BT-Drucksache 17/5177

Arbeitnehmerfreizügigkeit sozial gestalten

Vom 22. März 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5177
17. Wahlperiode 22. 03. 2011

Antrag
der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze,
Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich, Werner Dreibus, Klaus Ernst,
Katja Kipping, Cornelia Möhring, Kornelia Möller, Yvonne Ploetz,
Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Arbeitnehmerfreizügigkeit sozial gestalten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Ab Mai 2011 tritt für die Bundesrepublik Deutschland eine nahezu vollständige
Arbeitnehmerfreizügigkeit in Kraft. Ab diesem Zeitpunkt können Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer aus den im Jahre 2004 der Europäischen Union bei-
getretenen Mitgliedsstaaten Mittel- und Osteuropas ohne Beschränkungen in
Deutschland eine Beschäftigung suchen und aufnehmen. Gleichzeitig enden zu
diesem Zeitpunkt Übergangsregelungen im Bereich der Dienstleistungsfreiheit,
die bisher für bestimmte Branchen wie das Bau- und Reinigungsgewerbe die
Entsendung von Beschäftigten beschränkten.

Die Öffnung der Grenzen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist zu be-
grüßen. Sie sollten frei über ihren Aufenthalts- und Arbeitsort entscheiden dür-
fen. Jeder Mensch hat das gleiche Recht auf Freizügigkeit. Offene Grenzen sind
zentraler Bestandteil eines sozialen, solidarischen und auf gleichen Rechten be-
ruhenden Europas – ohne Ausgrenzung und Diskriminierung.

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit kann nur ein Schritt auf dem Weg zu einem
gemeinsamen Europa werden, wenn für die Beschäftigten Schutzmechanismen
gewährleistet werden. Diese verhindern, dass der Wettbewerb zwischen den
Unternehmen auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen wird. Ein solcher
Schutzmechanismus ist der gesetzliche Mindestlohn in Kombination mit der Er-
leichterung von Allgemeinverbindlicherklärungen für darüber liegende Bran-
chenmindestlöhne. Ein weiterer Schutzmechanismus ist die Verankerung des
Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Ausnahmetatbestände für die Leiharbeit.
Beides fehlt in Deutschland.

Ebenso wenig gibt es für mobile Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausrei-
chend Beratungsmöglichkeiten, die über in Deutschland geltende Rechte infor-
mieren und den Betroffenen helfen, ihre Rechte auch durchzusetzen. Hier be-

steht dringender Handlungsbedarf. Das Land Berlin geht mit gutem Beispiel
voran. Seit August 2010 gibt es hier eine Beratungsstelle für entsandte Beschäf-
tigte, die mobilen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit Rat und Tat zur
Seite steht. Träger dieser Beratungsstelle ist Arbeit und Leben Berlin e. V., an-
gesiedelt ist sie beim DGB Berlin-Brandenburg. Finanziert wird die Beratungs-
stelle von der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen.

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Nicht zuletzt ist der Bereich der wissenschaftlichen Begleitung der anstehenden
Arbeitnehmerfreizügigkeit ungenügend. Es fehlt sowohl an belastbaren Progno-
sen über die Auswirkungen als auch an einer Begleitung der ab Mai 2011 tat-
sächlich stattfindenden Prozesse. Auch die statistische Erfassung grenzüber-
schreitender Beschäftigung ist unzureichend, wie sich am Beispiel der
Entsendungen von Beschäftigten nach Deutschland zeigt. All dies ist allerdings
Voraussetzung, um seriös über notwendige politische Schritte zur sozialen Aus-
gestaltung der Arbeitnehmerfreizügigkeit entscheiden zu können. Eine statisti-
sche Erfassung von Entsendearbeit erleichtert zudem die Kontrolle der Einhal-
tung von Mindestlohnvorschriften.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich auf EU-Ebene für die Aufnahme einer sozialen Fortschrittsklausel in das
Vertragswerk der Europäischen Union einzusetzen. Arbeitnehmerrechte und
erkämpfte Lohnstandards dürfen nicht länger für die ökonomischen Grund-
freiheiten geopfert werden. Daher muss eine soziale Fortschrittsklausel re-
geln, dass im Konfliktfall soziale Grundrechte Vorrang vor den Grundfreihei-
ten des Kapitals haben müssen;

