BT-Drucksache 17/6318

Personelle und institutionelle Kontinuitäten und Brüche in deutschen Ministerien und Behörden der frühen Nachkriegszeit hinsichtlich NS-Vorgängerinstitutionen systematisch untersuchen

Vom 29. Juni 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6318
17. Wahlperiode 29. 06. 2011

Antrag
der Abgeordneten Claudia Roth (Augsburg), Ekin Deligöz, Katja Dörner, Kai
Gehring, Priska Hinz (Herborn), Sven-Christian Kindler, Agnes Krumwiede, Monika
Lazar, Tabea Rößner, Krista Sager und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Personelle und institutionelle Kontinuitäten und Brüche in deutschen Ministerien
und Behörden der frühen Nachkriegszeit hinsichtlich NS-Vorgängerinstitutionen
systematisch untersuchen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Bundesrepublik Deutschland begreift sich als Gemeinwesen, das aus der
menschenverachtenden und -vernichtenden Politik des Nationalsozialismus ge-
lernt hat und bis heute Konsequenzen aus der Vergangenheit zieht. Um diesem
Selbstverständnis gerecht zu werden ist es notwendig, das Wissen über die Zeit
des Nationalsozialismus beständig zu erweitern. Mittlerweile gehört dieser Teil
der deutschen Vergangenheit zu den besterforschten Gebieten der deutschen Ge-
schichte. Gleichwohl bleiben auch heute noch dringliche Fragen unbeantwortet.
Personelle und institutionelle Kontinuitäten und Brüche in den deutschen Minis-
terien und Behörden der Nachkriegszeit wurden bislang lediglich punktuell,
nicht jedoch umfassend und systematisch erforscht. Dieses Versäumnis zu
beheben, gebietet der verantwortungsvolle und reflektierte Umgang mit der
deutschen Vergangenheit. Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit erfordert die
aktive Mitarbeit durch alle Bundesministerien und -behörden. Der Beauftragte
der Bundesregierung für Kultur und Medien soll ein schlüssiges Gesamtkonzept
zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der Ministerien und Behörden vorlegen.

Seit den 90er-Jahren hat sich der Blick der historischen Forschung verstärkt auf
jene Personen und Verantwortlichen gerichtet, die während der Zeit des
Nationalsozialismus als Akteure in Ministerien und Behörden eher im Hinter-
grund arbeiteten. In ihren jeweiligen Funktionen wirkten sie maßgeblich an der
Umsetzung der nationalsozialistischen Politik mit. Als Mitarbeiter und Mit-
arbeiterinnen oder Beamte und Beamtinnen stellten sie ihren Sachverstand in
den Dienst des Regimes und trugen dazu bei, dass in den unterschiedlichen Res-
sorts spezifisch nationalsozialistische Ziele und Maßnahmen ausgearbeitet und
durchgeführt wurden.

Die Frage danach, was aus den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen und Beamten

und Beamtinnen nach 1945 im geteilten Deutschland geworden ist, knüpft lo-
gisch an die Erkenntnisse über die Zeit des Nationalsozialismus an. Gleichzeitig
rührt sie an die Grundfesten der Politik im Nachkriegsdeutschland. In Behörden
und Ministerien der Bundesrepublik Deutschland und auch der Deutschen
Demokratischen Republik (DDR) fanden Angehörige der vorherigen Reichs-
ministerien und Reichsbehörden erneut Anstellungen und damit auch belastete
und an Verbrechen beteiligte Personen.

Drucksache 17/6318 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Ministerien und Behörden existieren und handeln nicht unabhängig von den
Menschen, die darin arbeiten. Mit der personellen Kontinuität belasteter und an
Verbrechen beteiligter Personen überdauerte nationalsozialistisches Gedanken-
gut in Ministerien wie Behörden und prägte so auch manches Handeln in der
Nachkriegszeit. Erst das genaue Wissen über Kontinuitäten und Traditionslinien
ermöglicht die verlässliche gesellschaftliche, juristische und politische Bewer-
tung möglicher Versäumnisse und Blockaden bei der Verfolgung von national-
sozialistischen Tätern in der Frühzeit der Bundesrepublik Deutschland und der
DDR. Darüber hinaus macht es die schwierigen Bedingungen deutlich, unter
denen der gesellschaftliche Transformationsprozess hin zu einem stabilen
demokratischen Staatswesen der Bundesrepublik Deutschland erfolgte. Auch
das Vorgehen und die Folgen der Integration belasteter Personen in der ehe-
maligen DDR sind vor diesem Hintergrund zu bewerten.

Dass die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit lange Zeit auf
Widerstände traf und es mutiger Juristen und Juristinnen, Journalisten und Jour-
nalistinnen und Forscher und Forscherinnen bedurfte, um die Aufdeckung und
Verfolgung von Tätern überhaupt in Gang zu setzen, ist als trauriger Befund in
der Geschichte des Nachkriegsdeutschland zu konstatieren. Eine umfassende
Untersuchung der verhinderten Aufklärung aufgrund personeller Kontinuitäten
von Mitarbeitern in entscheidenden Funktionen und Positionen der staatlichen
Einrichtungen steht noch aus.

