BT-Drucksache 17/5233

Umfassende Entschädigung für Radarstrahlenopfer der Bundeswehr, der ehemaligen NVA und ziviler Einrichtungen

Vom 23. März 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5233
17. Wahlperiode 23. 03. 2011

Antrag
der Abgeordneten Inge Höger, Paul Schäfer (Köln), Kathrin Vogler, Jan van Aken,
Christine Buchholz, Dr. Martina Bunge, Sevim Dag˘delen, Dr. Diether Dehm,
Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, Heike Hänsel, Andrej Hunko, Ulla Jelpke,
Harald Koch, Stefan Liebich, Niema Movassat, Thomas Nord, Alexander Ulrich,
Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Umfassende Entschädigung für Radarstrahlenopfer der Bundeswehr,
der ehemaligen NVA und ziviler Einrichtungen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Viele Soldaten der Bundeswehr und der ehemaligen Nationalen Volksarmee
(NVA), insbesondere junge Wehrdienst leistende Männer, sind bis in die 80er-
Jahre hinein vollkommen unwissend mit ionisierender Strahlung und Röntgen-
strahlung in Berührung gekommen und haben gesundheitsschädliche Partikel
inkorporiert. Einige von ihnen sind daraufhin schwer erkrankt. Die Betroffenen
können einen ursächlichen Zusammenhang in vielen Fällen aber nicht lückenlos
nachweisen, da es weder ausreichende Aufzeichnungen über den Umgang mit
Strahlen- und Radarquellen noch über Dauer und Intensität der Exposition jedes
einzelnen Soldaten gibt. Aufgrund des fehlenden Gefahrenbewusstseins dieser
Zeit können Betroffene folglich auf kein „Beweismaterial“ für ihre Schädigung
zurückgreifen. Den Dienstherrn entbindet dies aber nicht von seiner Verantwor-
tung und Fürsorgepflicht. Die Umkehr der Beweislast wird daher verständli-
cherweise von den Betroffenen gefordert.

Die Frage nach einer Entschädigung der Soldaten gestaltet sich folglich äußerst
schwierig. Sie beschäftigt den Deutschen Bundestag seit dem Jahr 2000. Im
Jahre 2002 empfahl der Verteidigungsausschuss die Einsetzung einer Kommis-
sion. Im Abschlussbericht der „Radarkommission“ von 2003 wurden Kriterien
erstellt, die festgelegen, in welchen Fällen eine Krankheit auf Strahleneinwir-
kung zurückzuführen ist. Der Bericht machte zudem weiteren Forschungsbedarf
geltend insbesondere zur Untersuchung der gesundheitlichen Auswirkungen
von HF-Strahlung und zu Aspekten der ionisierenden Strahlung.

Laut Antwort der Bundesregierung (Bundestagsdrucksache 17/3607 vom 2. No-
vember 2010) wurden dennoch von den bisher 3 803 gestellten Anträgen auf
Versorgung nur rund 19,7 Prozent (751) zugunsten der Antragsteller entschie-
den, während 68 Prozent (2 587) abgelehnt wurden. Dabei gehen der Bund zur
Unterstützung Radargeschädigter, die Interessenvertretung der ehemaligen
Bundeswehrsoldaten, der Bund zur Unterstützung Strahlengeschädigter, die
Interessenvertretung ehemaliger NVA-Soldaten und anderer Mitarbeiter ziviler
Einrichtungen der DDR davon aus, dass die Bundesregierung die Anerken-
nungskriterien des Radar-Berichtes nicht wohlwollend im Sinne der Antragstel-
ler auslegen.

Drucksache 17/5233 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Doch nicht nur Soldaten haben bei ihrer Arbeit mit Radargeräten Schaden getra-
gen. Auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ziviler Einrichtungen wie der
Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft Wismut in der ehemaligen DDR oder
der Atomkraftwerke in Ost und West. Da die Erfassung und Kategorisierung
dieser Geschädigtengruppen bislang noch nicht umfassend stattfand, scheint
hier die Anerkennung, Entschädigung und Versorgung eine besondere Heraus-
forderung zu sein.

In der 16. Wahlperiode waren sich alle im Deutschen Bundestag vertretenen
Fraktionen einig, dass es zeitnah eine umfassende Lösung des Problems im
Sinne der Geschädigten geben muss (Plenarprotokoll 16/230). Dies ist ange-
sichts des oft fortgeschrittenen Alters der Betroffenen und ihrer ernsten Erkran-
kungen umso dringlicher. Trotz zahlreicher Zusagen aus der Verwaltung, eine
Stiftungslösung voranzutreiben, stagniert der Prozess der Aufarbeitung und der
Entschädigung nunmehr seit mehreren Jahren. Der politische Wille, den Betrof-
fenen möglichst zügig und unbürokratisch zu helfen, ist über die Grenzen der
Fraktionen hinweg indes weiter vorhanden. Jetzt müssen Taten folgen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

in Umsetzung der Erkenntnisse der Radarkommission und vor dem Hintergrund
des hohen Alters der Betroffenen zeitnah einen Entwurf für ein Radarstrahlen-
opfer-Gesetz vorzulegen, das sich an folgenden Maßgaben orientiert:

1. Die unterschiedlichen Anerkennungs- und Entschädigungsverfahren von
radargeschädigten ehemaligen Bundeswehrangehörigen, NVA-Soldaten so-
wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ziviler Einrichtungen der DDR und
der Bundesrepublik Deutschland müssen im Sinne der Betroffenen vorange-
trieben werden. Nach geeigneten, gangbaren, unbürokratischen und schnel-
len Lösungen ist zu suchen. Die Ermessensspielräume bzw. die Beurteilungs-
spielräume für das Vorliegen der Anerkennungskriterien sollten zugunsten
der Betroffenen nicht zu eng gefasst sein.

