BT-Drucksache 17/6777

Niedriglöhne in der Call-Center-Branche und das gescheiterte Mindestlohnverfahren

Vom 3. August 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6777
17. Wahlperiode 03. 08. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Diana Golze,
Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich, Werner Dreibus, Klaus Ernst, Katja
Kipping, Cornelia Möhring, Kornelia Möller, Ingrid Remmers, Jörn Wunderlich
und der Fraktion DIE LINKE.

Niedriglöhne in der Call-Center-Branche und das gescheiterte
Mindestlohnverfahren

In der Call-Center-Branche arbeiten viele Beschäftigte zu Niedriglöhnen. Nach
einer im Februar 2011 vorgestellten ver.di-Umfrage halten drei von vier be-
fragten Call-Center-Beschäftigten die derzeitigen Entlohnungsbedingungen für
nicht angemessen. Viele Betroffene würden einen Zweitjob benötigen und „Auf-
stocker“, die am Ende des Monats zusätzlich staatliche Leistungen nach Hartz IV
beantragen müssten, seien in Call-Centern keine Seltenheit.

Der Steuerzahler stockt diese Armutslöhne auf und subventioniert sie im Rah-
men der Wirtschaftsförderung mit Beträgen in Höhe von mehreren Millionen
Euro. Das haben die Antworten der Bundesregierung auf verschiedene Kleine
Anfragen der Fraktion DIE LINKE. ergeben (Bundestagsdrucksache 17/3319,
16/12187).

Am 7. Juli 2011 entschied der Hauptausschuss für Mindestarbeitsentgelte, dass
in der Call-Center-Branche keine „sozialen Verwerfungen“ festgestellt werden
könnten und lehnte einen nach dem Gesetz über die Festsetzung von Mindest-
arbeitsbedingungen (MiArbG) beantragten Mindestlohn ab. Das Problem der
Niedriglöhne in dieser Branche bleibt, ein möglicher Branchenmindestlohn auf
Grundlage eines Tarifvertrages wird von den Gewerkschaften weiter angestrebt.
Offen ist, wie die Bundesregierung das gescheiterte Mindestlohnverfahren be-
wertet, wo sie Probleme in der Branche sieht und welchen Beitrag sie für bessere
Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen in der Call-Center-Branche leisten will.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wann ist die Bundesregierung über das gescheiterte Mindestlohnverfahren in
der Call-Center-Branche informiert worden, und wie bewertet sie das Ergeb-
nis des Hauptausschusses?

2. Wie lautet die genaue Begründung des Hauptausschusses dafür, dass sich in
der Call-Center-Branche die nach dem MiArbG verlangten „sozialen Verwer-

fungen“ nicht feststellen lassen?

Auf welches statistische Material hat der Hauptausschuss zurückgegriffen?

Was sind dessen Ergebnisse?

3. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung bzw. der Hauptausschuss da-
rüber, dass die Gewerkschaften eine tarifvertragliche Branchenmindestlohn-
lösung anstreben?

Drucksache 17/6777 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

4. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung bzw. der Hauptausschuss
darüber, dass Arbeitgeber sich zu einem tariffähigen Verband zusammenfin-
den wollen?

Wann soll dies gegebenenfalls geschehen?

5. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Tarifbindung in der
Call-Center-Branche?

6. In welchen Firmen der Call-Center-Branche gibt es Tarifverträge (bitte mit
vertragsschließender Gewerkschaft nennen)?

7. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Mindestlohnum-
frage des Call Center Verband Deutschland e. V. (CCV), und wie sehen
deren konkrete Ergebnisse aus?

8. Wie viel Prozent der Beschäftigten in der Call-Center-Branche repräsentie-
ren die Mitgliedsfirmen des CCV?

9. Wie beurteilt die Bundesregierung die Chancen dafür, dass es noch in dieser
Wahlperiode zu einem Branchenmindestlohn auf Grundlage eines Tarifver-
trages kommt?

Welche Voraussetzungen müssen dafür gegeben sein?

10. Inwiefern sieht die Bundesregierung die Politik in der Pflicht, Druck auf die
Arbeitgeber auszuüben, angesichts dessen, dass die Beschäftigten in der
Branche unter den Niedriglöhnen leiden und der Steuerzahler, die Gesell-
schaft die Armutslöhne mit Millionen Euro aufstocken und wirtschaftlich
fördern?

Welche Initiativen will die Bundesregierung hier ergreifen?

11. Wie hat sich die Zahl der Beschäftigten in der Call-Center-Branche seit
2009 entwickelt, und wie demgegenüber die Zahl der Beschäftigten in der
Gesamtwirtschaft (bitte gesamt sowie nach sozialversicherungspflichtiger
Vollzeit, Teilzeit sowie geringfügiger Beschäftigung)?

12. Wie haben sich die Zahl und der Anteil der Beschäftigten in der Call-Center-
Branche seit 2005 nach Geschlecht entwickelt?

13. Wie hat sich die Zahl der Beschäftigten in der Call-Center-Branche seit
2005 nach Bundesländern entwickelt?

14. Wie bewertet die Bundesregierung die Ergebnisse des Gesundheitsreports
2011 der Techniker Krankenkasse, wonach

– der Krankenstand unter Call-Center-Beschäftigen entgegen dem allge-
meinen Trend gestiegen ist,

– mit 6,4 Prozent deutlich über dem Bundesdurchschnitt von 3,36 Prozent
liegt und

– bei den Telefonisten viele gesundheitliche Belastungen zusammenkom-
men, nämlich neben der psychischen Belastung durch unzufriedene
Kunden oder ehrgeizige Zielvorgaben, auch Schichtdienst, die einseitige
körperliche Belastung durch langes Sitzen und das Sprechen, die Ge-
sundheit belasten können?

