenen und die Rücknahme von Gesetzesverschärfungen der letzten Jahre;

2. die Verschlechterungsverbote im Assoziationsrecht EWG-Türkei entspre-
chend der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs umfassend umzu-
setzen und gesetzlich zu verankern, was – jedenfalls in Bezug auf türkische
Staatsangehörige – beispielhaft erfordert:

2.1 die Rücknahme der seit August 2007 geltenden Regelung der Sprach-
nachweise im Ausland als Voraussetzung für den Ehegattennachzug,

2.2 die Rücknahme der seit Juli 2011 geltenden Regelung, wonach eine län-
gerfristige Aufenthaltserlaubnis nur nach Vorlage eines bestandenen
Sprachtests über das Niveau B1 GER erteilt werden darf,

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2.3 die Rücknahme der seit Juli 2011 geltenden Verlängerung der Dauer der
Mindestehebestandszeit zur Erlangung eines eigenständigen Aufent-
haltsrechts von zwei auf drei Jahre,

2.4 die Ermöglichung einer weitgehend visumfreien Einreise, jedenfalls
auch zu touristischen und familiären Besuchen im Rahmen der passiven
Dienstleistungsfreiheit,

2.5 eine erhebliche Reduzierung der Gebühren für die Erteilung und Verlän-
gerung von Aufenthaltstiteln auf das Niveau von 1980,

2.6 die Gewährleistung eines erhöhten Schutzes vor Ausweisungen, ver-
gleichbar den Regelungen für Unionsangehörige,

2.7 einen systematischen Günstigkeitsvergleich der heutigen gesetzlichen
Aufenthalts- und Beschäftigungsregelungen mit den Regelungen, die
seit Inkrafttreten der Standstill-Klauseln des Assoziationsrechts bestan-
den haben, um weiteren Änderungsbedarf erkennen zu können.

Berlin, den 19. Oktober 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Das Assoziationsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemein-
schaft und der Türkei aus dem Jahr 1963 sieht für türkische Staatsangehörige
konkrete Beschäftigungs- und Aufenthaltsrechte sowie ein allgemeines Diskri-
minierungsverbot vor. Durch das Zusatzprotokoll zum Abkommen von 1970
und durch Beschlüsse des Assoziationsrats aus den Jahren 1976 und 1980 gel-
ten darüber hinaus so genannte Verschlechterungsverbote (Standstill-Klauseln).
Bei der Niederlassungsfreiheit und im freien Dienstleistungsverkehr, aber auch
beim Zugang zum Arbeitsmarkt und hiermit zusammenhängenden Aufenthalts-
rechten, dürfen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) deshalb tür-
kischen Staatsangehörigen keine neuen Beschränkungen auferlegen. Dieses
Verschlechterungsverbot gilt nach der Rechtsprechung des Europäischen Ge-
richtshofs (EuGH) unmittelbar und geht nationalem Recht und Richtlinien und
Verordnungen der EU vor. Zudem gilt ein „Günstigkeitsprinzip“, d. h. auch
zwischenzeitlich eingeführte rechtliche Vergünstigungen dürfen nicht mehr
wieder zurückgenommen werden, um das Ziel des Abkommens einer schritt-
weisen Annäherung der Türkei an die EU bzw. der Rechte türkischer Staats-
angehöriger an diejenigen von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern nicht zu
gefährden.

Die beispielhaft geforderten Gesetzesänderungen ergeben sich zwingend aus
diesem Assoziationsrecht, wie nicht zuletzt eine Ausarbeitung des Wissen-
schaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages vom 21. Juni 2011 unter Be-
zugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH und die vorliegende Fachliteratur
bestätigt hat („Anwendungsbereiche und Auswirkungen der Stillhalteklausel
im Assoziationsrecht der EU mit der Türkei“, WD 3 – 3000 – 188/11). Dem
widersprechende Ausführungen und Rechtsauffassungen der Bundesregierung,
wie sie in den Antworten auf zahlreiche Kleine Anfragen der Fraktion DIE
LINKE. zu diesem Thema nachzulesen sind (vgl. beispielhaft die Bundestags-
drucksachen 17/6970, 17/5884, 17/5732 zu den Fragen 17 bis 19, Bundestags-
drucksache 17/5693 zu Frage 26, Bundestagsdrucksachen 17/5684, 17/4623,

17/413, 16/14028, 16/13327 und 16/12743), überzeugen nicht. Welche weite-

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ren Änderungen erforderlich sind, wird sich nach einem genauen Günstigkeits-
vergleich der Rechtsentwicklung und Verordnungen seit 1973 ergeben, den die
Bundesregierung bislang aber nicht vorzunehmen bereit ist, weil dieser auf der
Grundlage allgemein zugänglicher Quellen möglich sei.

Hinsichtlich des Umfangs der Visumfreiheit für türkische Staatsangehörige
wird der EuGH aufgrund eines Vorlagebeschlusses des Oberverwaltungsge-
richts Berlin-Brandenburg entscheiden – mit dem absehbaren Ergebnis, dass
auch im Rahmen der passiven Dienstleistungsfreiheit türkische Staatsangehö-
rige kein Visum für Deutschland benötigen. Weitere Gesetzesänderungen zur
Beseitigung offenkundig assoziationsrechtswidriger Benachteiligungen sollten
erfolgen, ohne dass der EuGH zuvor stets in jedem Einzelfall und für jede
denkbare Konstellation entsprechende Entscheidungen treffen muss. Aus Grün-
den der Rechtsklarheit und Transparenz sowie zur effektiven Umsetzung ver-
bindlichen EU-Rechts ist eine gesetzliche Verankerung der konkreten Rechte
türkischer Staatsangehöriger im Aufenthaltsgesetz geboten. Die Bundesregie-
rung muss die Umsetzung der Verschlechterungsverbote dazu nutzen, um von
einer auf Restriktionen, Druck und Zwang setzenden Migrationspolitik abzu-
kehren und konsequent auf eine Politik gleicher Rechte für alle zu setzen. Da
sich viele der assoziationsrechtswidrigen gesetzlichen Verschärfungen der letz-
ten Jahre ausdrücklich oder unausgesprochen insbesondere gegen die Gruppe
der türkischen Einwanderinnen und Einwanderer richteten, sollten sie – auch
aus Gründen der Gleichbehandlung – insgesamt für alle Drittstaatsangehörigen
zurückgenommen werden.

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