Nach wie vor sind erhebliche Forschungslücken und -hindernisse zu beklagen
und festzustellen. Neueste Forschungen über das Auswärtige Amt und das Bun-
deskriminalamt sowie der jüngste Auftrag zu einer Studie über den Bundesnach-
richtendienst zeigen gleichwohl, wie groß noch bzw. gerade heute der Bedarf
nach Aufklärung bei den Bundesministerien und -behörden ist. Das öffentliche
Interesse daran ist ungebrochen hoch.

Vor allem Zugangsbeschränkungen bzw. die Geheimhaltung von Akten der Mi-
nisterien und Behörden erschweren bis heute die Aufarbeitung. So ist ein eigens
angefertigter Bericht über die Vorgängerinstitutionen des Bundesministeriums
für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft bislang nicht veröffent-
licht worden. Auch Berufs- und Interessensverbände, die vor und nach 1945 in
enger Abstimmung mit Ministerien und Behörden arbeiteten und bei denen
ebenfalls personelle und inhaltliche Kontinuitäten zu untersuchen wären, wei-
gern sich noch immer häufig, Wissenschaftlern ihre Archive zu öffnen.

Auch um das Vertrauen der Bürger in ihre Staatsorgane willen, sieht sich der
Deutsche Bundestag in der Pflicht, Transparenz, Offenheit und Information über
alle Bereiche der Exekutive hinsichtlich personeller und institutioneller Konti-
nuitäten und Brüche in Bezug auf nationalsozialistische Vorgängerinstitutionen
einzufordern. Ausdrücklich würdigt er die jüngst begonnenen und abgeschlos-
senen Projekte der Behörden und Ministerien zur Aufarbeitung ihrer Ge-
schichte. Solche vorbildlichen Forschungen sind zu unterstützten und auf wei-
tere Bundesministerien und Behörden auszuweiten. Vor diesem Hintergrund ist
es zudem erforderlich, die Aufarbeitung der NS-Kontinuitäten in Bundesminis-
terien und -behörden einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Um verlässliche und nachvollziehbare Ergebnisse zu erzielen, ist im Verfahren
der Organisation und Durchführung der Aufarbeitung ein Höchstmaß an Trans-
parenz sicherzustellen. Nach klaren Kriterien und Regeln sind unabhängige und
kompetente Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mit der Bearbeitung zu
beauftragen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien ein
schlüssiges Gesamtkonzept zur Aufarbeitung von personellen und institutio-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/6318

nellen Kontinuitäten und Brüchen in den Bundesministerien und -behörden
hinsichtlich der NS-Zeit vorzulegen;

2. ein deutliches Signal zu setzen und fachkundige Historikerinnen und
Historiker, die in ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit unabhängig und selbst-
bestimmt arbeiten können, mit der sorgfältigen wissenschaftlichen Aufarbei-
tung

a) der nationalsozialistischen Geschichte der wichtigsten Reichsministerien
mit nachgeordneten Behörden sowie

b) der personellen und institutionellen Kontinuitäten und Brüche hinsichtlich
der in der Bundesrepublik Deutschland nachfolgenden Bundesministerien
(Bundesministerium des Innern, der Finanzen, der Verteidigung, der
Justiz, für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und für Wirtschaft und
Technologie) mit nachgeordneten Behörden,

c) unter Einbeziehung auch von Institutionen der DDR,

zu beauftragen;

3. dass in einzelnen Bundesministerien bereits vorhandene Forschungsergeb-
nisse und Berichte zur nationalsozialistischen Geschichte der Vorgängerins-
titutionen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden;

4. Archive und Quellenbestände zu erschließen, um sie damit dauerhaft zu er-
halten und zu sichern und sie den beauftragten Wissenschaftlern zur wissen-
schaftlichen Aufarbeitung uneingeschränkt zugänglich zu machen;

5. die für Aufarbeitung und Publikation nötigen Mittel in den Einzelhaushalten
der jeweiligen Bundesministerien zur Verfügung zu stellen;

6. die Ergebnisse dieser wissenschaftlichen Aufarbeitung in geeigneter Weise
zu veröffentlichen.

Dem Deutschen Bundestag ist bis Ende 2011 ein Zwischenbericht vorzulegen,
der eine Übersicht über bereits erfolgte Forschungen, laufende Projekte sowie
bestehende Forschungslücken bietet. Dieser Bestandsaufnahme sind darüber
hinaus ein Ablauf- und Zeitplan sowie ein Finanzierungskonzept für die Durch-
führung der Aufarbeitung anzufügen.

Berlin, den 28. Juni 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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