BT-Drucksache 17/5174

Sanktionen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und Leistungseinschränkungen im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch abschaffen

Vom 22. März 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5174
17. Wahlperiode 22. 03. 2011

Antrag
der Abgeordneten Katja Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
Heidrun Dittrich, Klaus Ernst, Jutta Krellmann, Caren Lay, Cornelia Möhring,
Jens Petermann, Yvonne Ploetz, Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann
und der Fraktion DIE LINKE.

Sanktionen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und Leistungseinschränkungen
im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch abschaffen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das politische und staatliche Handeln in der Bundesrepublik Deutschland ist mit
Artikel 1 des Grundgesetzes (GG) auf die Achtung und den Schutz der Würde
des Menschen auszurichten. Aus der Menschenwürde ergibt sich in Kombina-
tion mit dem Sozialstaatsgebot nach Artikel 20 GG das Grundrecht auf ein men-
schenwürdiges Existenzminimum. Dieses Grundrecht ist durch das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 bestätigt worden. Nach diesem
Urteil ist das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum dem
Grunde nach unverfügbar.

Mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum ist eine ge-
setzliche Regelung unvereinbar, die zu einer Unterschreitung des Existenzmini-
mums führt. Diese Konsequenz wird aber durch die Sanktionsregelungen in den
Grundsicherungssystemen billigend in Kauf genommen. Die Sanktionsregelun-
gen stellen das Herzstück einer grundrechtswidrigen und sachlich kontraproduk-
tiven Aktivierungsideologie dar. Mit dieser Ideologie werden soziale Missstände
zu einem Ergebnis individuellen Fehlverhaltens und fehlender Motivation umge-
deutet. Massenerwerbslosigkeit erscheint hier nicht als das strukturelle Ergebnis
des kapitalistischen Wirtschaftssystems, sondern als Folge falschen individuel-
len Verhaltens.

Das Sanktionsrecht verbreitet Angst und Existenznot unter den Leistungsbe-
rechtigten der Grundsicherungssysteme. Es untergräbt ihre Würde, indem sie zu
Objekten der staatlichen Bürokratien degradiert werden. Zugleich macht das
Sanktionsrecht die Leistungsberechtigten gegenüber den Zumutungen ausbeute-
rischer Arbeitsverhältnisse wehrlos. Die Politik fördert auf diese Weise men-
schenunwürdige Arbeitsbedingungen und trägt maßgeblich zu der Ausweitung
des Niedriglohnsektors bei.
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf zur Begründung einer sanktionsfreien Mindestsicherung
mit folgendem Kernpunkt vorzulegen:

Drucksache 17/5174 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

1. In der bestehenden Grundsicherung nach dem Zweiten Buch Sozialgesetz-
buch (SGB II) werden sämtliche Sanktionen und im Zwölften Buch Sozial-
gesetzbuch (SGB XII) werden die Leistungseinschränkungen abgeschafft.
Ein Unterschreiten des menschenwürdigen Existenzminimums aufgrund der
Grundsätze des Forderns bzw. aufgrund von Sanktionen oder Leistungsein-
schränkungen wird gesetzlich ausgeschlossen. Die Grundsätze des Forderns
rechtfertigen keinerlei Versagen der Leistungsberechtigung bzw. der Leis-
tung zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums. Diesem
Grundsatz entgegenstehende Regelungen werden aufgehoben.

2. Bis zum Inkrafttreten eines solchen Gesetzes müssen Widersprüche und An-
fechtungsklagen gegen Sanktionen und Leistungseinschränkungen im SGB II
bzw. SGB XII eine aufschiebende Wirkung entfalten.

3. Es liegt in der Verantwortung des Staates, Rahmenbedingungen für ausrei-
chend gute, existenzsichernde Arbeitsplätze zu schaffen, um Erwerbslosig-
keit wider Willen entgegenzuwirken.

