BT-Drucksache 17/4882

zum Entwurf eines Beschlusses des Europäischen Rates zur Änderung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedsstaaten, deren Währung der Euro ist - Ratsdok. 17620/10 (EUCO 30/10), Anlage I - hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes

Vom 22. Februar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4882
17. Wahlperiode 22. 02. 2011

Antrag
der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Andrej Hunko,
Thomas Nord, Jan van Aken, Christine Buchholz, Sevim Dag˘delen,
Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, Heike Hänsel, Inge Höger, Harald Koch,
Stefan Liebich, Kornelia Möller, Niema Movassat, Paul Schäfer (Köln),
Sahra Wagenknecht, Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

zum Entwurf eines Beschlusses des Europäischen Rates
zur Änderung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union
hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten,
deren Währung der Euro ist
– Ratsdok. 17620/10 (EUCO 30/10), Anlage I –

hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs hat sich auf seiner Sit-
zung am 16./17. Dezember 2010 auf den Entwurf eines Beschlusses zur Än-
derung des „Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV)
geeinigt: Dem Artikel 136 soll ein Absatz 3 mit dem folgenden Wortlaut
angefügt werden: „Die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können
einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies un-
abdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu
wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des
Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen.“ (EUCO 30/10, Anlage I).
Eine Beschlussfassung über den Antrag soll schon beim nächsten Treffen des
Europäischen Rats am 24./25. März 2011 erfolgen.

2. Zur rechtlichen Qualifikation der vorgesehenen Vereinbarung zwischen den
Mitgliedstaaten der Eurozone finden sich in dem Entwurf des Europäischen
Rats keine Angaben. Insbesondere ist nicht ersichtlich, warum die recht-
lichen Voraussetzungen für den neuen „Europäischen Stabilitätsmechanis-

mus“ (ESM) nicht ausdrücklich in das Unionsrecht eingefügt werden, ge-
gebenenfalls durch ein besonderes Protokoll bzw. in einer „Verstärkten Zu-
sammenarbeit“ nach Artikel 20 des „Vertrags über die Europäische Union“
(EUV). Dann müsste auch das Europäische Parlament bei der Umsetzung
des Mechanismus einbezogen werden und bliebe nicht völlig unbeteiligt.

3. Soweit der ESM entsprechend den Verfahrensweisen der bestehenden
„Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität“ (EFSF) arbeiten und entschei-

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den soll, wird auch er im Zusammenwirken mit den Organen und Einrich-
tungen der Europäischen Union (EU-Kommission, Europäischer Zentral-
bank [EZB], Europäischer Investitionsbank [EIB]) als Teil eines Gesamt-
mechanismus wirksam werden. Das gilt vor allem bei der Gewährung und
Abwicklung von Finanzhilfen sowie bei der Erteilung von Auflagen. Ein
Versuch, die zukünftigen rechtlichen Regelungen über den ESM dennoch
außerhalb des Staatenverbunds EU allgemein im Völkerrecht anzusiedeln,
wäre angesichts der eindeutigen Zuständigkeit der EU für Währungsfragen
nichts anderes als ein rechtlich unwirksamer Umgehungsversuch geltenden
EU-Rechts. Von der Einhaltung des Primärrechts der EU würde ein solches
Vorgehen nicht entbinden. Sollten indes geltende Bestimmungen der EU-
Verträge einer nachhaltigen Stabilisierung der Währung entgegenstehen,
müssen diese Bestimmungen reformiert werden. Juristische Tricks helfen da
auf Dauer nicht weiter.

4. Der jetzt geltende Stabilisierungsmechanismus EFSF wurde außerhalb des
EU-Vertragsrechts durch das Zusammenwirken zwischen einer Aktiengesell-
schaft luxemburgischen Rechts mit Namen „Europäische Finanzstabilisie-
rungsfazilität“ und den Euro-Mitgliedstaaten etabliert. Seine Funktionsweise
ist in dem „EFSF Rahmenvertrag“ zwischen den Euro-Mitgliedstaaten und
der Aktiengesellschaft geregelt. Diese Vereinbarung genügt den Vorausset-
zungen des hier maßgeblichen Artikels 23 des Grundgesetzes jedoch nicht.
Ihr wurde auch nicht durch ein Ratifizierungsgesetz nach Artikel 59 Absatz 2
zugestimmt. Es fand allein eine gesetzliche Ermächtigung der Bundesregie-
rung statt, Gewährleistungen für von der EFSF aufzunehmende Kredite zu
übernehmen. Diese Konstruktion verstößt daher gegen Europa- und gegen
deutsches Verfassungsrecht.

