BT-Drucksache 17/5641

Armutssituation und Angebote für von Armut betroffene Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik Deutschland und in den Bundesländern

Vom 20. April 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5641
17. Wahlperiode 20. 04. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Katja Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, Heidrun
Dittrich, Klaus Ernst, Jutta Krellmann, Cornelia Möhring, Kornelia Möller, Yvonne
Ploetz, Ingrid Remmers, Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion
DIE LINKE.

Armutssituation und Angebote für von Armut betroffene Bürgerinnen und Bürger
in der Bundesrepublik Deutschland und in den Bundesländern

Nach den Vorgaben des Grundgesetzes (GG) ist die Bundesrepublik Deutsch-
land „ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ (Artikel 20 Absatz 1 GG).
Diese Bestimmung zählt zum Verfassungskern und ist eine der unabänderlichen
Vorgaben des Grundgesetzes. Des Weiteren gibt das Grundgesetz vor, dass die
verfassungsmäßige Ordnung in Deutschland „den Grundsätzen des republikani-
schen, demokratischen und sozialen Bundesstaates im Sinne dieses Grundgeset-
zes entsprechen“ muss (Artikel 28 Absatz 1 GG). Mit diesen beiden Artikeln
schreibt das Grundgesetz das Sozialstaatsprinzip fest. Gemäß den Konkretisie-
rungen durch das Bundesverfassungsgericht ist es demzufolge die Aufgabe des
Staates, für soziale Gerechtigkeit und für einen Ausgleich sozialer Gegensätze
und Ungleichheiten zu sorgen. Der Staat hat die Voraussetzungen dafür zu schaf-
fen, dass allen Bürgerinnen und Bürgern ein menschenwürdiges Dasein und eine
gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht werden. Aus dem
Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes leitet sich für den Staat die Pflicht zur
Daseinsvorsorge ab. Die Verantwortung für die „Herstellung gleichwertiger
Lebensverhältnisse“ ist ein Kernelement des Sozialstaates (Artikel 20 GG).

Der Begriff „gleichwertige Lebensverhältnisse“ gehört zur zentralen Leitvorstel-
lung des Bundes und der Länder. Das Raumordnungsgesetz (ROG) des Bundes
konkretisiert gleich im ersten Grundsatz: „Im Gesamtraum der Bundesrepublik
Deutschland und in seinen Teilräumen sind ausgeglichene soziale, infrastruktu-
relle, wirtschaftliche, ökologische und kulturelle Verhältnisse anzustreben“ (§ 2
Absatz 2 Nummer 1 ROG). Länderverfassungen und Landesplanungsgesetze
zitieren den Begriff ihrerseits und verpflichten sich damit zu einer entsprechen-
den Strukturpolitik und Entwicklung ihres Landesgebietes.

Um die Situation in der Bundesrepublik Deutschland umfangreich zu bewerten,
bedarf es auch einer Analyse der Armutssituation und der Angebote für von Ar-
mut betroffene Bürgerinnen und Bürger sowohl auf der Ebene des Bundes als
auch auf der Ebene der Bundesländer. Damit sollen der Stand und die Heran-

gehensweise der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundes-
gebiet vor dem Hintergrund des Grundgesetzes besser beurteilbar werden. Ins-
besondere geht es aber auch darum, perspektivisch Konzepte zu entwickeln und
umzusetzen, um langfristig allen Bevölkerungsschichten und Generationen in
allen Teilen Deutschlands ein Leben in Würde und gleichberechtigter Teilhabe
zu sichern.

Drucksache 17/5641 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie hoch ist die Armutsrisikoquote gemäß EU-Standard (60 Prozent des
nationalen mediangemittelten Nettoäquivalenzeinkommens, neue Äquiva-
lenzskala) in der Bundesrepublik Deutschland und in den einzelnen Bundes-
ländern nach EU-SILC (Statistik der EU über Einkommen und Lebens-
bedingungen), SOEP (sozio-oekonomische Panel), EVS (Einkommens- und
Verbraucherstichprobe) und Mikrozensus in den Einkommensjahren 2005
bis 2010 (zwecks Vergleichbarkeit hier und im Folgenden bitte immer die Ar-
mutsrisikowerte gemäß den Richtlinien der Expert Group on Household
Income Statistics 2001 mit imputierten Einkommensvorteilen, z. B. für
Haushalte in subventionierten Wohnungen oder in selbst genutztem Wohn-
eigentum, bestimmen, und wo dies nicht oder nur teilweise geschieht, bitte
ausdrücklich kennzeichnen)?