2. auf EU-Ebene auf eine Revision der Entsenderichtlinie hinzuwirken. Dabei
muss definiert werden, dass sie lediglich Mindestanforderungen formuliert
und nicht als „Maximalrichtlinie“ zu verstehen ist. Das Prinzip „Gleicher
Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Arbeitsort“ muss Anwendung finden.
Darüber hinaus muss sich die Bundesregierung im Rat der Europäischen
Union dafür einsetzen, dass entsprechend der Entschließung des Europä-
ischen Parlaments vom 9. Oktober 2008 (2008/2034(INI)) die EU eine Ziel-
vorgabe zum Niveau von Mindestlöhnen in Höhe von mindestens 60 Prozent
des nationalen Durchschnittslohns vereinbart sowie des Weiteren dafür, dass
ein Zeitplan zur Einhaltung dieser Vorgabe in allen Mitgliedstaaten festgelegt
wird;

3. bis zum 1. Mai 2011 einen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland einzu-
führen, der bis spätestens 1. Mai 2013 auf 10 Euro brutto pro Stunde angeho-
ben wird. Gleichzeitig ist das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf alle Branchen
auszuweiten und die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen zu
erleichtern, sofern diese Mindestentgelte vorsehen, die über dem gesetz-
lichen Mindestlohn liegen. Für die Leiharbeit ist gesetzlich zu regeln, dass
der Gleichbehandlungsgrundsatz ab dem ersten Einsatztag im Entleihbetrieb
ohne Ausnahme Anwendung findet;

4. unverzüglich dafür Sorge zu tragen, dass in Deutschland ein flächendecken-
des Netz von Beratungsstellen für mobile Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer aufgebaut wird. Der Bund muss dauerhaft die Finanzierung dieser Bera-
tungsstellen sicherstellen;

5. Studien in Auftrag zu geben, welche die Entwicklungen ab 1. Mai 2011 hin-
sichtlich ihrer Wirkungen auf den Arbeitsmarkt, das Lohngefüge in den ein-
zelnen Branchen und Regionen, die Arbeitsbedingungen und insbesondere
auf atypische oder prekäre Beschäftigungsformen untersuchen. Darüber hin-
aus müssen solche Studien den Fragen nachgehen, inwiefern die institutionel-
len und rechtlichen Rahmenbedingungen zum Schutz der Beschäftigten aus-
reichen und ob gegebenenfalls Bedarf an zusätzlichen Regelungen besteht. In
Brandenburg hat die Landesregierung bereits eine ähnliche Analyse in Auf-
trag gegeben. Eine bundesweite Betrachtung ist angebracht;

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6. das Personal der Finanzkontrolle Schwarzarbeit unverzüglich um mindestens
4 800 Stellen aufzustocken, um ausreichende Kontrollen der Einhaltung von
Mindestlohnvorschriften zu ermöglichen. Zudem sind die Sanktionen bei
Verstößen zu verschärfen. Wenn es sich um eine öffentliche Auftragsvergabe
handelt, ist ein Unternehmen im Falle des Verstoßes gegen Mindestlohnvor-
schriften sofort von der Leistungserbringung auszuschließen;

7. eine vollständige statistische Erfassung im Bereich von Entsendearbeit zu
erschaffen. Es muss eine anonymisierte Datengrundlage erstellt werden, die
alle nach Deutschland entsandten Beschäftigten umfasst. Hierzu ist unter
anderem die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 vom 16. September 2009 unver-
züglich umzusetzen. Die statistische Erfassung muss eine Differenzierung
nach Branche, Herkunftsland und Beschäftigungsdauer ermöglichen. In ei-
nem ersten Schritt muss die Bundesfinanzdirektion West als für die Erfassung
von Entsendungen auf der Grundlage des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes
(§ 18) zuständige Behörde beauftragt werden, die Entsendungen so weit wie
möglich auch für die Vergangenheit statistisch zu erfassen und in ihren Jah-
resberichten auszuweisen. Das zuständige Bundesministerium der Finanzen
hat dafür die notwendigen finanziellen Ressourcen zur Verfügung zu stellen;

8. zu prüfen, inwiefern durch eine Pflicht zur Entrichtung der Sozialversiche-
rungsbeiträge in die sozialen Sicherungssysteme des Ziellandes (Arbeitsort)
bei einer Entsendung, deren Dauer drei Monate überschreitet, verhindert wer-
den kann, dass Arbeitgeber Entsendungen durchführen, um angesichts unter-
schiedlich hoher Beitragssätze in den einzelnen Mitgliedstaaten Kosten zu
sparen. Hierbei ist zu beachten, dass das Verfahren zur Übertragbarkeit von
Ansprüchen für die Beschäftigten möglichst unbürokratisch zu verlaufen hat.

Berlin, den 22. März 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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