BT-Drucksache 17/6342

Behandlungs- und Betreuungsangebote für traumatisierte Soldatinnen und Soldaten, zivile Kräfte und Angehörige ausbauen

Vom 29. Juni 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6342
17. Wahlperiode 29. 06. 2011

Antrag
der Abgeordneten Harald Koch, Kathrin Vogler, Jan van Aken, Christine Buchholz,
Sevim Dag˘delen, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, Heike
Hänsel, Inge Höger, Andrej Hunko, Stefan Liebich, Niema Movassat, Thomas Nord,
Paul Schäfer (Köln), Alexander Ulrich, Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Behandlungs- und Betreuungsangebote für traumatisierte Soldatinnen und
Soldaten, zivile Kräfte und Angehörige ausbauen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Soldatinnen und Soldaten der deutschen Bundeswehr werden seit Anfang der
90er-Jahre vermehrt in Auslandseinsätze geschickt und unter immer gefähr-
licheren Bedingungen eingesetzt. Nach dem Willen der Bundesregierung wird
sich dies durch den Umbau der Bundeswehr zur Einsatzarmee in den kommen-
den Jahren noch intensivieren. Diese neue Qualität der Einsätze sowie die Ge-
fahren und andauernden Belastungen, welchen die Soldatinnen und Soldaten im
Auslandseinsatz ausgesetzt sind, führen von Jahr zu Jahr zu mehr Fällen von
psychischen Erkrankungen, dabei häufig zu Posttraumatischen Belastungsstö-
rungen (PTBS). Allein im Jahr 2010 wurden 729 Fälle in der Bundeswehr
bekannt, während es ein Jahr zuvor noch 466 Fälle und im Jahr 2008 245 Fälle
waren. Selbst die Bundesregierung geht mittlerweile davon aus, dass sich diese
Zahlen in den nächsten Jahren aufgrund der langen Latenzzeiten sowie „größer
werdender Komplexität und höherer Intensität der Einsätze und den daraus
resultierenden wachsenden Anforderungen“ (Bundestagsdrucksache 17/4486)
noch erhöhen werden.

Leidtragende der vermehrt und intensiver stattfindenden Auslandseinsätze sind
aber nicht nur die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, sondern auch die
Bevölkerung vor Ort, Flüchtlinge, das zivile Personal der Bundeswehr sowie
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ziviler Friedens- und Aufbauorganisationen.
Auch diese Menschen sind erheblichen Belastungen ausgesetzt und laufen Ge-
fahr, Opfer von Traumatisierung zu werden.

Die Zahl der offiziell anerkannten PTBS-Fälle in der Bundeswehr ist dabei nur
die Spitze des Eisbergs. Bei 2 Prozent der 2009 im Rahmen der Mission der
Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe (ISAF) in Afghanistan einge-
setzten Soldatinnen und Soldaten liegt laut ersten Ergebnissen der vom Bundes-

ministerium der Verteidigung in Auftrag gegebenen sogenannten Dunkelziffer-
studie die Zahl der nicht erfassten Fälle. Doch Schätzungen von Expertinnen
und Experten, die sich unter anderem auf die langen Latenzzeit der Erkrankung
sowie Studien aus anderen Ländern berufen, liegen weit höher. So zitiert die
Fachzeitschrift „DNP“ (Der Neurologe & Psychiater, Ausgabe 2/2010) Zahlen
US-amerikanischer Studien, die angeben, dass 22 Prozent der amerikanischen
Armeeangehörigen, die von 2002 bis 2008 im Irak und in Afghanistan waren, an

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einer PTBS litten. Allgemein gehen die Fachleute davon aus, dass bei friedens-
erhaltenden Missionen der Vereinten Nationen ca. 5 Prozent aller Soldatinnen
und Soldaten an einer PTBS erkranken, bei Kampfeinsätzen, wie dem Afghanis-
tan-Einsatz, mindestens 10 bis 15 Prozent aller am Einsatz Beteiligten. Dies sind
deutliche Hinweise dafür, dass auch im Fall der Bundeswehr, in Anbetracht der
langen Latenzzeiten, von mindestens 20 000 Fällen von schwer traumatisierten
Soldatinnen und Soldaten ausgegangen werden muss.

