BT-Drucksache 17/6991

Situation der subsaharischen Flüchtlinge in Libyen und Tunesien

Vom 14. September 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6991
17. Wahlperiode 14. 09. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan van Aken, Sevim Dag˘delen, Annette Groth,
Andrej Hunko, Wolfgang Neskovic, Petra Pau, Frank Tempel, Kathrin Vogler,
Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Situation der subsaharischen Flüchtlinge in Libyen und Tunesien

Angang September 2011 scheint der Machtkampf zwischen Muammar al-Gaddafi
und den Aufständischen weitgehend entschieden zu sein. Nach mehreren Mona-
ten erbitterter Auseinandersetzungen hat der von der NATO militärisch unter-
stützte Übergangsrat sich gegen Muammar al-Gaddafi und seine Anhänger
durchsetzen können, allerdings ohne dass damit eine Befriedung und Stabilisie-
rung der innenpolitischen Verhältnisse in Libyen einherginge. Dennoch kann
wohl davon ausgegangen werden, dass nun viele der libyschen Flüchtlinge aus
Tunesien nach Libyen zurückkehren werden.

Anders ist die Situation für Flüchtlinge aus den subsaharischen Staaten, die un-
ter anderem im tunesischen Auffanglager Shousha auf ihre Evakuierung hoffen.
Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) sucht für
diese ca. 6 000 Menschen weiterhin Staaten, die bereit sind, sie im Rahmen von
Resettlement(Neuansiedlungs)-Programmen aufzunehmen. Bislang gibt es ledig-
lich 900 Aufnahmezusagen, unter anderem von den USA, den Niederlanden und
Polen. Eine Eritreerin, die unter dem Pseudonym Selamawi im Internet ein
Tagebuch betreibt (www.selamawi2010.blogspot.com), beschreibt darin ein-
drücklich die katastrophalen und unmenschlichen Verhältnisse, unter denen die
subsaharischen Flüchtlinge zunächst in Libyen, dann in Tunesien leben müssen.
Sie sind der wesentliche Grund dafür, dass viele von ihnen weiterhin die lebens-
bedrohliche Flucht über das Mittelmeer versuchen, um nach Europa zu gelan-
gen. In einem Recherchebericht von borderline-europe – Menschenrechte ohne
Grenzen e. V. und Förderverein PRO ASYL e. V. über einen Besuch der Flücht-
lingslager an der libysch-tunesischen Grenze werden ebenfalls die lebensbedroh-
lichen Umstände in Shousha und anderen Camps geschildert (www.proasyl.de/
fileadmin/proasyl/fm_redakteure/Broschueren_pdf/2011_07_Fluechtlinge_
Fischer_Abgeschobene.pdf). Demnach gibt es in Shousha keine medizinische
Versorgung mehr, die lange Zeit des Wartens hat zu Spannungen innerhalb des
Camps und mit der tunesischen Bevölkerung gesorgt, der UNHCR scheint mit
seinen Kapazitäten am Ende zu sein. Zwischen der Registrierung der Asyl-
suchenden und einer Anhörung vergehen mittlerweile bis zu acht Monate. Der

UNHCR hat ein Abkommen über die Eröffnung eines Büros in Tunesien ge-
schlossen. Dies wird jedoch die Verfahren so lange nicht beschleunigen, wie
keine Aufnahmestaaten für die registrierten Asylsuchenden und Flüchtlinge zur
Verfügung stehen. Hilfsappelle des UNHCR an die EU verhallten weitgehend
ohne Resonanz. Auch die Bundesregierung hat sich in der Beantwortung pa-
rlamentarischer Anfragen ablehnend zu einer Aufnahme von Flüchtlingen ge-
äußert.

Drucksache 17/6991 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ weist in einer Pressemitteilung vom
30. August 2011 auf 1 200 subsaharische Flüchtlinge hin, die in und um Tripo-
lis in Verstecken ausharren, weil sie begründete Angst vor willkürlichen Über-
griffen haben. Die Organisation fordert deshalb unter anderem, den betroffenen
Menschen Zugang zu einem Asylverfahren in Europa zu gewährleisten. Auch
das internationale Rote Kreuz wies in einer Mitteilung (AFP, 29. August 2011,
19.35 Uhr) darauf hin, dass die Rebellen mehrere hundert Menschen in Ge-
wahrsam genommen hatten, darunter viele aus Subsahara-Afrika.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Flüchtlinge und Schutzsuchende befinden sich nach Kenntnis der
Bundesregierung derzeit in Libyen und Tunesien, die vom UNHCR regis-
triert worden sind?

2. Von welcher Anzahl Schutzsuchender, die noch kein Asylgesuch an den
UNHCR richten konnten, gehen der UNHCR bzw. die Bundesregierung
derzeit aus (bitte für Libyen und Tunesien angeben)?

3. Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung die Zahl von vom
UNHCR registrierten Flüchtlingen in beiden Staaten, die für ein Resettle-
ment vorgesehen sind?

4. Hat der UNHCR die Bundesregierung erneut um die Aufnahme einer be-
stimmten Gruppe oder Zahl von registrierten Flüchtlingen zur Aufnahme
gebeten, und was war die Reaktion der Bundesregierung?