5. Der Europäische Rat hat im Dezember 2010 weiter beschlossen, die vorgese-
hene Vertragsänderung hastig und ohne breite Diskussionen im vereinfachten
Verfahren nach Artikel 48 Absatz 6 EUV durchzuziehen. Die Voraussetzun-
gen dafür sind aber nicht gegeben: Durch die vorgesehene Vertragsänderung
soll den Euro-Staaten als Teil der EU und zur Wahrnehmung der Interessen
der EU die Befugnis eingeräumt werden, mitgliedstaatliche Kompetenzen
anderer an sich zu ziehen und durch „strenge Auflagen“ deren Wirtschafts-,
Finanz- und Sozialpolitik entscheidend zu bestimmen, vor allem auch nach-
haltig in die Haushaltssouveränität der betroffenen Mitgliedstaaten einzugrei-
fen. Das würde zur Ausdehnung der auf die EU übertragenen Zuständigkeiten
mit der Folge führen, dass ein ordentliches Vertragsänderungsverfahren nach
Artikel 48 Absatz 2 ff. EUV geboten ist.

6. Die in den „allgemeinen Merkmalen des künftigen Mechanismus“ (Anlage II
des EU-Dokuments) angedeuteten Regelungen zur Heranziehung der „pri-
vaten Gläubiger“ sind völlig unzureichend. Das gilt für die Vorschläge bei
solventen wie bei insolventen Schuldnerstaaten. Sie berücksichtigen in kei-
ner Weise die negativen Auswirkungen von Spekulationen im Banken- und
Finanzsektor, die vielfach die Haushalte von EU-Mitgliedstaaten in riesigem
Ausmaß belastet haben: Die Verursacher und Profiteure der Krisenfolgen
sollen offenbar nicht zur Kasse gebeten werden.

7. Auflagen im Zusammenhang mit der Gewährung von Finanzhilfe wie in den
Fällen von Griechenland und Irland beschädigen im Ergebnis die Sozial-
staatlichkeit der betroffenen Länder und führen zu gravierenden Wachstums-
einbrüchen mit der Folge, dass die Bedienung aufgenommener Kredite fast
unmöglich erscheint. Solche „strengen Auflagen“ sind Ausdruck unsozialer
und volkswirtschaftlich schädlicher neoliberaler Politik.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4882

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. auf der Tagung des Europäischen Rats am 24./25. März 2011 der vor-
geschlagenen Vertragsänderung nicht zuzustimmen und ihr Inkrafttreten zu
verhindern,

2. sich dafür einzusetzen, dass die vorgeschlagene Vertragsänderung im
„ordentlichen Vertragsänderungsverfahren“ behandelt wird und dass die
Zusammensetzung des einzuberufenden Konvents so erfolgt, dass die Viel-
falt der politischen Strömungen bei der Zusammensetzung der Vertretungen
aus den nationalen Parlamenten Berücksichtigung findet,

3. bei der Stabilisierung des Euro durch die Einführung von Finanzhilfe an
finanzschwache Mitgliedstaaten diese nicht noch weiter wirtschaftlich und
finanziell zu belasten, sondern ihre weitere Entwicklung und den sozialen
Zusammenhalt in ihnen zu fördern. Vor allem ist nicht zuzulassen, dass
übermäßig hoch verzinste Finanzhilfen zum Geschäft für die wohlhabenden
Mitgliedstaaten und die Großunternehmen der Finanzwirtschaft werden,

4. das einzuleitende ordentliche Vertragsänderungsverfahren für andere über-
fällige Änderungen der EU-Verträge zu öffnen, wie etwa die Einfügung
eines Protokolls über eine Soziale Fortschrittsklausel,

5. dem Deutschen Bundestag Vorschläge zu unterbreiten, wie die verschiede-
nen Gruppen der Bevölkerung in breitem Umfang in die Diskussionen und
die Willensbildung über eine Reform des EU-Primärrechts einbezogen wer-
den können,

6. in dem nach beschlossener Vertragsänderung einzuleitenden Ratifizierungs-
verfahren, sei es unmittelbar nach Artikel 23 des Grundgesetzes oder nach
§ 2 des Intergrationsverantwortungsgesetzes (IntVG), zu beachten, dass die
Mehrheit von zwei Dritteln im Bundestag und Bundesrat erforderlich ist,

7. dafür Sorge zu tragen, dass schon zum Zeitpunkt einer Vertragsänderung die
Vorschläge dem Deutschen Bundestag vorliegen, nach denen die konkrete
Etablierung des ESM stattfinden soll. Dabei sind die Voraussetzungen von
Artikel 23 des Grundgesetzes und die Mitwirkungsrechte des Deutschen
Bundestages nach den Begleitgesetzen, insbesondere nach dem Gesetz über
die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in
Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBBG), in vollem Umfang
einzuhalten.

Berlin, den 22. Februar 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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