BT-Drucksache 17/5639

Einsatz der Bundespolizei am 19. Februar 2011 in Dresden

Vom 20. April 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5639
17. Wahlperiode 20. 04. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Dr. Dagmar Enkelmann, Wolfgang Neskovic, Jens
Petermann, Raju Sharma, Frank Tempel und der Fraktion DIE LINKE.

Einsatz der Bundespolizei am 19. Februar 2011 in Dresden

Anlässlich von Protesten gegen einen Naziaufmarsch am 19. Februar 2011
waren über 3 000 Bundespolizisten im Einsatz. Im originären bahnpolizeilichen
Zuständigkeitsbereich waren 1 818 Beamte eingesetzt (normalerweise sind es
hier nur ca. 15), zusätzlich wurden 1 003 Beamte der sächsischen Polizei unter-
stellt, außerdem kurzfristig weitere drei Hundertschaften sowie eine Wasserwer-
fereinheit mit drei Wasserwerfern.

Das polizeiliche Vorgehen gegen die antifaschistischen Demonstrantinnen und
Demonstranten, die den Naziaufmarsch erfolgreich verhindert hatten, war von
einem hohen Maß an Gewalt geprägt. Die Fraktion DIE LINKE. hat hierauf in
ihrer Kleinen Anfrage „Gewaltsames Vorgehen der Polizei gegen Antifaschis-
tinnen und Antifaschisten am 19. Februar 2011 in Dresden“ (Bundestagsdruck-
sache 17/4992) aufmerksam gemacht und mehrere Belegstellen genannt. Diese
Gewalttaten waren zudem Anlass für eine Reihe von Fragen, die den konkreten
Einsatz der Bundespolizei betrafen, insbesondere die Verwendung von Pfeffer-
spray und von Wasserwerfern. Die Bundesregierung hat diese Fragen nur für
den bahnpolizeilichen Bereich beantwortet. Angaben zu den Tätigkeiten, die die
Bundespolizei im Aufgabenbereich des Freistaats Sachsen wahrgenommen ha-
ben, wurden hingegen verweigert: „Die Bundesregierung nimmt zu polizei-
lichen Einsätzen, soweit sie im Verantwortungsbereich eines Landes liegen – hier
des Freistaates Sachsen – keine Stellung und bewertet diese nicht“, so die Bun-
desregierung in ihrer Antwort (Bundestagsdrucksache 17/5270) auf die Kleine
Anfrage. Nach Auffassung der Fraktion DIE LINKE. ist die Bundesregierung
jedoch zur Beantwortung der Fragen verpflichtet und missachtet bei einer Aus-
kunftsverweigerung den Umfang des parlamentarischen Informationsan-
spruchs.

Aus Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 und Artikel 20 Absatz 2 Satz 2 des Grundgeset-
zes folgt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein
Frage- und Informationsrecht der Abgeordneten, dem grundsätzlich eine Ant-
wortpflicht der Bundesregierung korrespondiert. Diese Antwortpflicht unter-
liegt zwar gewissen Grenzen. So kann sich der parlamentarische Informations-
anspruch nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht auf Gegen-
stände erstrecken, die keinen Bezug zum Verantwortungsbereich der Bundes-

regierung haben (BVerfG, Beschluss vom 1. Juli 2009 – 2 BvE 5/06). In der
Literatur wird darauf verwiesen, dass der Verantwortungsbereich der Bundes-
regierung weiter zu fassen sei als der Zuständigkeitsbereich (Hölscheidt, Frage
und Antwort im Parlament, S. 31). Der Verantwortungsbereich umfasse viel-
mehr alles, worauf die Bundesregierung direkt oder indirekt Einfluss nehmen
könne. Der Verantwortungsbereich der Bundesregierung könne sich beispiels-
weise dann ergeben, wenn sie sich zu Themen äußere, die in die Zuständigkeit

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der Länder fallen, oder wenn sich die Bundesregierung finanziell in Bereichen
engagiere, die an sich Ländersache sind (Ritzel u. a., Handbuch für die parla-
mentarische Praxis, Vorbemerkungen zu § 100, II 3. j). Anknüpfungspunkte für
die Verantwortlichkeit der Bundesregierung könnten auch denkbare legislative
Konsequenzen auf Bundesebene sein (Nomos, Erläuterungen zur Geschäftsord-
nung des Deutschen Bundestages, Vorbemerkung zu § 100). Im Zweifel sei je-
denfalls der Verantwortungsbereich der Bundesregierung wegen der Bedeutung
des parlamentarischen Fragerechtes zu bejahen.

