BT-Drucksache 17/4849

Reformprozesse in Nordafrika und Nahost umfassend fördern

Vom 22. Februar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4849
17. Wahlperiode 22. 02. 2011

Antrag
der Abgeordneten Günter Gloser, Klaus Brandner, Dr. h. c. Gernot Erler,
Lothar Binding (Heidelberg), Petra Ernstberger, Iris Gleicke, Dr. Barbara
Hendricks, Dr. Bärbel Kofler, Ute Kumpf, Burkhard Lischka, Thomas Oppermann,
Dr. Sascha Raabe, Karin Roth (Esslingen), Frank Schwabe, Wolfgang Tiefensee,
Manfred Zöllmer, Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion der SPD

Reformprozesse in Nordafrika und Nahost umfassend fördern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Unzählige Menschen in nordafrikanischen Ländern erheben sich in diesen
Wochen gegen Unterdrückung, Willkür und die Verletzung ihrer Menschen-
rechte. Sie suchen sich ihren Weg zur Freiheit. Der Deutsche Bundestag be-
gegnet diesem historischen Aufbruch mit vollem Respekt vor diesem Mut.
Der Deutsche Bundestag hofft darauf, dass Freiheit und Demokratie in der
direkten europäischen Nachbarschaft auch in der gesamten Region des Mit-
telmeers stark werden.

2. Die revolutionären Ereignisse in Tunesien und Ägypten und die anhaltenden
Proteste in weiteren Ländern des Nahen Ostens haben die dort über Jahr-
zehnte herrschenden Machthaber überrascht. Sie sind Ausdruck großer Un-
zufriedenheit, überwiegend der jungen Menschen in der Region, die eine
Verbesserung ihrer sozialen Situation, vor allem aber auch mehr Freiheit,
Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit einfordern. Die Bürger beider Län-
der erreichten durch ihr mutiges öffentliches Eintreten den Rückzug der bis-
herigen Präsidenten und damit erste bedeutende Schritte für einen Macht-
wechsel. Die internationale Gemeinschaft stand weitgehend unvorbereitet
der neuen Situation in Tunesien und Ägypten gegenüber.

Das tunesische Volk hat mit dem Sturz von Präsident Ben Ali und seiner Re-
gierungspartei den Präzedenzfall für den arabischen Raum geschaffen. Die-
ser große, ermutigende Erfolg darf dem tunesischen Volk nun nicht zum
Nachteil werden.

In Ägypten haben die Demonstrierenden durch ihren beharrlichen Protest
bereits den Rücktritt von Präsident Hosni Mubarak und die Einleitung eines
Reformprozesses erreicht. Der Beginn eines wirklichen demokratischen Re-
formprozesses steht noch an. Dieser Prozess verdient unsere volle Unterstüt-

zung und Solidarität.

Beeindruckend ist dabei, dass die Demonstrierenden, unter ihnen auffallend
viele Frauen, ihre Forderungen trotz massiver Bedrohungen durch staatliche
Stellen mit so großer Beharrlichkeit und fast ausschließlich gewaltfrei vor-
tragen. Die Polizei in Tunesien hat in vielen Fällen scharf auf unbewaffnete
Demonstranten geschossen und viele Menschen getötet. Auch Anhänger des
ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak gingen in den ersten Tagen des Fe-

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bruar 2011 mit massiver Gewalt gegen friedliche Demonstrantinnen und
Demonstranten vor. An beiden Orten kam es zu zahlreichen unschuldigen
Opfern. Der Einsatz solcher Gewalt gegen friedliche Demonstrierende ist
durch nichts zu rechtfertigen. Die Verantwortlichen für die Übergriffe müs-
sen ermittelt und bestraft werden. Positiv hervorzuheben ist, dass in beiden
Ländern das Militär bisher eine konstruktive und stabilisierende Rolle ge-
spielt hat. Die Offiziere weigerten sich offenbar, gewaltsam gegen das Volk
vorzugehen, und haben damit ein noch größeres Ausmaß der Gewalt verhin-
dert.