Die steigenden Zahlen von PTBS-Fällen sind auch auf die vermehrte öffentliche
Wahrnehmung des Themas zurückzuführen, in deren Folge immer mehr Solda-
tinnen und Soldaten den Mut aufbringen, ihr Problem einzugestehen und sich in
ärztliche Behandlung zu begeben. Dies führt zu einem erhöhten Bedarf an Trup-
penpsychologinnen und -psychologen, für den es derzeit innerhalb der Bundes-
wehr, aber auch innerhalb des gesamten bundesdeutschen Gesundheitssystems,
nicht ausreichend ausgebildetes und spezialisiertes Personal gibt. Die Bundes-
wehr fordert, dass zusätzliches Personal aus dem zivilen Gesundheitssystem
abgestellt wird. In Konsequenz würde dieses aber an anderer Stelle fehlen, um
zivile Traumafälle zu behandeln.

Lange Wartezeiten und nicht hinreichende Behandlung sind ein weiteres Pro-
blem. Zudem ist die Behandlung der traumatisierten Soldatinnen und Soldaten
durch die Bundeswehrkrankenhäuser nicht vorrangig auf das Ziel ausgerichtet,
den Betroffenen eine vollständige Genesung, eine baldige Rückkehr in den All-
tag und damit eine neue zivile Perspektive zu ermöglichen, sondern sie ist mit
der Prämisse verbunden, die Betroffenen schnellstmöglich wieder fit für einen
weiteren Auslandseinsatz zu machen.

Aber nicht nur bei der Behandlung der traumatisierten Soldatinnen und Solda-
ten, auch bei der Vor- und Nachbereitung der Auslandseinsätze und vor allem bei
der Anerkennung von Wehrdienstbeschädigungen (WDB) infolge von Posttrau-
matischen Belastungsstörungen gibt es erhebliche Defizite. Von den 936 Anträ-
gen auf WDB aufgrund von PTBS, welche im Zeitraum von 1995 bis 2010 ge-
stellt wurden, sind gerade einmal 267 positiv beschieden worden. Mehr als die
Hälfte der Anträge wurde abgelehnt, weil die betroffenen Soldatinnen und Sol-
daten nicht nachweisen konnten, dass ihre Erkrankung eine Folge des Auslands-
einsatzes ist. Die durchschnittliche Bearbeitungsdauer von der Antragstellung
bis zum Bescheid liegt bei etwa 15 Monaten und kann zuweilen bis zu vier Jahre
in Anspruch nehmen. In dieser Zeit erhalten Soldatinnen und Soldaten der Bun-
deswehr, welche schon aus dem Dienstverhältnis ausgeschieden sind, keinerlei
Leistungen oder Bezüge. Da PTBS oft erst Jahre nach dem auslösenden Ereignis
auftritt und meist noch später diagnostiziert wird, ist davon eine erhebliche An-
zahl von Soldatinnen und Soldaten betroffen.

Gleichwohl sind zivile Kräfte in den Einsatzgebieten, bei denen nach ihrer
Rückkehr PTBS diagnostiziert wird, noch schlechter gestellt. Sie werden nicht
wie die Soldatinnen und Soldaten betreut und in den Bundeswehrkrankenhäu-
sern behandelt, sondern bleiben nach dem Auslandseinsatz mehr oder minder
sich selbst überlassen. Je nach Berufsgruppe müssen sie für ihre Behandlung
und Betreuung eigenständig sorgen und haben auch nicht die Möglichkeit, fi-
nanzielle Entschädigungen zu erhalten oder trotz Erkrankung weiter beschäftigt
zu werden, da sie weder unter das Soldatenversorgungsgesetz (SVG) noch unter
das Einsatz-Weiterverwendungsgesetz (EinsatzWVG) fallen. Die Fälle von
PTBS und anderen psychischen Erkrankungen infolge des Auslandseinsatzes
werden bei zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern noch nicht einmal statis-
tisch erfasst.