2. Radargeschädigte ehemalige Angehörige der Bundeswehr, der NVA sowie
ziviler Einrichtungen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland sind
gleich zu behandeln.

3. Neben dem Staat sind auch die Radargerätehersteller angemessen an den Ent-
schädigungskosten zu beteiligen.

4. Die Verstrahlung von Angehörigen von Bundeswehr, NVA und ziviler Ein-
richtungen der ehemaligen DDR und der Bundesrepublik Deutschland muss
weiter aufgeklärt und dokumentiert werden. Dazu muss erneut eine unabhän-
gige Expertenkommission ins Leben gerufen und personell angemessen aus-
gestattet werden.

5. Eine Radarkommission soll erneut eingesetzt werden und mindestens einmal
im Jahr dem Deutschen Bundestag über den Fortgang ihrer Arbeit berichten.
Neben der Anerkennung, Entschädigung und Versorgung der Radargeschä-
digten soll sie sich mit der Verbesserung der Strahlensicherheit beschäftigen
und somit einen Beitrag zur Vermeidung künftiger strahlenbedingter Berufs-
krankheiten leisten.

Berlin, den 23. März 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/5233

Begründung

Während des Kalten Krieges mussten Millionen junger Männer in der alten
Bundesrepublik Deutschland und in der ehemaligen DDR Dienst an der Waffe
leisten. Dies galt besonders in der DDR, wo auch als Ersatzdienst lediglich der
Bausoldat zugelassen war. Junge wehrpflichtige Männer und Berufssoldaten
wurden in allen Bereichen der Bundeswehr und der NVA eingesetzt. Viele von
ihnen kamen während ihrer Dienstzeit mit Radartechnik, Leuchtfarbe und an-
deren Quellen ionisierender Strahlen in Berührung. Besonders in den 50er- und
60er-Jahren, aber auch noch bis in die 80er-Jahre hinein war der Umgang mit
ionisierenden Strahlenquellen häufig unbedarft.

Das Dienstverhältnis eines Soldaten oder einer Soldatin weist und wies das
Alleinstellungsmerkmal des „Gehorsams“ auf. Auch das darf (trotz des Prinzips
der „Inneren Führung“ in der Bundeswehr) weder in der Bundeswehr noch in
der NVA unterschätzt werden. Die Soldaten haben Befehle ausgeführt und mit
dem Gerät gearbeitet, das sie vorfanden. Entscheidend ist, dass die Fürsorge-
pflicht des Dienstherrn ebenfalls sowohl bei der Bundeswehr als auch bei der
NVA bestand. Folglich vertrauten die jungen Menschen ihren Vorgesetzten in
der Regel, wenn diese sie an Waffen, Radargeräten, militärischen Kompassen
etc. ausbildeten. Unklar ist, inwiefern Vorgesetzte unterer Ebenen selbst Kennt-
nis darüber hatten, mit welch gefährlichen Stoffen sie arbeiten ließen und auch
selbst arbeiteten.

Seit Einsatz der Radargeräte gab es eine Diskussion über die gesundheitlichen
Risiken, die sie mit sich bringen. Mit der Zeit konnte die Forschung die Gefah-
ren ionisierender Strahlen nachweisen und in der Folge wurden im militärischen
Bereich sukzessive zahlreiche Schutzvorschriften erlassen sowie eine kon-
sequente Erfassung von Daten hinsichtlich des Umgangs mit Strahlenquellen
vorangetrieben. Eine umfassende Information und Aufklärung fand jedoch bis
zum Einsetzen der sogenannten Radarkommission im Jahr 2002 nicht statt.
Selbst mit dem Bericht dieser Kommission aus dem Jahr 2003 ist der Bedarf an
Forschung und Aufarbeitung noch nicht vollständig befriedigt gewesen.

Es fehlen daher genaue Aufzeichnungen und Messungen aus der Zeit des
Einsatzes der Strahlenquellen. Weder gibt es lückenlose und präzise Aufzeich-
nungen darüber, welcher Soldat zu welcher Zeit wie lange mit welchen Strahlen-
quellen in Berührung gekommen ist, noch wurden genau die jeweiligen
Einsatzbereiche eines jeden Soldaten erfasst. Das entlässt den Dienstherrn aber
nicht aus der Pflicht, Fürsorgeleistungen für die im Dienst Geschädigten zu
erbringen.

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