Welchen speziellen Handlungsauftrag für die Politik leitet sie daraus ab?

15. Wie wichtig sind nach Ansicht der Bundesregierung Betriebsräte für die
Durchsetzung von Arbeitsschutzstandards?

16. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Verbreitung von
Betriebsräten in der Call-Center-Branche, und ist ihr bekannt, inwiefern Ar-

beitgeber die Gründung oder Arbeit von Betriebsräten ver- oder behindern?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/6777

17. Wie hoch sind die absolute Zahl und der relative Anteil der Niedriglohn-
beschäftigten in der Call-Center-Branche und im Vergleich dazu in der Ge-
samtwirtschaft (bitte – soweit möglich – sowohl auf Basis des Stundenlohns
als auch des Monatseinkommens angeben)?

18. Wie hoch sind die absolute Zahl und der relative Anteil der Niedriglohn-
beschäftigten in der Call-Center-Branche nach Bundesländern?

19. Wie haben sich seit 2009 in der Call-Center-Branche die Zahl und der Anteil
der sogenannten Aufstocker (Erwerbstätige mit Bezug von Arbeitslosen-
geld II) entwickelt (bitte absolut und relativ auch nach den verschiedenen
Beschäftigungsformen differenzieren und entsprechende gesamtwirtschaft-
liche Vergleichszahlen nennen)?

20. Wie hoch sind die Ausgaben, die für aufstockende Leistungen nach dem
Zweiten Buch Sozialgesetzbuch an Erwerbstätige in der Call-Center-Branche
geleistet werden (bitte die Gesamtkosten aufführen und den durchschnittlich
gezahlten Betrag je Erwerbstätigen/Bedarfsgemeinschaft und dafür entspre-
chende volkswirtschaftliche Vergleichszahlen nennen)?

21. Wie viele Niedriglöhner bzw. Beschäftigte in der Call-Center-Branche wür-
den von einem gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro profitieren (bitte ne-
ben der absoluten Zahl auch den relativen Anteil der Betroffenen angeben)?

22. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Lohnspreizung in
der Call-Center-Branche (bitte entsprechendes Zahlenmaterial nennen und
zur Not auch auf die letzte Verdienststrukturerhebung 2006 zurückgreifen)?

23. Wie haben sich die Umsätze und Gewinne in der Call-Center-Branche seit
2009 entwickelt?

Welche statistischen Daten, welche Branchenanalysen und Firmenumfragen
sind dazu verfügbar?

24. In welchem Umfang haben Unternehmen der Call-Center-Branche seit 2008
Leistungen der Arbeitsförderung erhalten, und wie viele Beschäftigte waren
davon betroffen (bitte jeweils für die einzelnen Jahre aufzählen)?

25. In welchem Ausmaß sind 2010 Unternehmen der Call-Center-Branche
durch verschiedene Instrumente der Wirtschaftsförderung subventioniert
worden (bitte auch nach Bundesländern aufgliedern)?

26. Wie stark werden Unternehmen der Call-Center-Branche durch Wirt-
schaftshilfen/Subventionen gefördert, und wie stark ist die Förderintensität
in der übrigen Wirtschaft?

27. Welche 20 Call-Center-Unternehmen haben in den letzten fünf Jahren aus
den Mitteln der Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirt-
schaftsstruktur die meisten Fördergelder erhalten (bitte Förderzeitraum,
Vorhaben und Fördersumme nennen)?

Wie viel Geld haben die jeweiligen Unternehmen bekommen?

Gibt es in diesen Unternehmen Tarifverträge?

28. Gibt es Call-Center-Unternehmen, die im öffentlichen Besitz sind oder
Tochterfirmen öffentlicher Unternehmen sind?

Wenn ja, welche, wie viele sind das, und wie viele Beschäftigte arbeiten
dort?

Nach welchen Tarifverträgen wird dort bezahlt (bitte auf die Frage eingehen
und nicht wie in der letzten Kleinen Anfrage nur bejahen, dass Leistungen
von Call-Center-Firmen „auch bei Großunternehmen mit Bundesbeteiligung

nachgefragt“ werden, Bundestagsdrucksache 17/3319, Antwort zu Frage 25)?

Drucksache 17/6777 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
29. In welchem Umfang nehmen Bundesministerien, -behörden und nachran-
gige Einrichtungen die Leistungen externer Call-Center-Firmen wahr, und
kann die Bundesregierung sicherstellen, dass in diesen Firmen nach Tarif-
verträgen bezahlt wird?

Wenn ja, nach welchen, und wenn nein, warum nicht?

30. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Tätigkeit von Finanz-
investoren in der Call-Center-Branche?

31. Inwiefern hält die Bundesregierung die derzeitige statistische Erfassung der
Call-Center-Branche für repräsentativ vor dem Hintergrund, dass laut dem
Call Center Verband Deutschland e. V. in der Branche 2009 etwa 500 000
Menschen arbeiten, die Wirtschaftsklassifikation des Statistischen Bundes-
amtes (WZ 2008) für die Wirtschaftsklasse Call-Center in diesem Jahr mit
rund 93 000 Beschäftigten auswies?

32. Wie erklärt und bewertet die Bundesregierung den Umstand, dass von den
zehn größten Call-Centern in Deutschland (CallCenterProfi-Ranking nach
Nettoroheinkommen) sechs Unternehmen gar nicht im Bereich der Call-
Center erfasst werden (WZ 2008 82 200 Callcenter) und die verbleibenden
vier nur zum Teil?

33. Plant die Bundesregierung, die statistische Erfassung der Call-Center-
Branche zu verbessern, und wenn ja, mit welchem Ziel, und wenn nein,
warum nicht?

Berlin, den 3. August 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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