BT-Drucksache 17/6093

Unterstützung für Opfer der Heimerziehung - Angemessene Entschädigung für ehemalige Heimkinder umsetzen

Vom 8. Juni 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6093
17. Wahlperiode 08. 06. 2011

Antrag
der Abgeordneten Heidrun Dittrich, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, Klaus
Ernst, Ulla Jelpke, Katja Kipping, Jutta Krellmann, Cornelia Möhring, Wolfgang
Neskovic, Yvonne Ploetz, Kersten Steinke, Halina Wawzyniak, Jörn Wunderlich,
Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Unterstützung für Opfer der Heimerziehung – Angemessene Entschädigung
für ehemalige Heimkinder umsetzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Am 13. Dezember 2010 wurde der Abschlussbericht des Runden Tisches
Heimerziehung der Öffentlichkeit vorgestellt. Der Runde Tisch befasste sich
mit der Situation von Kindern und Jugendlichen, die in den Jahren 1949 bis
1975 in der Bundesrepublik Deutschland in stationärer Heimunterbringung
lebten.

In seinem Abschlussbericht kommt der Runde Tisch zu der Bewertung, dass
die Gründe, wegen derer die Kinder und Jugendlichen in Heimerziehung
kamen, aus heutiger Sicht oftmals nicht nachvollziehbar sind. Denn dabei
hätten auch die damalige Rolle der Heimerziehung als disziplinierende und
kontrollierende Instanz, ein reaktionär-konservativer Zeitgeist und eine
andere gesellschaftliche Sicht auf Kinder und Jugendliche eine Rolle ge-
spielt.

Der Runde Tisch erkennt zudem an, dass bei der Durchführung der Heim-
erziehung Unrecht geschehen und Leid verursacht worden ist. Die Auf-
listung der zahlreichen Missstände erfolgt im Abschlussbericht unter den
Zwischenüberschriften: „Strafen in der Heimerziehung“, „Körperliche
Züchtigung“, „Arreststrafen und Essensentzug“, „Demütigende Strafen“,
„Kollektivstrafen“, „Kontaktsperren und Briefzensur“, „Sexuelle Gewalt“,
„Religiöser Zwang“, „Einsatz von Medikamenten/Medikamentenversuche“,
„Arbeit und Arbeitszwang“ sowie „Fehlende oder unzureichende schulische
und berufliche Förderung“.

In einer zusammenfassenden Bewertung kommt der Runde Tisch schließlich
zu der Einschätzung, dass es in der Heimerziehung der frühen Bundes-
republik Deutschland zu zahlreichen Rechtsverstößen gekommen ist, die
auch nach damaliger Rechtslage und deren Auslegung nicht mit dem Gesetz

und auch nicht mit pädagogischen Überzeugungen vereinbar waren. Elemen-
tare Grundsätze der Verfassung wie das Rechtsstaatsprinzip, die Unantastbar-
keit der Menschenwürde und das Recht auf persönliche Freiheit und körper-
liche Integrität hätten bei Weitem zu wenig Beachtung und Anwendung
gefunden. Die Heimerziehung in der ehemaligen DDR bedarf ebenso einer
kritischen Aufarbeitung. Die Aufarbeitung der Heimerziehung in der ehe-
maligen DDR ist jedoch noch nicht abgeschlossen.

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2. Als Rehabilitierung schlägt der Runde Tisch ein Maßnahmebündel vor.
Dazu gehören vor allem die Anerkennung des erlittenen Unrechts und eine
Entschuldigung der damals Verantwortlichen, die Vereinfachung der Ein-
sichtnahme der Betroffenen in ihre damaligen personenbezogenen Akten
sowie die Einrichtung von niedrigschwelligen Anlauf- und Beratungsstellen.
Für finanzielle Maßnahmen soll ein Fonds für ehemalige Heimkinder ge-
gründet werden. Dafür sollen 120 Mio. Euro zur Verfügung stehen, die zu
gleichen Teilen von Bund, den westdeutschen Bundesländern und den bei-
den Kirchen getragen werden sollen.

Der Runde Tisch orientiert seine Vorschläge für aus dem Fonds zu leistende
finanzielle Entschädigungen dabei an heute noch bestehenden Beeinträchti-
gungen, die die Heimerziehung verursacht hat. 20 Mio. Euro sollen für einen
„Rentenersatzfonds“ und 100 Mio. Euro für einen „Fonds für Folgeschäden
aus Heimerziehung“ zur Verfügung stehen. Aus diesem „Folgeschäden-
fonds“ sollen Maßnahmen zugunsten einzelner Betroffener aufgrund von
Traumatisierungen und besonderem Hilfebedarf bezahlt werden können.
Der Katalog des „besonderen Hilfebedarfs“ enthält im Wesentlichen die
üblichen Angebote von Trägern der Sozialen Arbeit mit älteren Menschen in
schwierigen Lebenslagen.

3. Viele Betroffene, die in Erziehungsheimen der Bundesrepublik Deutschland
Leid und Unrecht erfahren haben, distanzieren sich von den Ergebnissen des
Runden Tisches. Sie kritisieren bereits dessen Zusammensetzung. So seien
unter den 21 stimmberechtigten Mitgliedern lediglich drei ehemalige Heim-
kinder vertreten gewesen. Die ehemaligen Heimkinder seien zudem massiv
unter Druck gesetzt worden. Es habe geheißen, wenn nicht weiterverhandelt
werde, sei der Runde Tisch geplatzt, und es gebe gar nichts für die ehemali-
gen Heimkinder (Das Parlament vom 24. Januar 2011). Der im Abschluss-
bericht vorgeschlagene Fonds mit 120 Mio. Euro sei unterfinanziert und auf
keinen Fall ausreichend. Mit dieser Summe sei eine angemessene Entschädi-
gung für die meisten Opfer nicht möglich (Das Parlament, a. a. O.).

