BT-Drucksache 17/6351

Ressortübergreifende Friedens- und Sicherheitsstrategie entwickeln

Vom 29. Juni 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6351
17. Wahlperiode 29. 06. 2011

Antrag
der Abgeordneten Dr. Frithjof Schmidt, Omid Nouripour, Marieluise Beck
(Bremen), Volker Beck (Köln), Viola von Cramon-Taubadel, Thilo Hoppe, Uwe
Kekeritz, Katja Keul, Ute Koczy, Tom Koenigs, Agnes Malczak, Kerstin Müller
(Köln), Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin, Hans-Christian Ströbele
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Ressortübergreifende Friedens- und Sicherheitsstrategie entwickeln

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Außen-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik der Bundesregierung ist
ohne strategische Orientierung. Es fehlt eine ressortübergreifende und im
Dialog mit Parlament und Öffentlichkeit erarbeitete Friedens- und Sicher-
heitsstrategie. International – insbesondere im Rahmen von EU, NATO oder
Vereinten Nationen – gehen von Deutschland keine nennenswerten friedens-
und sicherheitspolitischen Impulse mehr aus. Unter der schwarz-gelben
Regierung hat Deutschland an Bedeutung und Einfluss verloren.

2. Ausdruck dieser Planlosigkeit ist die Art und Weise, wie die Reform der Bun-
deswehr angestoßen und umgesetzt wird. Die vom Bundesminister der Ver-
teidigung vorgelegten Eckpunkte für eine Neuausrichtung der Bundeswehr
und die Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) hätten breit diskutiert
und in eine ressortübergreifende Friedens- und Sicherheitsstrategie eingebet-
tet sein müssen. Die VPR erheben den Anspruch, „die sicherheitspolitischen
Zielsetzungen und die sicherheitspolitischen Interessen der Bundesrepublik
Deutschland“ zu formulieren. Gleichzeitig sind sie die verbindliche Grund-
lage für die Konzeption der Bundeswehr und für alle weiteren Folgearbeiten
im Bereich der Bundeswehr. Auf viele der heutigen und in den VPR ge-
nannten Risiken und Bedrohungen, etwa im Bereich des internationalen
Terrorismus, der organisierten Kriminalität, der kritischen Infrastrukturen
oder der Sicherung von Rohstoffen und Vertriebswegen, kann es keine mili-
tärischen und keine nationalen Antworten geben. Dem ressortübergreifenden
Anspruch heutiger komplexer Sicherheitsfragen wie Klimawandel und
zunehmenden Ressourcenkrisen, Aufrüstung und Weiterverbreitung von
Massenvernichtungswaffen, der Umgang mit asymmetrischen Konflikten,
Staatszerfall und seine Folgen sowie mit dem wachsenden Bedarf an inte-
grierten zivil-militärischen Friedensmissionen im Rahmen der Vereinten

Nationen (VN) werden sie nicht gerecht. Die Bundeswehr steht vor tief-
greifenden Veränderungen, die weit über Fragen von Umfang und Strukturen
hinausgehen. Diese Veränderungen bedürfen eines breiten gesellschaftlichen,
kritischen und politischen Diskurses über Rolle, Auftrag und Aufgaben der
Streitkräfte sowie die Grenzen des Militärischen und dem Verhältnis zum
Zivilen.

Drucksache 17/6351 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

3. Deutschland beteiligt sich seit vielen Jahren mit zivilen, polizeilichen und
militärischen Beiträgen an internationalen Friedenseinsätzen. Bis heute fehlt
die im Parlamentsbeteiligungsgesetz vorgesehene Evaluierung. Erfolgrei-
chen Einsätzen wie in Mazedonien und Kambodscha stehen eine Reihe er-
nüchternder Erfahrungen gegenüber. Das gilt auch für den Einsatz in Afgha-
nistan. Manche UN-Peacekeeping-Einsätze (z. B. im Kongo oder im Sudan)
haben die hochgesteckten Ziele bisher nicht erreicht. Es gilt aus diesen Er-
fahrungen zu lernen. Voraussetzung hierfür ist eine ehrliche Evaluation und
Diskussion der bisherigen Einsätze.

4. Konflikte können mit Gewalt nicht gelöst und in eine stabile Friedenslösung
überführt werden. Dem Einsatz militärischer Gewalt sind hinsichtlich seiner
Legitimität und seiner Fähigkeiten zur Friedensschaffung deutliche Grenzen
gesetzt und diese müssen klar benannt werden. Die Bundeswehr muss sich
als ein Akteur unter Vielen in einer umfassenden Friedens- und Sicherheits-
konzeption einpassen, in der das Primat des Zivilen gilt und zivile Krisen-
prävention, Konfliktmanagement und Friedenskonsolidierung Leitprinzipien
sind. Die Umsetzung des Aktionsplans Zivile Krisenprävention stagniert,
weil der politische Wille zum Aufbau krisenpräventiver Strukturen in
Deutschland fehlt (vgl. Antrag „Zivile Krisenprävention ins Zentrum deut-
scher Außenpolitik rücken“, Bundestagsdrucksache 17/5910). Dabei zeigen
gerade die Versuche der militärischen Krisenbewältigung der zurückliegen-
den Jahre, dass deren Potential zur Bearbeitung von Konflikten maßlos über-
schätzt ist. Es bedarf vorrangig zivilen Engagements, um Konflikte nachhal-
tig zu befrieden. Dazu stehen aber derzeit weder ausreichend Polizeikräfte
noch Verwaltungs- oder Rechtsexpertinnen/Rechtsexperten zur Verfügung.
Bereiche wie Mediation oder Sicherheitssektorreform wurden in der Vergan-
genheit zu sehr vernachlässigt. Instrumente der Entwicklungszusammen-
arbeit im Bereich der Beseitigung struktureller Ungleichheiten und der struk-
turellen Krisenprävention sind unzureichend ausgebildet und finanziert. Dies
ist Folge einer fehlenden ganzheitlichen Friedens- und Sicherheitspolitik.