Nicht zuletzt leiden auch die Familien der betroffenen Soldatinnen und Soldaten
sowie der zivilen Kräfte unter der Krankheit ihrer Angehörigen. Typische Sym-

ptome einer PTBS wie Schlafstörungen, Aggressivität, Rückzugsverhalten,
Flashbacks, Depressionen und vermehrte Reizbarkeit machen ein normales

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Familienleben nahezu unmöglich. Infolgedessen zerbrechen Partnerschaften,
verlieren Kinder den Anschluss in der Schule und in den betroffenen Familien
kommt es zu einem Anstieg bei Drogen- und Alkoholmissbrauch und vermehrt
zu Suizidversuchen. Die betroffenen Familien werden häufig mit ihren Proble-
men alleine gelassen und suchen vergeblich schnelle und unbürokratische Hilfe.
Seitens der Bundeswehr bleibt es bei bislang unerfüllten Versprechungen, was
sich auch in der Gründung einer Reihe von Selbsthilfeorganisationen widerspie-
gelt.

Die Bundesregierung berichtete wiederholt über die getroffenen Maßnahmen,
mit denen sie versucht, dem Phänomen PTBS zu begegnen. Doch offensichtlich
besteht eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem Stand der Implementierung
der Maßnahmen und den reellen Behandlungs- und Betreuungsangeboten, die
durch Einzelschicksale an die Öffentlichkeit gelangen.

Posttraumatische Belastungsstörungen waren schon immer ein gesamtgesell-
schaftliches Problem, doch die bewusste Wahrnehmung dieser Erkrankung in
der Bevölkerung unter der Bezeichnung „PTBS“ ist relativ neu und derzeit
dominiert vom Bild des traumatisiert aus Afghanistan zurückkehrenden Bundes-
wehrsoldaten.

Der massive Anstieg der PTBS-Fälle ist dabei eine Konsequenz der Ausrichtung
der Bundeswehr auf Interventionseinsätze im Ausland. Der Deutsche Bundestag
ist durch die Mandatierung und Ausweitung der Auslandseinsätze politisch ver-
antwortlich. Deshalb sollte der Schwerpunkt nicht allein auf die Fortentwick-
lung von wirksamen Behandlungsmethoden gelegt werden. Der Abzug der
Bundeswehr aus den Konfliktgebieten ist der beste Schutz der Soldatinnen und
Soldaten vor PTBS und anderen einsatzbedingten psychischen Erkrankungen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. einen Gesetzentwurf vorzulegen, um die mit dem Antrag „Verbesserung der
Regelungen zur Einsatzversorgung“ (Bundestagsdrucksache 17/2433) be-
schlossenen PTBS-relevanten Maßnahmen endlich umzusetzen und damit

a) die Umkehr der Beweislast (Beweispflicht des Ursachenzusammenhangs
zwischen wehrdienstbedingten Umständen und erlittener Schädigung zu
Lasten der Bundeswehr),

b) die Minderung der Voraussetzung des Grades der Schädigung von 50 Pro-
zent auf 30 Prozent im EinsatzWVG und

c) die Beschleunigung und Entbürokratisierung der Anerkennung der WDB
sowie

d) die Schaffung beruflicher Perspektiven für die spätere Eingliederung in
den zivilen Arbeitsmarkt (gemäß EinsatzWVG)

zu verwirklichen;

2. PTBS als Berufskrankheit von Bundeswehrangehörigen anzuerkennen;

3. Konsequenzen aus den Ergebnissen der Studie „Prävalenz und Inzidenz von
traumatischen Ereignissen, Posttraumatischen Belastungsstörungen und an-
deren psychischen Störungen bei Soldaten mit und ohne Auslandseinsatz“,
insbesondere zu Fragen der geschlechts- und altersspezifischen Prävalenz, zu
ziehen und sowohl alle Ergebnisse als auch die Konsequenzen daraus öffent-
lich zu machen;