Da sich die Opposition in Ägypten und Tunesien, wie auch in vielen anderen
arabischen Ländern, bislang nicht frei entwickeln konnte, herrschen nun
eine große Vielstimmigkeit und Ungewissheit. Es gibt weder eine einheit-
liche Opposition noch eine klare Führung, wodurch die Demokratiebewe-
gung insgesamt geschwächt ist. Die Gefahr besteht, dass staatliche Stellen
und Teile der bislang herrschenden Eliten diese Uneinigkeit der Opposition
ausnutzen und wirkliche Reformen zu verhindern suchen. Die lokalen Me-
dien, die jetzt freier berichten können, die Bevölkerung vor Ort, aber auch
die internationale Gemeinschaft sollten deshalb die weitere Entwicklung
aufmerksam beobachten und auf wirklichen politischen Reformen bestehen.

Weitgehend unklar ist bislang noch die Rolle islamischer Parteien, die so-
wohl in Tunesien als auch in Ägypten bislang marginalisiert wurden. Die
ersten Erklärungen deuten darauf hin, dass diese bislang einen demokrati-
schen Weg zu wählen scheinen. Sie repräsentieren einen großen Teil der Ge-
sellschaft und haben sich bei der Bevölkerung durch praktisches soziales
Engagement Legitimation für ihre religiösen, sozialen und politischen For-
derungen erarbeitet.

Sie sollten deshalb in den Transformationsprozess eingebunden werden – so-
fern sie die Einhaltung der universellen Menschenrechte nicht in Frage stel-
len. Es zeigt sich nun, dass der Dialog mit islamisch orientierten Parteien in
der Region insgesamt unterentwickelt und deshalb viel zu wenig über Perso-
nen, Programme und Ziele solcher Bewegungen bekannt ist. Es wäre ein
Fehler, weiterhin alle islamischen Parteien als islamistisch abzustempeln
und damit deren Radikalisierung Vorschub zu leisten.

3. Die genannten Ereignisse in einer Reihe arabischer Länder geben Anlass,
die Politik Deutschlands und der Europäischen Union gegenüber der Region
insgesamt zu überdenken und neu zu gestalten und unmittelbare und spür-
bare Unterstützung zu geben.

Der Kern dieser Neugestaltung muss ein neues Gleichgewicht zwischen ei-
ner an Demokratie und Menschenrechten orientieren Außenpolitik einerseits
und berechtigten Sicherheitsinteressen andererseits sein. Deutschland pflegt
enge bilaterale und partnerschaftliche Beziehungen zu Ländern in der Re-
gion und genießt in der arabischen Welt einen immer noch großen Vertrau-
ensvorschuss – auch in der Bevölkerung. So ist Ägypten beispielsweise ein
Ankerland der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Die Hochschul-
und Wissenschaftskooperation ist breit gefächert, sehr umfangreich und in
den letzten Jahren intensiviert worden.

Deutsche politische Stiftungen, Fachleute der Deutschen Gesellschaft für In-
ternationale Zusammenarbeit GIZ GmbH und der Nichtregierungsorganisa-
tionen sind seit Jahrzehnten vor Ort tätig und übernehmen eine wichtige
Brückenfunktion. Die Kontakte deutscher politischer Stiftungen zu Akteu-
ren der Reformbewegungen in der Region im Allgemeinen und Ägypten und
Tunesien im Speziellen sind gewachsen, die langfristig aufgebauten Vertrau-
ensverhältnisse können zu einem erfolgversprechenden Engagement beitra-

gen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4849

Bislang führten das Interesse an der Stabilität in der Region und Fragen der
Migration sowie der Terrorismusbekämpfung fast immer zu einer fortgesetz-
ten Unterstützung von bestehenden Regimen trotz eklatanter Mängel in den
Bereichen Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Dies ge-
schah vor dem Hintergrund der Einschätzung, dass die bestehenden Regime
weder von innen noch von außen in ihrer Existenz bedroht sind und man
deshalb im Sinne einer Realpolitik mit ihnen umgehen muss. Diese Sicht-
weise ist durch die Ereignisse in Tunesien und Ägypten grundsätzlich in
Frage gestellt worden.

Denn dabei wurde verkannt, dass in den Ländern des Nahen Ostens in den
letzten Jahren eine breite, junge und säkular getragene Protestbewegung ent-
standen ist. Die EU steht daher am Anfang eines Prozesses, bei dem die eu-
ropäische entwicklungspolitische Zusammenarbeit grundlegend neu aufge-
stellt werden muss. Die Verpflichtung der Partnerländer der EU hin zu mehr
demokratischer Mitbestimmung, freier Meinungsäußerung, einer Stärkung
der Zivilgesellschaft sowie der Wahrung von Menschenrechten muss stärker
von der EU eingefordert werden.

