BT-Drucksache 17/6321

Moratorium jetzt - Dringliche Klärung von Fragen zu Mehrkosten des ITER-Projekts

Vom 29. Juni 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6321
17. Wahlperiode 29. 06. 2011

Antrag
der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Krista Sager, Kai Gehring,
Ekin Deligöz, Katja Dörner, Priska Hinz (Herborn), Bärbel Höhn, Sven-Christian
Kindler, Agnes Krumwiede, Monika Lazar, Ingrid Nestle, Dr. Hermann Ott,
Tabea Rößner, Dorothea Steiner und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Moratorium jetzt – Dringliche Klärung von Fragen zu Mehrkosten des ITER-Projekts

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

sich im Rat der Europäischen Union und im ITER-Rat (ITER = International
Thermonuclear Experimental Reactor) für eine ernsthafte Überprüfung und
Neubewertung des ITER-Projekts einzusetzen und zunächst zu klären,

● welche Auswirkungen die Schwierigkeiten Japans, aufgrund der Erdbeben-
katastrophe fristgerecht seinen zugesagten Beitrag zu liefern, auf den Zeit-
plan und die Kosten des Projekts haben,

● ob und welche zusätzlichen Anforderungen an die Sicherheit des geplanten
Fusionsreaktors (der Standort Cadarache liegt in einem erdbebengefährdeten
Gebiet) nach der Katastrophe von Fukushima zu berücksichtigen sind,

● wie die im Rat und im Europäischen Parlament strittige Finanzierung der
gigantischen Mehrkosten des Projekts erfolgen soll,

● inwieweit durch die Mehrkosten die nationalen Haushalte zusätzlich belastet
werden, z. B. durch den Wegfall von Rückflüssen aus dem EU-Haushalt,

● welche Auswirkungen eine Finanzierung der steigenden Kosten des ITER
auf die Forschungsförderung der EU und Initiativen zur Bewältigung der
herausragenden gesellschaftlichen Probleme (Umsetzung der EU-2020-Stra-
tegie) hat,

● dass effektive Kontrollmechanismen, funktionsfähige Managementstruktu-
ren und eine transparente Ausschreibungs- und Vergabepraxis der Aufträge
durch die ITER-Organisation und die europäische Agentur Fusion for Energy
(F4E) etabliert sind.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
bis zur Klärung dieser Sachverhalte keinen Schlussfolgerungen oder Entschei-
dungen zuzustimmen, die eine Fortsetzung des Projekts präjudizieren.

III. Der Deutsche Bundestag erwartet eine kontinuierliche Unterrichtung

über die Verhandlungen auf europäischer Ebene und mit den internationalen
Partnern des Projekts. Vor Entscheidungen im Rat hat die Bundesregierung das
Einvernehmen mit dem Bundestag zu suchen.

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IV. Der Deutsche Bundestag erwartet,

dass sich die Bundesregierung bis zur Klärung der dramatischen Fehlentwick-
lungen und der ungeklärten Fragen für die Verhängung eines Moratoriums ein-
setzt.

Berlin, den 28. Juni 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Im Oktober 2007 trat das Übereinkommen zwischen der Europäischen Atomge-
meinschaft (Euratom) und sechs weiteren Vertragsparteien (China, Indien,
Japan, Südkorea, Russland und den USA) über den Bau des Fusionsreaktors
ITER in Kraft. In dem Forschungsreaktor soll demonstriert werden, dass durch
Verschmelzung von Atomkernen Energie gewonnen werden kann. Nur ein
knappes Jahr nach dem Inkrafttreten des Übereinkommens verkündete der
damalige stellvertretende ITER-Direktor, Dr. Norbert Holtkamp, beim 25. Sym-
posium zur Fusionstechnologie in Rostock am 15. September 2008 eine Kosten-
explosion für das Projekt. Nach aktuellen Schätzungen verdreifacht sich der eu-
ropäische Beitrag und steigt von 2,7 Mrd. Euro auf 7,2 Mrd. Euro, soll laut
Beschluss des Rates jedoch auf 6,6 Mrd. Euro gedeckelt werden. Deutschland
finanziert den europäischen Anteil über seine EU-Beiträge zu rund 20 Prozent
mit. Bis heute wurden die Ursachen dieser dramatischen Steigerung nicht
schlüssig analysiert und für Parlament und Öffentlichkeit transparent gemacht.
Das katastrophale Management der ITER-Organisation und der europäischen
ITER-Agentur Fusion for Energy wurde wegen erwiesener Unfähigkeit in-
zwischen weitgehend ausgetauscht. Nach wie vor kritisieren sogar Befürworter
des Projekts den Mangel an effektiven Kontroll- und Managementstrukturen.
Eine Prüfung durch den europäischen Rechnungshof förderte gravierende Män-
gel insbesondere im internen Kontroll- und Finanzinformationssystem zutage.
Die Bundesregierung hegt Bedenken wegen einer intransparenten Ausschrei-
bungspraxis bei den hochdotierten Ausschreibungen der in Barcelona angesie-
delten europäischen Agentur für das in Südfrankreich geplante Projekt: Bis Mitte
2010 beliefen sich die Auftragsvolumina an deutsche Firmen nur auf 28 Mio.
Euro.