2. Wie hoch ist die Armutsrisikoquote bei Kindern und Jugendlichen unter
15 Jahren, unter 25 Jahren und bei Älteren über 65 Jahre gemäß EU-Standard
in der Bundesrepublik Deutschland und in den einzelnen Bundesländern nach
EU- SILC, SOEP, EVS und Mikrozensus in den Einkommensjahren 2005 bis
2010 (bitte getrennt nach Geschlecht, bezogen auf die jeweilige Altersgruppe
und bezogen auf alle Personen)?

3. Wie hoch ist die Armutsrisikoquote bei Erwerbslosen und bei Erwerbstätigen
gemäß EU-Standard in der Bundesrepublik Deutschland und in den einzelnen
Bundesländern nach EU-SILC, SOEP, EVS und Mikrozensus in den Einkom-
mensjahren 2005 bis 2010 (bitte getrennt nach Geschlecht, bezogen auf die
jeweilige Bevölkerungsgruppe und bezogen auf alle Personen)?

4. Wie hoch ist die absolute Anzahl der vom Armutsrisiko betroffenen Erwerbs-
losen und Erwerbstätigen gemäß EU-Standard in der Bundesrepublik
Deutschland und in den einzelnen Bundesländern nach EU-SILC, SOEP,
EVS und Mikrozensus in den Einkommensjahren 2005 bis 2010 (bitte ge-
trennt nach Geschlecht)?

5. Wie hoch sind die absolute Anzahl der vom Armutsrisiko Betroffenen und
die Armutsrisikoquote bei Alleinstehenden, bei Alleinerziehenden und bei
(Ehe-)Paaren gemäß EU-Standard in der Bundesrepublik Deutschland und in
den einzelnen Bundesländern nach EU-SILC, SOEP, EVS und Mikrozensus
in den Einkommensjahren 2005 bis 2010 (bitte getrennt nach Geschlecht und
Anzahl der Kinder, die Quote bezogen auf die jeweilige Haushaltgruppe und
auf alle Haushalte in der Bundesrepublik Deutschland und den Bundeslän-
dern)?

6. Wie hoch ist die Armutsrisikogrenze gemäß EU-Standard in der Bundes-
republik Deutschland nach EU-SILC, SOEP, EVS und Mikrozensus in den
Einkommensjahren 2005 bis 2010 (zwecks Vergleichbarkeit auch hier bitte
die Werte gemäß den Richtlinien der Expert Group on Household Income
Statistics 2001 mit imputierten Einkommensvorteilen, z. B. für Haushalte in
subventionierten Wohnungen oder in selbst genutztem Wohneigentum, be-
stimmen, und wo dies nicht oder nur teilweise geschieht, bitte ausdrücklich
kennzeichnen)?

7. Gibt es für die Bundesrepublik Deutschland insgesamt und in den einzelnen
Bundesländern eine Statistik über die Zahl von Wohnungslosen?

Welche Definition für Wohnungslosigkeit liegt den Statistiken zugrunde?

8. Wie hoch war die Zahl der Wohnungslosen zwischen 2005 und 2010 in der
Bundesrepublik Deutschland insgesamt und in den einzelnen Bundeslän-
dern?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/5641

9. Ist der Bundesregierung bekannt, wie hoch die Ausgaben aus den Landes-
haushalten für Angebote an Wohnungslose sind?

10. Wie viele Haushalte und Personen bezogen in den einzelnen Jahren 2005 bis
2010 in der Bundesrepublik Deutschland und in den einzelnen Bundeslän-
dern Wohngeld?

11. Wie hoch war deren Anteil an der Zahl der Haushalte und Personen in der
Bundesrepublik Deutschland und in den einzelnen Bundesländern in den
einzelnen Jahren 2005 bis 2010 insgesamt?

12. Wie viele Haushalte mit Erwerbslosen bezogen in den einzelnen Jahren
2005 bis 2010 in der Bundesrepublik Deutschland und in den einzelnen
Bundesländern Wohngeld?

13. Wie hoch war der Anteil der Haushalte mit Erwerbslosen, die Wohngeld
erhalten, an der Zahl der Haushalte mit Wohngeldbezug in der Bundes-
republik Deutschland und in den einzelnen Bundesländern in den einzelnen
Jahren 2005 bis 2010?

14. Wie hoch waren die jeweiligen jährlichen Gesamtausgaben für Wohngeld-
leistungen insgesamt und für Haushalte mit Erwerbslosen mit Wohngeldbe-
zug in den einzelnen Jahren 2005 bis 2010 in der Bundesrepublik Deutsch-
land und in den einzelnen Ländern?

15. Wie hoch war die Zahl derer, die Anspruch auf Wohngeld hatten, dies aber
nicht beantragten, in der Bundesrepublik Deutschland und in den einzelnen
Bundesländern in den Jahren 2005 bis 2010 (absolut und Quote Nichtinan-
spruchnahme)?