Vorliegend waren gleich mehrere Einflussmöglichkeiten der Bundesregierung
gegeben: So oblag es der Bundespolizei bzw. dem Bundesministerium des Innern
(BMI) zu prüfen, ob die Voraussetzungen des § 11 des Bundespolizeigesetzes
(BPolG) für eine Unterstellung von Einheiten unter den Freistaat Sachsen über-
haupt gegeben waren. Es oblag dem BMI auch, darüber zu entscheiden, wie
viele der von Sachsen erbetenen Bundespolizisten tatsächlich abkommandiert
wurden. Wie die Bundesregierung selbst in der Antwort auf die Kleine Anfrage
ausführte, sind zudem die Einsatzkonzepte von Bundespolizei und Polizeidirek-
tion Dresden aufeinander „abgestimmt“ worden, was schon vom Wortlaut her
ein gewisses Maß an Einfluss auf die Polizei Sachsen bedeutet. Hinzu kommt,
dass die Bundespolizeidirektion Pirna mit zwei Verbindungsbeamten im Füh-
rungsstab der Polizeidirektion Dresden vertreten war.

Eine Kompetenz, sich zu den von der Fraktion DIE LINKE. gestellten Fragen
zu äußern, ergibt sich auch unter dem Aspekt, dass der Polizeieinsatz zumindest
potentiell im Rahmen der Innenministerkonferenz behandelt werden könnte und
seine Auswertung denkbare legislative Konsequenzen auf Bundesebene nach
sich ziehen könnte (so ließe sich unter Umständen eine Notwendigkeit zur Än-
derung von § 11 BPolG ableiten).

Die Fragesteller fühlen sich in ihrer Auffassung eines weitreichenden Informa-
tionsanspruches durch die Entscheidung 2 BvE 5/06 des Bundesverfassungs-
gerichtes vom 1. Juli 2009 bestätigt. Es stellte für den Bereich des Verfassungs-
schutzes fest, dass im Prinzip davon auszugehen sei, dass eine Frage zum Kennt-
nisstand der Bundesregierung zu Aktivitäten anderer Länder-Geheimdienste
erkennbar in den Verantwortungsbereich der Bundesregierung falle. Es gebe
kein Verbot, sich zur Tätigkeit der Landesverfassungsschutzbehörden zu äußern.
Dafür, dass der Verantwortungsbereich der Bundesregierung berührt sein könne,
spreche bereits die Möglichkeit, Daten der Landesverfassungsschutzbehörden
zu nutzen. Dementsprechend ist nicht einzusehen, warum ein solches Verbot für
den Bereich von Landespolizeien gelten sollte. Auch zwischen Landes- und
Bundespolizei findet ein Datenaustausch statt (§ 31 Absatz 1 BPolG, § 48 des
Polizeigesetzes des Freistaates Sachsen – SächsPolG).

Eine Antwortpflicht der Bundesregierung ergibt sich erst recht, wenn man der
weitergehenden Auffassung folgt, wonach der Ansatz über den Verantwortungs-
bereich der Bundesregierung zu eng ist (Maunz/Dürig, Artikel 43, Rn. 100 ff.).
Das Fragerecht des Parlaments sei nicht allein Ausfluss des Kontrollrechts, son-
dern auch des Informationsrechts der Abgeordneten. Wenn die Bundesregierung
im Besitz von Informationen über Vorgänge im Bereich der Länder sei, bestehe
kein Grund, sie dem Deutschen Bundestag allein deshalb vorzuenthalten, weil
es sich um eine Angelegenheit handelt, die in den Zuständigkeitsbereich der
Länder fällt. Eine Frage sei nur dann unzulässig, wenn eine Kompetenz des Bun-
des, und sei es auch nur zur öffentlichen Erörterung des Gegenstandes, unter kei-
nem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt vorstellbar sei. Nach Auffassung des
Bundesverfassungsgerichts ist die Bundesregierung überall dort zur Informa-
tionsarbeit berechtigt, wo ihr eine gesamtstaatliche Verantwortung der Staatslei-
tung zukommt (BVerfGE 105, 252). Die Informationskompetenz ende nicht

schon dort, wo zusätzlich ein Handeln von Staatsorganen mit anderer Verbands-
kompetenz in Betracht kommt, etwa das der Landesregierungen im Zuge der

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Wahrnehmung ihrer eigenen staatsleitenden Aufgabe oder das der Verwaltung
im Rahmen polizeilicher Gefahrenabwehr.

Ein Aufmarsch von Neonazis, der im In- und Ausland vielfach beachtet wird,
und die Reaktion der Polizei hierauf ist allerdings nach Auffassung der Frage-
steller ein Vorgang, der nicht nur bundesweit erörtert werden kann, sondern so-
gar erörtert werden muss. Dass die Bundesregierung über die Informationen, die
von der Fraktion DIE LINKE. erfragt worden waren, verfügt, ist dabei gar nicht
strittig, sondern ergibt sich aus der Sache selbst. Eine Befugnis, sich zur polizei-
lichen Einsatzkonzeption zu äußern, ergibt sich nicht nur aus der bereits erwähn-
ten nationalen und internationalen politischen Sensibilität des geplanten Nazi-
aufmarsches und der Proteste hiergegen, sondern auch aus der Fürsorgepflicht,
welche die Bundesregierung für die an den Freistaat Sachsen „ausgeliehenen“
Bundespolizisten hat. Zu diesem Zweck findet schließlich eine Auswertung des
Einsatzes auf Seiten der Bundespolizei statt. Zudem hatte der Polizeieinsatz einen
überregionalen Charakter, da nicht nur Demonstrantinnen und Demonstranten,
sondern auch Bundes- und Länderpolizisten aus mehreren Bundesländern in
Dresden waren.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Auf welcher Rechtsgrundlage waren die 1 003 Beamten, die laut Bundes-
regierung (Bundestagsdrucksache 17/5270, Antwort zu Frage 1) zur Unter-
stützung der sächsischen Polizei eingesetzt waren, im Einsatz?