Berlin, den 22. März 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

1. Sanktionen bedeuten eine verfassungswidrige Unterschreitung des men-
schenwürdigen Existenzminimums.

Mit Urteil vom 9. Februar 2010, – 1 BvL 1/09 – (NZS 2010, S. 270 ff.) begründet
das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) den Anspruch auf die Gewährleistung
eines menschenwürdigen Existenzminimums mit expliziter Bezugnahme auf die
Menschenwürde. An die bekannte Formel – „Das Grundrecht auf Gewährleis-
tung eines menschenwürdigen Existenzminimums ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1
GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG“ – schließt sich der folgende Satz an:
„Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch“ (BVerfG, a. a. O., S. 274). Im
folgenden Absatz leitet das Bundesverfassungsgericht allein aus Artikel 1 Ab-
satz 1 GG einen Leistungsanspruch aus der Schutzpflicht des Staates her, da „sie
[… die Würde jedes individuellen Menschen …] in Notlagen nur durch mate-
rielle Unterstützung gesichert werden kann“. Zudem muss der Leistungsanspruch
so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf je-
des individuellen Grundrechtsträgers deckt (vgl. BVerfG a. a. O.). Nach der
Rechtsprechung lässt sich daher festhalten, dass Artikel 1 Absatz 1 Satz 2 GG
auch Schutz vor materieller Not begründet. Für die Sanktionen fehlt es damit aber
an einer Legitimierung durch das Grundgesetz. Für bisherige Versuche Sanktio-
nen zu begründen, verbleibt kein Raum mehr. Wenn die Gewährleistung eines
Existenzminimums Teil der Menschenwürdegarantie und der daraus folgenden
Schutzpflicht des Staates ist, dann gilt dies in der entwickelten Würdedogmatik
absolut. Die Menschenwürde ist nicht abwägungsfähig mit anderen Grundrech-
ten und sonstigem Verfassungsrecht (vgl. nur BVerfG, Urteil vom 15. Februar
2006, – 1 BvR 357/05 – NJW 2006, S. 751 ff.; BVerfG, Beschluss vom
14. Dezember 2004, – 2 BvR 1249/04 – NJW 2005, S. 656 ff.).

Freilich lässt sich aus der Gewährleistung des Existenzminimums als Teil der
Menschenwürdegarantie keine konkrete Höhe des tatsächlich durch den Sozial-
staat zu leistenden Betrags ableiten (vgl. Wallerath: Zur Dogmatik eines Rechts

auf Sicherung des Existenzminimums, JZ 2008, S. 162). Das BVerfG trennt da-
her folgerichtig Anspruchsgrund und Anspruchshöhe und weist letztere dem

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/5174

Gestaltungsauftrag nach Artikel 20 Absatz 1 GG zu. Zwangslos ergibt sich da-
raus, dass jeder Versuch, das so gefundene und auf nachprüfbarer sachlicher
Grundlage ermittelte Existenzminimum, welches nach Ausführungen des
BVerfG auch die Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Le-
ben umfassen muss, in irgendeiner Form zu unterschreiten, unmittelbar in eine
Verletzung des Anspruchgrundes umschlägt: Ein „bisschen Menschenwürde“
gibt es nicht.

Mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum ist daher
eine gesetzliche Regelung unvereinbar, die zu einer Unterschreitung des Exis-
tenzminimums führt. Diese Konsequenz wird aber durch die Sanktionsregelun-
gen bzw. Leistungseinschränkungen im SGB II bzw. im SGB XII billigend in
Kauf genommen.

2. Die Sanktionen sind Ausdruck einer verfehlten Aktivierungsideologie

Die Sanktionsregelungen stellen das Herzstück einer grundrechtswidrigen und
sachlich kontraproduktiven Aktivierungsideologie dar. Mit dieser Ideologie
werden soziale Missstände zu einem Ergebnis individuellen Fehlverhaltens und
fehlender Motivation umgedeutet. Massenerwerbslosigkeit erscheint hier nicht
mehr als das strukturelle Ergebnis des kapitalistischen Wirtschaftssystems, son-
dern als Folge individuellen Verhaltens. Die Sanktionen verstärken die Existenz-
not bei den Leistungsberechtigten. Sie untergraben ihre Würde, machen sie zu
Objekten der staatlichen Bürokratie und gegenüber den Zumutungen ausbeute-
rischer Arbeitsverhältnisse wehrlos. Die Politik fördert auf diese Weise men-
schenunwürdige Arbeitsbedingungen und trägt erheblich zu einer Ausweitung
des Niedriglohnsektors bei.

