BT-Drucksache 17/5379

25 Jahre Reaktorkatastrophe von Tschernobyl - Atomkraftwerke abschalten

Vom 6. April 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5379
17. Wahlperiode 06. 04. 2011

Antrag
der Abgeordneten Dorothee Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert,
Dr. Barbara Höll, Harald Koch, Ulla Lötzer, Richard Pitterle, Michael Schlecht,
Dr. Ilja Seifert, Sabine Stüber, Dr. Axel Troost, Johanna Voß, Sahra Wagenknecht
und der Fraktion DIE LINKE.

25 Jahre Reaktorkatastrophe von Tschernobyl – Atomkraftwerke abschalten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Am 26. April 1986 explodierte nach einer Kernschmelze der Block 4 des sowje-
tischen Atomkraftwerks Tschernobyl auf dem Gebiet der heutigen Ukraine. Ein
großer Teil des radioaktiven Inventars wurde dabei in die Umwelt freigesetzt.
Durch einen tagelangen Graphitbrand gelangten leichtflüchtige radioaktive
Stoffe in Höhen von bis zu 10 000 Metern in die Atmosphäre und verteilten sich
auf der gesamten Nordhemisphäre. Allein 40 Prozent der Fläche des europä-
ischen Kontinents wurde dabei mit Cäsium-137 kontaminiert, einem radioaktiven
Isotop mit einer Halbwertszeit von 30 Jahren. Die unmittelbare Umgebung, ins-
besondere Territorien des heutigen Belarus, wurden infolge der Katastrophe
unbewohnbar. Ein Viertel der Fläche des ukrainischen Nachbarstaates wurde
dauerhaft radioaktiv kontaminiert. Eine Fläche von knapp der zweifachen Größe
des Saarlandes rings um das Atomkraftwerk ist heute unbewohnbares Sperr-
gebiet, auf dem gesundes Leben Jahrhunderte lang nicht möglich sein wird. Als
Folge der Katastrophe haben bis heute mehrere zehntausend Menschen nach
Strahlen- und Krebsleiden ihr Leben verloren und noch über viele Generationen
werden Menschen mit Behinderung und chronischen Erkrankungen geboren.

Kurz vor dem 25. Jahrestag der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl am 26. April
2011, führt uns die Havarie der japanischen Atomkraftwerke in Fukushima auf
dramatische Weise abermals die unbeherrschbaren Gefahren der Atomkraft vor
Augen.

Die Ereignisse von Tschernobyl 1986, Fukushima 2011, Majak 1957, Three
Mile Island/Harrisburg 1979, Sellafield 1957 und weitere Unfälle und Teilkern-
schmelzen mit radioaktiver Kontamination der Umwelt in Atomkraftwerken,
Forschungsreaktoren und atomaren Antriebstechnologien zeigen, dass Atom-
energie grundsätzlich mit nicht beherrschbaren Risiken verbunden ist. Diese
Risiken beschränken sich nicht auf die Gebiete eines einzelnen Nationalstaates,
sondern beziehen großräumige Regionen ein. Die Folgen atomarer Unfälle

müssen aufgrund grenzübergreifender Naturräume und grenzüberschreitenden
Handels von allen Menschen getragen werden. Diese Risiken zu minimieren
und abzuschaffen, ist Aufgabe einer verantwortungsvollen Energie-, Umwelt-
und Außenpolitik.

Drucksache 17/5379 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Mit der Verlängerung der Laufzeiten für die deutschen Atomkraftwerke und
den damit verbundenen unzureichenden Sicherheits- und Nachrüstanforderun-
gen hat die Bundesregierung einen Schritt in die falsche Richtung getan. Sie
setzt die Bevölkerung einem unnötigen Risiko aus. Das einstweilige Morato-
rium für die Nutzung der acht ältesten Atomkraftwerke in Deutschland, das die
Bundesregierung im März 2011 beschlossen hat, ist nur dann ein Schritt in die
richtige Richtung, wenn es sich dabei nicht nur um ein Wahlkampfmanöver
handelt, sondern ihm als einzig logische Konsequenz ein Atomausstiegsgesetz
folgt. Nur die konsequente Abkehr von der Atomenergie und die unverzügliche
und unumkehrbare Abwicklung des deutschen Atomprogramms kann die Risi-
ken radioaktiver Kontaminationen für den mitteleuropäischen Raum minimie-
ren. Darüber hinaus sind intensive Bestrebungen vonnöten, auf EU-Ebene und
darüber hinaus auf einen weltweiten Atomausstieg hinzuarbeiten. Dazu gehört
ein Embargo für den Im- und Export von Technologie für Atomenergien. Dazu
gehört auch ein Verbot von Atomwaffen, nicht nur innerhalb der deutschen
Grenzen, sondern auf UN-Ebene ein Hinwirken auf ein Verbot sämtlicher Nuk-
learwaffen weltweit.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. Projekte und Initiativen von Nichtregierungsorganisationen zur Unterstüt-
zung der Opfer der Reaktorkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima
aktiv und dauerhaft zu fördern;