5. Eine Reihe unserer Bündnispartner in EU und NATO nehmen sich für die
Erarbeitung umfassender nationaler Friedens- und Sicherheitsstrategien
mehr Zeit und binden Parlament und Öffentlichkeit aktiv ein. Die Bundes-
regierung hat es bisher versäumt, eine öffentliche Auseinandersetzung über
friedens- und sicherheitspolitische Fragen zu führen. Die letzte sicherheits-
politisch relevante Veröffentlichung der Bundesregierung ist das sogenannte
Weißbuch aus dem Jahr 2006. Auch das Weißbuch krankte vor allem daran,
dass die Analyse der sicherheitspolitischen Situation Deutschlands und der
daraus abgeleitete Handlungsbedarf vorrangig aus dem Bundesministerium
der Verteidigung kamen und sich lediglich auf die Bundeswehr bezogen. Mit
welchen Risiken und Chancen Deutschland konfrontiert ist und welche frie-
dens- und sicherheitspolitische Verantwortung sich daraus ergibt wurde
ebenso wenig beantwortet wie die Frage, welche Fähigkeiten und Instru-
mente für welche Aufgaben zur Verfügung gestellt werden sollen und wel-
che Konsequenzen sich daraus ressortübergreifend für alle Politikfelder er-
geben. Das Weißbuch lässt sowohl die Verpflichtung als auch ein schlüssi-
ges Konzept für die Prävention, Bearbeitung und Lösung von Krisen und
Konflikten mit zivilen Mitteln vermissen. Die Beziehungen zwischen zivi-
len und militärischen Akteuren bleiben ungeklärt. Mit der Ausschreibung
für die Afghanistanfazilität hat die Bundesregierung nun den Versuch unter-
nommen, Nichtregierungsorganisationen einer militärischen Strategie unter-
zuordnen. Diese neuartige Konditionalisierung der zivilen Hilfe wurde von
Zivilgesellschaft und Opposition heftig kritisiert, nicht zuletzt aufgrund der
unklaren Definition des Konzepts der „Vernetzten Sicherheit“. Dies alles

setzt die lähmende Konkurrenz zwischen den Akteuren zu Lasten der Zivilen

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/6351

Krisenprävention fort. Es verschärft die Schieflage zwischen militärischen
und zivilen Engagements.

6. Die Bundesregierung muss eine gesamtgesellschaftliche Debatte über Ziele
und Strategien deutscher Friedens- und Sicherheitspolitik anstoßen und in
die Entwicklung einer neuen, umfassenden und ressortübergreifenden Frie-
dens- und Sicherheitskonzeption überführen. Die Bundeswehr muss hierbei
als Bestandteil einer umfassenden, integrierten Friedens- und Sicherheits-
politik mit einem Fokus auf Konfliktprävention gedacht und in ein solches
gesamtstaatliches Sicherheitskonzept eingebettet werden. Es muss eine ehr-
liche und offene Debatte über Kriterien, Ziele und Grenzen ziviler und mili-
tärischer Kapazitäten und ihres Zusammenspiels geführt werden. Ein ent-
scheidender Katalysator für die notwendige Debatte kann ein fortlaufender
„Friedens- und Sicherheitspolitischer Bericht“ sein. Erfahrungen anderer
europäischer Staaten bieten Anhaltspunkte, wie solche Strategieprozesse
erfolgreich ressortübergreifend gestaltet werden können.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf,

1. eine gesamtgesellschaftliche Debatte über Ziele und Strategien deutscher
Friedens- und Sicherheitspolitik anzustoßen und daraus eine neue, umfas-
sende und ressortübergreifende Friedens- und Sicherheitskonzeption zu ent-
wickeln.

Dieser Prozess sollte

a) ressortübergreifend, unter Einbeziehung des Auswärtigen Amts und der
Bundesministerien der Verteidigung, für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung, des Innern, der Justiz sowie des Bundeskanzleramtes
stattfinden;

b) von öffentlichen Anhörungen begleitet sein, zu denen Vertreterinnen
und Vertreter aller Akteure, gesellschaftlichen Gruppen, Nichtregierungs-
organisationen, wissenschaftliche Institute, das Parlament sowie Einzel-
expertinnen/Einzelexperten aus dem In- und Ausland eingeladen und an-
gehört werden;

c) über eine interaktive Webplattform, die durch eine unabhängige wissen-
schaftliche Einrichtung konzeptionell begleitet und professionell mode-
riert wird, der Bevölkerung eine aktive Partizipation an der friedens- und
sicherheitspolitischen Debatte ermöglichen, Diskussionsforen anbieten
und die Aufzeichnungen der öffentlichen Anhörungen zur Verfügung
stellen;

2. dem Deutschen Bundestag bis September 2012 die ressortübergreifende
Friedens- und Sicherheitsstrategie vorzulegen.

Berlin, den 28. Juni 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Antrag
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