16. Wie beurteilt die Bundesregierung die Ergebnisse der Studie von Becker/
Hauser 2010: Kindergrundsicherung, Kindergeld und Kinderzuschlag. Eine
vergleichende Analyse aktueller Reformvorschläge (S. 138), die von ca.
zwei Dritteln Nichtinanspruchnahme des zustehenden Wohngeldes (vor der
Reform 2009) ausgeht?

17. Gedenkt die Bundesregierung eine Studie zur Nichtinanspruchnahme von
Wohngeld zu verfertigen, die sowohl das Ausmaß als auch die Ursachen der
Nichtinanspruchnahme darstellt?

18. Gedenkt die Bundesregierung Studien zur Nichtinanspruchnahme von
Wohngeld und entsprechende Strategien zur Sicherstellung der Inanspruch-
nahme zustehender Wohngeldleistungen in den kommenden Nationalen Ar-
muts- und Reichtumsbericht aufzunehmen?

19. Ist der Bundesregierung bekannt, wie viele Tafeln es gegenwärtig in der
Bundesrepublik Deutschland und in den einzelnen Bundesländern gibt?

20. Wie viele Personen wurden in den einzelnen Jahren 2005 bis 2010 in der
Bundesrepublik Deutschland und in den einzelnen Bundesländern von die-
sen Tafeln versorgt?

21. Wie erklärt sich die Bundesregierung die Zunahme der Tafeln und der mit
diesen Angeboten versorgten Personen?

22. Ist der Bundesregierung bekannt, in welchen Bundesländern die Tafeln in
welcher Höhe Zuschüsse aus dem Landeshaushalt erhalten?

23. Ist der Bundesregierung bekannt, wie viele Sozialkaufhäuser es gegenwär-
tig in der Bundesrepublik Deutschland und in den einzelnen Bundesländern
gibt?

24. Wie viele Personen haben in den einzelnen Jahren 2005 bis 2010 in der Bun-

desrepublik Deutschland und in den einzelnen Bundesländern Sozialkauf-
häuser genutzt?

Drucksache 17/5641 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
25. Wie erklärt sich die Bundesregierung die Zunahme der Sozialkaufhäuser
und die steigende Nutzung dieser?

26. Ist der Bundesregierung bekannt, in welchen Bundesländern die Sozialkauf-
häuser in welcher Höhe Mittel aus dem Landeshaushalt erhalten?

27. Gibt es für die Bundesrepublik Deutschland insgesamt und für die einzelnen
Bundesländer eine Statistik über die Zahl der Überschuldungen?

Welche Definition von Überschuldung liegt der Statistik zugrunde?

28. Wie viele Personen waren in der Bundesrepublik Deutschland und in den
einzelnen Bundesländern zwischen 2005 und 2010 überschuldet?

29. Wie viele Schuldner/Schuldnerinnen und Insolvente kamen in den einzel-
nen Jahren 2005 bis 2010 auf 100 000 Einwohner/Einwohnerinnen in der
Bundesrepublik Deutschland und in den einzelnen Bundesländern?

30. Wie viele Schuldner- und Privatinsolvenzberatungsstellen gibt es gegen-
wärtig in der Bundesrepublik Deutschland und in den einzelnen Bundeslän-
dern?

31. Ist der Bundesregierung bekannt, wie hoch die Summe der Förderung dieser
Beratungsstellen aus den jeweiligen Landeshaushalten ist?

32. Wie viele Mitarbeiter/Mitarbeiterinnen in Schuldner- und Privatinsolvenz-
beratungen kamen in den einzelnen Jahren 2005 bis 2010 auf 100 000 Ein-
wohner/Einwohnerinnen in der Bundesrepublik Deutschland und in den
einzelnen Bundesländern?

33. Ist der Bundesregierung bekannt, wie viele unabhängige Beratungsstellen
für Erwerbslose (freie Träger) es in den einzelnen Jahren 2005 bis 2010 in
der Bundesrepublik Deutschland und in den einzelnen Bundesländern gab?

34. Ist der Bundesregierung bekannt, wie hoch die Summe der jährlichen För-
derung für diese Beratungsstellen aus den Landeshaushalten in den einzel-
nen Jahren 2005 bis 2010 war?

35. Wie viele Mitarbeiter/Mitarbeiterinnen dieser Beratungsstellen wurden
durch die jeweiligen Länder in den einzelnen Jahren 2005 bis 2010 geför-
dert (getrennt nach Voll- und Teilzeit)?

Berlin, den 20. April 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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