2. einen Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes vorzulegen, der das
Verbot der Nutzung von Atomtechnologien zur Energiebereitstellung und
für militärische Zwecke vorsieht;

3. alle Atomkraftwerke in Deutschland unverzüglich, d. h. ohne schuldhaftes
Zögern, stillzulegen:

– die sieben ältesten Atomkraftwerke – Biblis A, Neckarwestheim 1, Biblis
B, Brunsbüttel, Isar 1, Unterweser und Philippsburg I – sowie das Atom-
kraftwerk Krümmel sofort und auf Dauer stillzulegen;

– bis zum 30. April 2011 ein Atomausstiegsgesetz vorzulegen, das die un-
verzügliche Abschaltung der übrigen Atomkraftwerke regelt;

4. sich bei der Sicherheitsüberprüfung der deutschen Atomkraftwerke verbind-
lich an den Eckpunkten der Arbeitsgruppe Reaktorsicherheit des Bundes-
ministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) vom
16. März 2011 zu orientieren;

5. die Sicherheitsüberprüfung nach den Maßstäben der Arbeitsgruppe Reaktor-
sicherheit des BMU vom 16. März 2011 auf sämtliche atomaren Anlagen
auszuweiten und sofort Forschungsreaktoren, Zwischenlager und Landes-
sammelstellen für radioaktive Abfälle insbesondere auf notwendige Nachrüs-
tungen und Instandhaltungsmaßnahmen zu überprüfen;

6. die Initiative Österreichs auf EU-Ebene zur Beendigung der EU-Förderung
der Atomenergie jenseits von Forschung zur Sicherheit und Entsorgung zu
unterstützen und sich entschieden für die Auflösung des Vertrags zur Grün-
dung der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) einzusetzen und
die damit einhergehende Förderung der Atomenergie zu beenden;

7. einen Gesetzentwurf für ein Im- und Exportverbot jeglicher Technologien
und Produkte vorzulegen, die der Nutzung der Atomtechnologie für militäri-
sche Zwecke oder zur Energiegewinnung dienen;

8. einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Überführung der Rückstellungen

der Anlagenbetreiber für Stilllegung, Rückbau und Entsorgung von Atom-
anlagen in einen öffentlich-rechtlichen Fonds vorsieht;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/5379

9. einen Gesetzentwurf vorzulegen, der Bürgschaften und andere finan-
zierungsfördernde Maßnahmen für Projekte zur Nutzung von Atomtechno-
logien für militärische Zwecke und zur Energiegewinnung in anderen Staa-
ten durch in Deutschland agierende Unternehmen, insbesondere Banken,
verbietet;

10. keinerlei Bürgschaften für die Verwirklichung oder den Erhalt von Projek-
ten zur Nutzung von Atomtechnologien für militärische Zwecke und zur
Energiegewinnung in anderen Staaten zur Verfügung zu stellen;

11. eine Informationsoffensive zu starten, die die Bevölkerung über die Gefah-
ren und Folgen eines möglichen Reaktorunfalls aufklärt;

12. einen Plan vorzulegen, der das Krisenmanagement im Falle eines Reaktor-
unfalls für die einzelnen deutschen Atomkraftwerke bis zu deren endgül-
tigen Abschaltung aufzeigt;

13. eine Analyse über fehlerhafte Informationspolitik und Versäumnisse bei
der Bekanntgabe meldepflichtiger Ereignisse in atomaren Anlagen durch
Betreiber und Behörden vorzulegen und daraus ordnungspolitische Konse-
quenzen zu ziehen.

Berlin, den 6. April 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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