Das ITER-Projekt ist Bestandteil des Forschungsrahmenprogramms Euratom,
das neben der Fusionsforschung den Schwerpunkt Kernspaltung und Strahlen-
schutz sowie die Gemeinsame Forschungsstelle im Bereich der nuklearen
Sicherheit und der Gefahrenabwehr umfasst. Die fünfjährige Laufzeit des
Euratom-Programms soll an die siebenjährige Laufzeit des nichtnuklearen
7. Forschungsrahmenprogramms der EU angepasst und deshalb um zwei Jahre
(2012 und 2013) verlängert werden. Im Zuge dieser Verlängerung sollen die
Mittel für die Fusionsforschung erhöht werden, da die im mehrjährigen Finanz-
rahmen (2007 bis 2013) vorläufig für die Nuklearforschung vorgesehenen Mittel
wegen der beträchtlichen Kostensteigerungen beim ITER-Projekt nicht ausrei-
chen. Der Rat für Wettbewerbsfähigkeit konnte sich jedoch am 31. Mai 2011
nicht auf Schlussfolgerungen zu dem strittigen Projekt einigen.

Konkret wird seitens der EU-Kommission ein Budget in Höhe von 2,56 Mrd.
Euro für die Jahre 2012 und 2013 vorgeschlagen, von denen rund 2,2 Mrd. Euro

(86 Prozent) für die Kernfusionsforschung vorgesehen sind, die im Wesent-
lichen zur Finanzierung des ITER-Projekts dienen. Darin enthalten sind die

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/6321

1,3 Mrd. Euro, um die sich die Kosten des ITER-Projekts allein in diesem Zeit-
raum nach aktuellen Schätzungen der Kommission erhöhen. Nach dem Vor-
schlag der Kommission für die Verlängerung und Aufstockung des Euratom-
Programms steigen die jährlichen Aufwendungen für die Kernspaltung um
3 Prozent (von 57,5 Mio. Euro auf 59 Mio. Euro), für die Gemeinsame For-
schungsstelle um 15 Prozent (von 102 Mio. Euro auf 117 Mio. Euro) und bei der
Fusionsforschung insbesondere wegen ITER um 280 Prozent (von 390 Mio.
Euro auf 1 105 Mio. Euro). Für diesen Kurs gibt es in Deutschland angesichts
der Katastrophe von Fukushima und des breiten gesellschaftlichen Konsenses
für den Atomausstieg keine Unterstützung. Es ist mehr als überfällig, die Förde-
rung der Kernenergie durch Euratom mit Geldern der Mitgliedstaaten einzustel-
len und stattdessen die Prioritäten und Mittel auf Maßnahmen zum Schutz der
Bevölkerung vor radioaktiver Strahlung zu konzentrieren.

Auch im Europäischen Parlament mehren sich die kritischen Stimmen. Ein
erster Vorstoß der Kommission zur Umverteilung von Mitteln im EU-Haushalt
zugunsten des ITER-Projekts ist Ende 2010 aufgrund von Widerständen im Eu-
ropäischen Parlament gescheitert. Eine Einigung über die Finanzierung der
gigantischen Mehrkosten ist nicht in Sicht. Ein aktueller Vorschlag der Kom-
mission sieht vor, dass Mittel in Höhe von 460 Mrd. Euro aus dem 7. For-
schungsrahmenprogramm sowie 650 Mrd. Euro aus der Rubrik 2 (Bewahrung
und Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen) und 190 Mio. Euro aus der
Rubrik 5 (Verwaltungsausgaben) zugunsten des ITER umgewidmet bzw. um-
geschichtet werden sollen. Beharrlich schweigt sich die Kommission darüber
aus, welche Projekte und Themen darunter leiden werden.

Was die Verwendung der Mittel aus dem Agrarhaushalt anbelangt, wird vor
Oktober dieses Jahres (Ende des Agrarhaushaltsjahres) keine Entscheidung
fallen können, denn erst dann ist absehbar, ob sie für Entschädigungen an Land-
wirte z. B. infolge von Dürreperioden oder der EHEC-Epidemie benötigt
werden. Nicht in Anspruch genommene Mittel des EU-Haushaltes würden im
Übrigen an die nationalen Haushalte zurückfließen. Bei einem deutschen Anteil
von 20 Prozent an den Mitteln in Höhe von 840 Mio. Euro geht es um zusätz-
liche, nicht im Haushalt eingeplante Mittel von ca. 170 Mio. Euro: Gelder, die
dringend für ökologische und soziale Projekte gebraucht werden, Mittel, die
besser in die Förderung erneuerbarer Energien und den Klimaschutz fließen
sollten.