4. Der Deutsche Bundestag erachtet insbesondere die Frage der finanziellen
Entschädigung ehemaliger Heimkinder durch die Empfehlungen des Run-
den Tisches als nicht zufriedenstellend gelöst. Die finanziellen Empfehlun-
gen des Runden Tisches zielen nicht auf eine Anerkennung der Leiden der
ehemaligen Heimkinder. Sie versuchen durch das Anknüpfen an noch vor-
handenen Folgeschäden lediglich, eine angemessene Versorgung der Opfer
der Heimerziehung sicherzustellen. Eine angemessene Versorgung sollte je-
doch bereits im Rahmen der allgemeinen sozialen Sicherungssysteme selbst-
verständlich gewährleistet sein.

Die Betroffenen dürfen aus Sicht des Deutschen Bundestages erwarten, dass
eine finanzielle Anerkennung ihrer Leiden nicht von noch vorhandenen
Folgeschäden abhängig gemacht wird. Eine gerechte Entschädigung muss
an dem verübten Unrecht ansetzen. Eine pauschalierte Opferentschädigung
für ehemalige Heimkinder, die unter dem „System Heimerziehung“ gelitten
haben, ist deshalb unerlässlich.

Eine solche pauschalierte Opferentschädigung ist auch mit den Feststellun-
gen des Runden Tisches vereinbar. Der Runde Tisch spricht von einem
„System Heimerziehung“. Prof. Dr. Manfred Kappeler wies in seiner Wür-
digung des Abschlussberichts des Runden Tisches auf das systematische
Unrecht hin, das in Heimen stattgefunden hat. Die ehemaligen Heimkinder
selbst wollten den Begriff des „Unrechtssystems der Heimerziehung“ in den
Runden Tisch einführen, wurden jedoch überstimmt.

Die Ausgrenzung der Heimkinder und ihre Ohnmacht gegenüber den Insti-

tutionen war weit verbreitet und wurde vom damals geltenden Recht mit ver-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/6093

ursacht und begünstigt. Die Personengruppe der Heimkinder war dadurch von
wesentlichen rechtsstaatlichen Sicherungen ihrer Rechte ausgeschlossen. Der
Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland hat seine eigenen Ansprüche gegen-
über den Heimkindern nicht eingelöst.

5. Die Höhe der Entschädigungszahlungen sollte sich an dem Beispiel anderer
Staaten orientieren. In der Republik Irland erhielten ehemalige Heimkinder
eine Entschädigung von durchschnittlich 75 000 Euro. Insgesamt wurde dort
eine Summe von insgesamt 1,2 Mrd. Euro für die Opferentschädigung zur
Verfügung gestellt. In der Bundesrepublik Deutschland empfiehlt aktuell die
Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmiss-
brauchs bis zu 50 000 Euro als Entschädigung an die Betroffenen zu zahlen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. zeitnah einen Gesetzentwurf für ein Heimerziehungsopferentschädigungs-
gesetz vorzulegen, das sich an folgenden Eckpunkten orientiert:

● Das Gesetz regelt die Entschädigung ehemaliger Heimkinder, die in den
Jahren 1949 bis 1975 in der Bundesrepublik Deutschland in stationärer
Heimunterbringung lebten.

● Als Anerkennung für das Leiden ehemaliger Heimkinder wird eine Ent-
schädigungsleistung in Höhe von monatlich 300 Euro oder nach Wahl der
Berechtigten eine Einmalzahlung von 54 000 Euro eingeführt. Damit soll
für die Betroffenen eine Anerkennung der erlittenen Nachteile und Schä-
digungen geschaffen werden.

● Die Entschädigungszahlungen erfolgen unabhängig von aktuell noch vor-
handenen Folgeschäden. Anknüpfungspunkt ist allein das den Betroffe-
nen zugefügte persönliche Unrecht.

● Für besonders geschädigte ehemalige Heimkinder soll bei Glaubhaft-
machung ihrer besonderen Schädigung eine höhere Einmalzahlung oder
Opferrente möglich sein.

● Neben den öffentlichen, privaten und kirchlichen Trägern der Heime wer-
den auch Betriebe, die Heimkinder beschäftigten, an der Finanzierung
angemessen beteiligt.

● Die Entschädigungszahlungen sind unabhängig von anderen Ansprüchen
und nicht auf sie anrechenbar. Der Anspruch ist unpfändbar und nicht
vererbbar;

2. dem Deutschen Bundestag zeitnah eine angemessene Umsetzung der Vor-
schläge des Runden Tisches (mit Ausnahme der Empfehlungen zu den indi-
viduellen Entschädigungsleistungen) vorzulegen;

3. dem Deutschen Bundestag möglichst zeitgleich eine Lösung vorzuschlagen,
wie auch ehemaligen Heimkindern mit Behinderung, ehemaligen Heimkin-
dern aus der DDR und ehemaligen Heimkindern, deren Heimzeit in den
40er-Jahren lag, eine gleichwertige Anerkennung zugebilligt werden kann;

4. die Empfehlung des Runden Tisches nach einer Entschuldigung umzuset-
zen. Die Bundesregierung bittet im Namen der beteiligten staatlichen Insti-
tutionen um Entschuldigung. Die Kirchen und Privatheime werden aufge-
fordert, um Entschuldigung zu bitten.

Berlin, den 8. Juni 2011
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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