4. die Stehzeiten im Auslandseinsatz für die Soldatinnen und Soldaten mög-
lichst kurz zu halten, da die Wahrscheinlichkeit an einer PTBS oder einer an-

deren psychischen Störung zu erkranken mit zunehmender Dauer des Aus-
landseinsatzes steigt;

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5. als Sofortmaßnahme die Dienstposten für Truppenpsychologinnen und
Truppenpsychologen in den Einsatzgebieten zu verdoppeln und zu besetzen
sowie Maßnahmen zur Verstärkung der Ausbildung von Traumaspezialis-
tinnen und Traumaspezialisten zu ergreifen;

6. die Fälle von PTBS bei zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bun-
deswehr und Angehörigen der Bundespolizei sowie ziviler Hilfs- und Auf-
bauorganisationen statistisch zu erfassen und Konsequenzen aus diesen
Zahlen zu ziehen;

7. die Maßnahmen zur Einsatzprävention und -betreuung derart zu verbessern,
dass sowohl die Soldatinnen und Soldaten als auch die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter der Bundeswehr sowie ziviler Hilfsorganisationen und ihre je-
weiligen Angehörigen besser auf die ihnen bevorstehenden Situationen vor-
bereitet werden und jederzeit einen festen und kompetenten Ansprechpart-
ner haben, der sie in allen Belangen berät und unterstützt;

8. im Rahmen der Einsatznachbereitung eine konkrete Anlaufstelle mit einem
festen Ansprechpartner und Präventivkuren für alle Soldatinnen und Solda-
ten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundeswehr sowie ziviler
Hilfsorganisationen anzubieten und dafür Sorge zu tragen, dass auch die
Angehörigen an diesen Maßnahmen teilnehmen können;

9. die Betreuungs- und Beratungsbedürfnisse von Angehörigen ernst zu neh-
men, die Kapazitäten in diesem Bereich auszubauen, vor allem niedrig-
schwellige Kontaktangebote anzubieten und es nicht bei deklaratorischen
Maßnahmen zu belassen;

10. einen intensiven Dialog mit Selbsthilfeorganisationen und -initiativen zu
suchen und diese nicht nur symbolisch zu unterstützen;

11. Möglichkeiten zu finden, die Behandlung zu dezentralisieren und die mit-
unter erheblichen Wartezeiten im Sinne der Geschädigten zu verkürzen;

12. die Behandlung und Betreuung von an PTBS Erkrankten nicht auf Bundes-
wehrsoldatinnen und -soldaten zu fokussieren und diese dadurch zu privile-
gieren, sondern im zivilen Gesundheitswesen unterzubringen;

13. das Psychotraumazentrum und einhergehend die wissenschaftliche PTBS-
Forschung aus den Strukturen der Bundeswehr auszugliedern und zusätzli-
che finanzielle Mittel, u. a. zu Forschungszwecken, zur Verfügung zu stel-
len, welche in einem separaten Titel des Haushalts auszuweisen sind. Lau-
fende und geplante Studien zu PTBS sollten mit Blick auf die langen
Latenzzeiten, welche für diese Erkrankung symptomatisch sind, ausgewei-
tet und durch Langzeitstudien ergänzt werden. Zudem sollten Angehörige
sowie die Problematik der Komplexität der Eigen- und Fremdwahrneh-
mung in die Studien integriert werden;

14. den aufgrund der zunehmenden militärischen Auslandseinsätze der Bun-
deswehr gestiegenen Bedarf an Truppenpsychologinnen und -psychologen
nicht dadurch zu kompensieren, dass Psychologinnen und Psychologen aus
dem zivilen Gesundheitssystem abgezogen werden. Zudem sollte jegliche
Forderung von Gesinnungs- und Loyalitätserklärungen gegenüber dem me-
dizinischen und psychologischen Personal unterlassen werden.

Berlin, den 29. Juni 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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