BT-Drucksache 17/4951

Arbeitnehmerfreizügigkeit ab dem 1. Mai 2011 - Konsequenzen und Handlungsnotwendigkeiten

Vom 25. Februar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4951
17. Wahlperiode 25. 02. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Alexander Ulrich, Matthias W. Birkwald, Dr. Diether Dehm,
Klaus Ernst, Wolfgang Gehrcke, Andrej Hunko, Jutta Krellmann, Stefan Liebich,
Yvonne Ploetz, Ingrid Remmers, Katrin Werner, Jörn Wunderlich,
Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Arbeitnehmerfreizügigkeit ab dem 1. Mai 2011
– Konsequenzen und Handlungsnotwendigkeiten

Deutschland ist mit Österreich das einzige EU-Land, welches die Arbeitneh-
merfreizügigkeit so lange wie möglich eingeschränkt hat. Zum 1. Mai 2011
enden diese Beschränkungen, ab diesem Zeitpunkt dürfen Beschäftigte aus den
acht 2004 beigetretenen mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten (MOE-8)
ohne Arbeitsgenehmigung in Deutschland arbeiten. Gleichzeitig endet die
sektorale Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit sowie das Verbot, in der
grenzüberschreitenden Leiharbeit Beschäftigte aus den MOE-8 einzusetzen.

Derzeit ist völlig unklar, wie viele Menschen aus den MOE-8 in Deutschland
arbeiten wollen. Auch bezüglich der Auswirkungen auf das Lohnniveau und
die Arbeitslosigkeit gehen die Einschätzungen weit auseinander. Unabhängig
von den zukünftigen Entwicklungen sind bereits seit langem erhebliche arbeits-
marktpolitische Regulierungsdefizite bekannt, die ausbeuterischen Arbeitsver-
hältnissen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den MOE-8 Vorschub
leisten.

Grundsätzlich ist zu sagen, dass das Problem nicht im individuellen Zuzug von
Beschäftigten liegt: Staatsangehörige anderer EU-Mitgliedstaaten, die im Rah-
men der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Deutschland kommen, schließen mit
einem deutschen Unternehmen einen deutschen Arbeitsvertrag und haben dabei
die gleichen Rechte wie deutsche Staatsangehörige. Probleme könnte die Ent-
sendung im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit bereiten, da sie es ermöglicht,
Beschäftigte aus anderen EU-Mitgliedstaaten hier völlig legal schlechter zu be-
zahlen als deutsche Beschäftigte in vergleichbaren Tätigkeiten, nämlich zu den
Löhnen ihrer Herkunftsländer – sofern es für die betroffene Branche keinen für
allgemeinverbindlich erklärten Mindestlohn oder andere zwingende gesetzliche
Regelungen gibt (was in Deutschland nicht bzw. nur teilweise der Fall ist). Der
Wettbewerb um niedrigste Löhne wird durch die Entsendung auch in Dienst-
leistungsbereiche getragen, die nicht ins Ausland verlagert werden können

(Hotels etc.).

Hinzu kommt, dass in Deutschland viele Beschäftigte, die Staatsangehörige an-
derer EU-Mitgliedstaaten sind, wenig bis keine Kenntnisse über die ihnen zu-
stehenden Rechte haben, seien es Mindestlöhne, Arbeitszeiten u. v. m. Sie sind
daher auf Informationen und gegebenenfalls auch Unterstützung bei der Durch-
setzung ihrer Rechte angewiesen, die auf ihre Situation zugeschnitten sind. In
besonderem Maße tritt dieses Problem bei vorübergehenden Tätigkeiten, bei-
spielsweise bei der Entsendung, auf.

Drucksache 17/4951 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Nach Ansicht der Gewerkschaften besteht für Deutschland noch einiges an
Handlungsbedarf, um Lohn- und Sozialdumping durch Entsendearbeit zu ver-
hindern und den Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“
durchzusetzen. So bedarf es nach Auffassung der IG BAU (Beschluss vom
7. Juni 2010) für eine effektive Kontrolle von Mindestlöhnen nach dem 1. Mai
2011 einer deutlichen personellen Aufstockung der Finanzkontrolle Schwarz-
arbeit (4 800 Stellen) sowie einer besseren Ausstattung. Auch die Fachgemein-
schaft Bau Berlin und Brandenburg e. V. hat laut „DER TAGESSPIEGEL“ vom
3. Februar 2011 dringlich auf das Problem fehlender Kontrollen hingewiesen.
Laut einer Umfrage bei Baubetrieben glaubt kaum einer der befragten Unter-
nehmen, dass der Mindestlohn von ausländischen Konkurrenten eingehalten
werden wird, 88 Prozent befürworten daher stärkere Kontrollen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Mit welchen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die Arbeitsbedingun-
gen (inkl. Löhne) in Deutschland rechnet die Bundesregierung durch die
Arbeitnehmerfreizügigkeit ab dem 1. Mai 2011?