Die vom Rat und Europaparlament vehement geforderte Verbesserung der ma-
roden Strukturen der ITER-Organisation und die Verankerung eines funktionie-
renden Kontroll- und Finanzinformationssystems sind bei weitem nicht voll-
endet.

Auch andere Projektpartner, die ITER zu jeweils 9 Prozent mitfinanzieren,
haben Schwierigkeiten, für die extrem gestiegenen Kosten aufzukommen. Ob
Japan nach der dreifachen Katastrophe dieses Frühjahrs seinen Verpflichtungen
wird nachkommen können, ist ungewiss. Ende Juni 2011 wird auf dem ITER-
Rat in Japan über die Schwierigkeiten Japans informiert, infolge der Erdbeben-
katastrophe seinen zugesagten Beitrag fristgerecht zu liefern, und über mögliche
Konsequenzen für die anderen Projektpartner beraten. Der Direktor des ITER-
Projekts Professor Osamu Motojima hat erklärt, dass das Erdbeben und der Tsu-
nami das Naka Fusion Institute, an dem Magneten und Heizsysteme für den Fu-
sionsreaktor entwickelt und getestet werden sollen, stark beschädigt hätten. Dies
könne zu Verzögerungen von mehreren Jahren führen. Welche Auswirkungen
dies auf die Gesamtkosten und den Zeitplan des ITER-Projekts haben wird, ist
unklar. Wenn sich die Schäden am Forschungsinstitut nicht innerhalb der nächs-
ten sechs Monate reparieren lassen, so Professor Osamu Motojima, müssten mit

den Projektpartnern neue Vereinbarungen über die Organisation und den Zeit-
plan getroffen werden. Der Standort des Fusionsreaktors liegt bekanntlich in

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einem Erdbebenrisikogebiet. Nach der Katastrophe von Fukushima ist nun
nochmals sorgfältig zu prüfen, ob und welche zusätzlichen Sicherheitsanforde-
rungen an den Fusionsreaktor in Cadarache zu stellen sind.

Der Deutsche Bundestag ist der Auffassung, dass der rasch voranschreitende
Klimawandel und der Weg zu einer CO2-armen Gesellschaft auf Lösungen set-
zen muss, die sehr viel schneller zur Verfügung stehen als das bei dem ITER-
Projekt der Fall ist. Die Fusionstechnologie, an der seit mehr als einem halben
Jahrhundert geforscht wird, wird, wenn überhaupt, selbst nach optimistischen
Prognosen deutlich nach 2050 einen Beitrag zur Energieversorgung liefern kön-
nen – zu einem Zeitpunkt also, an dem die EU ihre Schadstoffemissionen bereits
um 80 bis 95 Prozent gesenkt haben will und muss, um den Temperaturanstieg
um 2 Grad Celsius zu begrenzen. Es bestehen vielmehr erhebliche Zweifel, ob
die Kernfusion jemals in der Lage sein wird, Energielieferant zu werden. Erheb-
liche technologische Probleme, wie das Problem des Materials der ersten Wand,
die extremer Strahlung und extremen Temperaturen standhalten muss, sind bis
heute nicht einmal in der Grundlagenforschung befriedigend gelöst. Zudem wird
auch die Kernfusion erhebliche Mengen radioaktiven Abfalls liefern, deren Ent-
sorgung bis heute nicht gelöst ist.

Das ITER-Projekt ist nicht nur ein unkalkulierbares Risiko für die öffentlichen
Haushalte Deutschlands und der EU, es verhindert auch notwendige Investitio-
nen in innovative Strategien und Technologien. Das ITER-Projekt darf nicht
länger eine Bedrohung für Forschungsprojekte darstellen, die tatsächlich zeitnah
einen Beitrag zur Bewältigung der herausragenden gesellschaftlichen Heraus-
forderungen leisten können.

Angesichts der aktuellen kritischen Entwicklungen ist es ein Gebot der Vernunft,
das Projekt jetzt einer ernsthaften Überprüfung zu unterziehen und bis zur Klä-
rung der dramatischen Fehlentwicklungen und der ungeklärten Fragen ein
Moratorium zu verhängen. Dabei sind so lange keine weiteren Aufträge zu
vergeben und der Weiterbau so lange auszusetzen, bis die wesentlichen Sach-
verhalte geklärt und einer Neubewertung unterzogen sind. Derzeit fehlen eine
realistische Einschätzung der Lage und verlässliche Analysen für eine zukunfts-
fähige Forschungsoption des Projektes. Wesentliche Antworten auf das Paket
offener Fragen sind zu liefern, bevor eine qualifizierte Entscheidung über das
ITER-Projekt getroffen werden kann.

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