Falls diese ebenfalls auf Grundlage des § 11 BPolG im Einsatz waren, warum
hat die Bundesregierung in Frage 2 auf Bundestagsdrucksache 17/5270 den
Einsatz weiterer Polizisten gesondert erwähnt?

2. Welche Höhe betragen die einsatzbedingten Mehrkosten, die beim Einsatz
der Bundespolizei am 19. Februar 2011 in Dresden angefallen sind, und wer
übernimmt diese?

3. Was war die Aufgabe der beiden Verbindungsbeamten der Bundespolizei-
direktion Pirna im Führungsstab der Polizeidirektion Dresden?

4. Wie sah das Einsatzkonzept der sächsischen Polizei aus, von dem die Bun-
despolizei im Rahmen der Abstimmung der Einsatzkonzepte sowie der Tä-
tigkeit der Verbindungsbeamten Kenntnis erhalten hat, welche Elemente hat
die Bundespolizei bei der Abstimmung als besonders wichtig eingebracht,
und wie bewertet die Bundesregierung die Umsetzung des abgestimmten
Einsatzkonzeptes?

5. Was versteht die Bundesregierung unter „Aufklärung u. a. gegen gewaltbe-
reite Personen“ (Bundestagsdrucksache 17/5270, Antwort zu Frage 4), wel-
che Maßnahmen sind hierbei konkret durchgeführt worden, bzw. welche
Maßnahmen gehören konzeptionell zu dieser Aufklärung?

6. Wie bewertet die Bundesregierung die Durchsuchung des Pressebüros des
Bündnisses „Dresden Nazifrei“, bei der auch Räume der Partei DIE LINKE.
durchsucht und Computer sowie Mobiltelefone beschlagnahmt wurden?

Welche rechtliche Grundlage gab es nach Kenntnis der Bundesregierung für
diese Aktion?

7. Ist bei einer Einsatzvorbesprechung nach Kenntnis der Bundesregierung die
Gefährdung des linken Hausprojektes „Praxis“ thematisiert worden, das spä-
ter von Nazis überfallen worden ist, und wenn ja, was wurde dazu ausgeführt,
und welche Maßnahmen wurden zum Schutz eingeleitet?

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8. Haben Angehörige der Bundespolizei, die dem Freistaat Sachsen unterstellt
worden waren, Pfefferspray oder andere Reizmittel verwendet, und wenn ja,

a) wann und wo genau,

b) wie viele Sprühdosen wurden verbraucht, bzw. welcher Ersatzbedarf
wurde angezeigt (bitte jeweils die Füllmenge angeben)?

9. Haben die drei Wasserwerfer der Bundespolizei, die dem Freistaat, unter-
stellt worden sind, während des Einsatzes Wasser abgegeben, und wenn ja,

a) wann und wo genau, und inwiefern waren dem Wasser Reizstoffe beige-
mischt,

b) inwiefern wurden die Opfer des Einsatzes vorgewarnt, bzw. in welchen
Fällen ist dies unterblieben (bitte begründen),

c) inwiefern war die Bundespolizei am Wasserwerfereinsatz, wie er auf
www.youtube.com/ dokumentiert ist, beteiligt, und falls sie beteiligt war,
wie schätzt die Bundesregierung die rechtliche Zulässigkeit dieses Ein-
satzes ein?

10. Haben dem Freistaat Sachsen unterstellte Bundespolizisten anlässlich des
Einsatzes remonstriert, und wenn ja, was war Gegenstand der Remonstra-
tionen, und wie haben die Vorgesetzten hierauf reagiert?

11. Aus welchen Gründen hat die Bundespolizei entschieden, zwei Beamte in
die Sonderkommission 19. Februar 2011 zu entsenden?

a) Welche besonderen Prioritäten sollen diese Beamten verfolgen?

b) Inwiefern haben diese Beamten die Möglichkeit, bestimmte Themen zur
genaueren Untersuchung vorzuschlagen?

c) Setzen sich diese Beamten dafür ein, den Überfall auf das „Haus der Be-
gegnung“ am Abend des 19. Februar 2011 zu untersuchen?

d) Fertigt die Sonderkommission Sitzungsprotokolle an, und wenn ja,
inwiefern hat die Bundespolizei bzw. die Bundesregierung auf diesen
Zugriff?

Berlin, den 20. April 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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