3. Die Sanktionen nehmen soziale Verelendung in Kauf und grenzen aus

In der Sanktionspraxis geht es um die Bestrafung von Menschen, die anerkannt
leistungsberechtigt sind und denen die zuständige Behörde ein Fehlverhalten
– Verstoß gegen Meldeauflagen, Vorgaben der Eingliederungsvereinbarung oder
Ablehnung einer zumutbarer Arbeit oder Maßnahme – vorwirft. Nur in wenigen
Fällen ist die Ablehnung einer als zumutbar geltenden Arbeit der Grund der
Sanktion (Bundestagsdrucksache 17/1837, S. 3). Die Sanktionsquote unter den
arbeitslosen SGB-II-Berechtigten lag im Januar 2009 bei 3,7 Prozent, bei
arbeitslosen Leistungsberechtigten unter 25 Jahren bei fast 10 Prozent. Gerade
bei diesen jüngeren Leistungsberechtigten wird nicht nur häufiger, sondern auch
deutlich drastischer sanktioniert: Bei über einem Drittel der 250 000 in einem
Jahr sanktionierten jungen Leistungsbeziehenden wurden 100 Prozent und mehr
des Regelleistungsbedarfes gekürzt (Zeitraum: April 2008 bis März 2009, vgl.
Bundestagsdrucksache 16/13991, S. 17 f.). Selbst Schwangere sind vor Sank-
tionen nicht geschützt.

Über die Auswirkungen der Sanktionen auf die Lebenslagen und die Verhaltens-
weisen der betroffenen Menschen gibt es nur wenige Informationen. Nach den
verfügbaren Erkenntnissen haben Sanktionierte nur in einem geringen Umfang
die Möglichkeit die finanziellen Einbußen durch alternative Einkommensquel-
len zu überbrücken. Soziale Verelendung ist daher die Folge: Diese zeigt sich bei-
spielswiese in einer massiven Verschlechterung des Gesundheitszustandes der
betroffenen Personen – insbesondere aufgrund psychischer Belastungen – und
einem spürbaren Anstieg der Wohnungslosigkeit. Insbesondere bei den unter
25-Jährigen wird die Zunahme der Wohnungslosigkeit in einen ursächlichen Zu-
sammenhang mit den Hartz IV Regelungen gebracht (BAG Wohnungslosenhilfe
e. V., Pressemitteilung vom 28. Januar 2008). Übereinstimmend dokumentieren
Berichte, dass Sanktionen die Betroffenen in einer äußerst unproduktiven Art
und Weise „aktivieren“: Die Sanktion ziehe einen „Überlebenskampf“ nach
sich, der Zeit und Energie vollständig binde. Viele, insbesondere junge Erwerbs-

lose, brechen ihren Kontakt zu den zuständigen Behörden ab, wenn sie keine

Drucksache 17/5174 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
Leistungen mehr bekommen. Damit verschwinden diese Personen sowohl aus
der Statistik als auch aus den öffentlichen Unterstützungssystemen. Der Aus-
schluss aus dem Leistungssystem erscheint dann zynischerweise statistisch
sogar als Erfolg (Anne Ames: Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach
§ 31 SGB II, NDV 3/2100, S. 11 ff.; Susanne Götz u. a.: Sanktionen im SGB II.
Unter dem Existenzminimum, IAB Kurzbericht 10/2010; Berliner Kampagne
gegen Hartz IV: Wer nicht spurt, kriegt kein Geld, Sanktionen gegen Hartz-IV-
Beziehende. Erfahrungen, Analysen, Schlussfolgerungen. Berlin 2008).

4. Widerspruch und Anfechtungsklage u. a. gegen Sanktionsbescheide haben im
SGB II keine aufschiebende Wirkung. Die Entscheidungen der Verwaltung ent-
falten unmittelbare Wirkung. Vor dem Hintergrund der existenziellen Bedeutung
der Grundsicherung für die Leistungsberechtigten ist das gesetzlich angeordnete
Entfallen der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage
gegen Sanktionen und Leistungseinschränkungen nicht zu rechtfertigen und
muss korrigiert werden.

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