Hat sie entsprechende Studien erstellt oder in Auftrag gegeben?

Wenn ja, welche?

Wenn nicht, mit welcher Begründung?

2. Wird die Bundesregierung sich auf der europäischen Ebene für eine arbeit-
nehmerfreundliche Revision der Entsenderichtlinie einsetzen, die es ermög-
licht, dass die Mitgliedstaaten auch für entsandte Beschäftigte die gleichen
Lohn- und Arbeitsbedingungen vorschreiben können wie für heimische Be-
schäftigte?

Wenn ja, welche konkreten Schritte wird sie einleiten?

Wenn nein, mit welcher Begründung?

3. Wird die Bundesregierung sich darüber hinausgehend auf europäischer Ebene
für die Einführung einer sozialen Fortschrittsklausel in die europäischen Ver-
tragswerke einsetzen, um die Aushebelung von Arbeitnehmerrechten durch
die Binnenmarktfreiheiten künftig nicht nur in Bezug auf entsandte Beschäf-
tigte, sondern generell zu verhindern?

4. Wird sich die Bundesregierung im Rat der Europäischen Union dafür einset-
zen, dass entsprechend der Entschließung des Europäischen Parlaments vom
9. Oktober 2008 (2008/2034(INI)) die EU eine Zielvorgabe zum Niveau von
Mindestlöhnen in Höhe von mindestens 60 Prozent des nationalen Durch-
schnittslohns vereinbart sowie des Weiteren dafür, dass ein Zeitplan zur Ein-
haltung dieser Vorgabe in allen Mitgliedstaaten festgelegt wird?

5. Wird die Bundesregierung sich weiter gegen die Einführung eines allgemei-
nen, branchenübergreifenden gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland
stellen, mit dem einem möglicherweise drohenden Lohndumping zumindest
eine untere Grenze eingezogen wird?

Wenn ja, mit welchen Argumenten?

6. Sieht die Bundesregierung die Notwendigkeit die Allgemeinverbindlich-
keitserklärung von Tarifverträgen zu erleichtern?

Wenn ja, auf welchem Wege?

Wenn nicht, mit welcher Begründung?

7. Hält die Bundesregierung die bestehenden Branchenmindestlöhne für aus-

reichend, um angesichts der Arbeitnehmerfreizügigkeit ab Mai 2011 Lohn-
dumping im ausreichenden Maße zu verhindern (bitte begründen)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4951

8. Ist aus Sicht der Bundesregierung der Grundsatz „Equal Pay“ inklusive der
erforderlichen Streichung des Tarifvorbehaltes im Arbeitnehmerüberlas-
sungsgesetz ein Weg, um zu verhindern, dass nach dem 1. Mai 2011 mittels
osteuropäischer Tarifverträge Leiharbeitnehmer zu ausgesprochen niedrigen
Löhnen nach Deutschland entsandt werden können?

Wenn nicht, mit welcher Begründung?

9. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Zusammenarbeit
von Arbeitsagenturen mit Leiharbeitsfirmen, die ab dem 1. Mai 2011 Be-
schäftigte aus den MOE-8 nach Deutschland entsenden dürfen?

a) Gibt es bereits jetzt eine Zusammenarbeit auch mit Leiharbeitsfirmen,
die nicht in Deutschland ansässig sind?

b) Wenn nicht, wird sich dies zum 1. Mai 2011 ändern, zumal es ja rechtlich
wahrscheinlich schwierig sein wird, ausländische Agenturen auszuschlie-
ßen, wie geht die Bundesagentur für Arbeit bzw. wie gehen die Jobcenter
damit um?

c) Wenn ja, mit welchen Methoden und Instrumenten werden die Arbeits-
agenturen sicherstellen, dass diese Leiharbeitsagenturen die Mindest-
bestimmungen nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz einhalten, ggf.
auch einen vielleicht bis dahin allgemeinverbindlichen Tarifvertrag (bitte
detailliert ausführen)?

d) Welche konkreten Handlungs- und Sanktionsmöglichkeiten haben die
Arbeitsagenturen, wenn diese Mindestbestimmungen nicht eingehalten
werden?

10. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung des Deutschen Gewerkschafts-
bundes (DGB), dass entsandte Beschäftigte in besonderem Maße von Aus-
beutung bedroht sind, da sie nicht über die notwendigen Informationen ihrer
gesetzlich und tariflich verankerten Rechte im Zielland verfügen und dem-
entsprechend aufgrund ihrer befristeten Tätigkeit im Ausland einen spezifi-
schen Informationsbedarf haben, der ihren sprachlichen und juristischen
Kenntnissen über das Zielland gerecht wird?

Wenn nicht, mit welcher Begründung?