5. Welche Staaten der EU haben nach Kenntnis der Bundesregierung in die-
sem Jahr in welchem Umfang vom UNHCR zum Resettlement vorgeschla-
gene Flüchtlinge aus Libyen und Tunesien aufgenommen?

6. Wie viele Schutzsuchende aus Ländern des subsaharischen Afrika haben
nach Kenntnis der Bundesregierung seit Beginn des Jahres die Flucht über
das Mittelmeer gewagt, und wie viele befinden sich derzeit zur Durchfüh-
rung eines Asylverfahrens in Italien oder Malta?

7. Wie viele Schutzsuchende sind nach ihrer Einreise nach Italien oder Malta
nach Deutschland weitergereist, um hier einen Antrag auf internationalen
Schutz zu stellen?

8. In wie vielen Fällen wurde an Malta bzw. Italien ein Übernahmeersuchen
für die in Frage 5 genannte Personengruppe gestellt, wie oft wurde dem
entsprochen, und wie viele Überstellungen erfolgten seit Beginn des Jahres
(falls die Bundesregierung über keine Angaben im exakten Sinne der
Fragestellung verfügt, bitte die entsprechenden Daten angeben für Schutz-
suchende mit somalischer, eritreischer, äthiopischer, sudanesischer,
tschadischer, nigerischer, malischer, pakistanischer Staatsangehörigkeit)?

9. Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung ergriffen, um den hilfs-
bedürftigen Flüchtlingen im Auffanglager in Shousha und ähnlichen Ein-
richtungen unmittelbar zu helfen und die humanitäre Notlage zu beenden,
soweit dies von anderer Seite ersichtlich nicht geleistet werden konnte?

10. Wie viele Mittel hat die Bundesregierung unmittelbar oder mittelbar (über
die EU oder internationale Organisationen) für die humanitäre Soforthilfe
in Libyen und Tunesien zur Verfügung gestellt, und aus welchen Gründen
erreicht diese Hilfe die besonders hilfsdürftigen nicht arabischen Flücht-
linge in der Region nach Ansicht der Bundesregierung nicht?

Wie wird sie gegebenenfalls Abhilfe schaffen?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/6991

11. Wie ist die Einschätzung der Bundesregierung zur Sicherheitslage nicht
arabischer Migrantinnen und Migranten sowie Schutzsuchender in Libyen
nach dem Sturz des Gaddafi-Regimes, und welche Konsequenzen ergeben
sich daraus?

12. Hat die Bundesregierung Kenntnis von der Gefangennahme mehrerer hun-
dert Menschen aus Subsahara-Staaten, was weiß sie über die Gründe ihrer
Inhaftierung, und welche Einschätzung hat sie allgemein zu Vorwürfen,
nicht arabisch aussehende Afrikaner seien in Libyen vor allem vonseiten
der Rebellen rassistischer Behandlung ausgesetzt?

Wird die Bundesregierung dieses Thema bei ihren Kontakten zum Über-
gangsrat ansprechen?

13. Hat die Bundesregierung Kenntnis von einem von Amnesty International
publik gemachten Fall am 21. August 2011, in dem die italienische Küsten-
wache bzw. die Guardia di Finanza ein Boot mit 110 Personen an Bord auf
hoher See abgefangen und nach Tunesien geschickt hat, und wie bewertet
sie diesen Fall vor dem Hintergrund des Gebots der Nichtzurückweisung
Schutzsuchender?

14. Hat die Bundesregierung Kenntnis über einen Zusammenhang dieser
„push-back“-Operation mit italienisch-tunesischen Vereinbarungen bezüg-
lich der Migrationskontrolle, und welche Inhalte haben diese Vereinbarun-
gen gegebenenfalls?

15. Besteht die Möglichkeit, dass im Rahmen der FRONTEX-Operation
„Hermes“ auch deutsche Kräfte an solchen „push-back“-Operationen be-
teiligt waren oder sind, und wie kann dies von der Bundesregierung ausge-
schlossen werden?

16. Ist die Operation „Hermes“ wie geplant am 31. August 2011 ausgelaufen,
bis wann wurde sie ggf. verlängert, und welche Ressourcen werden von der
Bundesregierung weiterhin zur Verfügung gehalten?

Aus welchen Gründen hat FRONTEX bislang nicht die von den Mitglied-
staaten angebotenen Ressourcen abgerufen?

17. Wie weit sind nach Kenntnis der Bundesregierung die Verhandlungen von
FRONTEX mit welchen tunesischen Behörden über ein Kooperationsab-
kommen gediehen, und wie wurden die allgemeinen strategischen Ziele
solcher FRONTEX-Arbeitsabkommen konkret umgesetzt?

18. Welche weiteren Verabredungen oder Vereinbarungen sind im Bereich
Asyl, Migration, Visaerteilung und Grenzkontrollen zwischen der EU und
der tunesischen Regierung oder tunesischen Behörden avisiert bzw. bereits
getroffen worden, und was ist der deutsche Beitrag hierzu?

19. Welche Schritte zur Zusammenarbeit im Bereich der Migration und Migra-
tionskontrolle sind auf nationaler bzw. europäischer Ebene mit der neuen
libyschen Regierung angestrebt, und welche Rolle spielte in den bisherigen
Gesprächen mit dem Übergangsrat bzw. der neuen libyschen Regierung der
Umgang mit Schutzsuchenden?

Berlin, den 9. September 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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