11. Welche Angebote plant die Bundesregierung zur Information und Unter-
stützung der – ab dem 1. Mai 2011 sicherlich zunehmenden Anzahl von –
entsandten Beschäftigten bezüglich ihrer Rechte auf dem deutschen
Arbeitsmarkt?

a) Wird die Bundesregierung das Modellprojekt Berlin finanziell unterstüt-
zen und andere Bundesländer dazu anregen, ähnliche Beratungsstellen
einzurichten?

b) Welchen finanziellen Nutzen verspricht sich die Bundesregierung von
derartigen Beratungsstellen in Bezug auf ansonsten entgangene Sozial-
leistungen und Steuereinnahmen?

12. In welcher Form kommt die Bundesregierung der Verpflichtung der Ent-
senderichtlinie nach, der zufolge die Mitgliedstaaten sicherzustellen haben,
dass den Arbeitnehmern und/oder ihren Vertretern für die Durchsetzung der
sich aus dieser Richtlinie ergebenden Verpflichtungen geeignete Verfahren
zur Verfügung stehen müssen?

13. Plant die Bundesregierung eine Ausweitung der Kontrollen der Anwendung
des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes im Angesicht der Arbeitnehmerfrei-
zügigkeit?

Drucksache 17/4951 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

a) Plant die Bundesregierung eine Aufstockung der personellen und finan-
ziellen Mittel der zuständigen Kontrollbehörden, insbesondere der
Finanzkontrolle Schwarzarbeit?

Wenn ja, bitte konkrete Zahlen, wenn nicht, bitte begründen.

b) Wie viele Kontrollen zur Einhaltung von Mindestlöhnen und der Be-
stimmungen des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes wurden in den Jahren
2009 und 2010 durchgeführt (bitte differenzieren nach Branchen und
Monat)?

c) Wie viele Verstöße gegen das Arbeitnehmer-Entsendegesetz wurden da-
bei aufgedeckt (differenziert nach Branchen und Verstößen)?

d) Wie viele Bußgeldverfahren wurden in diesem Zusammenhang einge-
leitet (differenziert nach Branchen und Monat)?

e) Wie hoch war die Gesamtsumme der Bußgelder (differenziert nach
Branchen und Monat)?

14. Kann die Bundesregierung die Medienangaben bestätigen, dass mit den
EU-Erweiterungen 2004 und 2007 die Zahl der ausländischen Gewerbean-
meldungen in Deutschland aus den Beitrittsländern, insbesondere in der
Baubranche, enorm angestiegen ist?

a) Wie haben sich die Gewerbeanmeldungen seit 2004 entwickelt (bitte
nach Jahren, Herkunftsländern, Zielregionen in Deutschland – Bundes-
länder – und Branchen aufschlüsseln)?

b) Liegen der Bundesregierung Informationen vor, z. B. durch die Finanz-
kontrolle Schwarzarbeit oder die Gewerbeaufsicht, dass Gewerbeanmel-
dungen teilweise die Umgehung der Beschränkung der Dienstleistungs-
freiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit durch Scheinselbständigkeit
zum Zweck haben?

Wenn ja, welche Maßnahmen hat die Bundesregierung ergriffen oder
geplant, um diese Umgehungstatbestände zu unterbinden?

Wenn nicht, wird die Bundesregierung diese Umgehungsmöglichkeiten
genauer untersuchen?

c) Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass diese Umgehungstatbe-
stände unter anderem durch Abgrenzungsprobleme zwischen Niederlas-
sungsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit entstehen?

Wenn ja, welche Initiativen hat die Bundesregierung auf europäischer
Ebene ergriffen oder geplant, um diese Probleme zu lösen?

Wenn nein, aus welchen Gründen ist sie nicht dieser Auffassung?

15. Bleibt die Bundesregierung bei ihrer Haltung, Entsendungen nach Deutsch-
land nicht selbst statistisch erfassen zu wollen (Antwort der Bundesregie-
rung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE., Bundestagsdruck-
sache 17/728), vor dem Hintergrund der Einschätzung des DGB, dass die
Arbeitnehmerfreizügigkeit zu einem erheblichen Anstieg der Entsendung
führen wird?

Wenn ja, mit welcher Begründung?

a) Verfügt die Bundesregierung über aktuelle Zahlen der Europäischen
Kommission oder anderer Quellen über Entsendungen nach Deutsch-
land?

Wenn ja, über welche (bitte Auflistung nach Jahren, Branchen und Her-
kunftsländern)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/4951

b) Gibt es mittlerweile auch Daten zur Dauer der Beschäftigung der Ent-
sandten?

Wenn nicht, warum nicht?

c) Wie und bis wann setzt Deutschland die Anforderungen aus der Verord-
nung (EG) Nr. 987/2009 nach einer zentralen Speicherung von Entsen-
dungen um, und wann kann man mit den ersten Daten rechnen?

Berlin, den 25. Februar 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.