4. Trotz aller innenpolitischer Defizite war Ägypten seit dem Camp-David-Ab-
kommen außenpolitisch ein regionaler Stabilitätsfaktor und hatte einen Frie-
densvertrag mit Israel geschlossen. Der Erhalt und die Einhaltung dieses
Vertrages müssen auch im aktuellen Transformationsprozess gewährleistet
bleiben. Das Existenzrecht Israels steht für die Bundesrepublik Deutschland
fortwährend nicht zur Diskussion.

Auch Israel trägt ebenfalls große Mitverantwortung für die Entwicklung der
Region und kann stabilisierend auf den ägyptischen Reformprozess einwir-
ken, indem es durch vertrauensbildende Maßnahmen, insbesondere einen
sofortigen Stopp des Siedlungsbaus, die Voraussetzungen für erfolgreiche
Verhandlungen über einen eigenständigen Palästinenserstaat schafft.

5. Der Schwerpunkt der deutschen Entwicklungszusammenarbeit liegt in
Tunesien und Ägypten bisher auf den Sektoren Umweltschutz, nachhaltige
Wirtschaftsentwicklung und Wassermanagement. Im Vergleich zur Gesamt-
zusammensetzung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit, in der 2009
Gute Regierungsführung rund 15 Prozent der anrechnungsfähigen Mittel der
Official Development Assistance (ODA) ausmacht, ist dieses Politikziel in
Ägypten, Tunesien, aber auch anderen Ländern Nordafrikas und des Nahen
Ostens bisher deutlich unterrepräsentiert. Der Deutsche Bundestag fordert,
dass Programme zur Demokratisierung und Stärkung der Zivilgesellschaft
zukünftig wesentlich stärker von der Bundesregierung und im Rahmen der
EU gefördert werden.

Der Bundestag begrüßt ausdrücklich den von der Bundesregierung einge-
richteten Sonderfonds für Demokratieberatung über 3,25 Mio. Euro. Dies ist
in Anbetracht der oben genannten Defizite im Bereich der Förderung von
Demokratie und Guter Regierungsführung jedoch nur ein erster Schritt, der
rasch um eine mittel- und langfristige Perspektive ergänzt werden muss.

Es ist absehbar, dass sich nach der Freude über einen Regimewechsel
schnell Ernüchterung und Frustration in der Bevölkerung durchsetzen, sollte
mit einer politischen Öffnung keine sozio-ökonomische Verbesserung ein-
hergehen. Die entwicklungspolitischen Maßnahmen in den Ländern Nord-
afrikas zur Armutsbekämpfung, für Arbeits- und Beschäftigungspolitik so-
wie gute Bildung müssen daher massiv ausgebaut werden.

Festzustellen bleibt aber auch: Der enorme Ressourcenreichtum in einigen
Ländern steht in einem starken Kontrast zur verbreiteten Armut großer Teile

der Bevölkerung. Die Regierungen dieser Länder sind nunmehr verpflichtet,
die gesamte Bevölkerung an der Wertschöpfung zu beteiligen.

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6. Fast alle Staaten rund um das Mittelmeer und die 27 EU-Mitglieder haben
2008 die „Union für das Mittelmeer“ ins Leben gerufen. Dieses Forum hat
die hohen Erwartungen bislang nicht erfüllt. Die politische Blockade der
„Union für das Mittelmeer“ muss nun aufgelöst werden zugunsten der För-
derung von konkreten Kooperationsprojekten und der Förderung eines de-
mokratischen und sozialen Rechtsstaatsmodells in den südlichen Mittel-
meeranrainern. Insbesondere sind den Gruppen der Zivilgesellschaft Ange-
bote von der EU zu unterbreiten und damit die Reformprozesse sozial, kul-
turell und menschenrechtlich zu unterstützen.

Der Europäischen Union und Deutschland bietet sich durch die Ereignisse
der letzten Wochen in Nordafrika eine historische Chance. Denn die euro-
päischen Erfahrungen sind in diesen Tagen eine wichtige Orientierung für
die Gegner von Willkürherrschaft, Korruption und Patrimonialismus in der
Region. Deshalb müssen die EU und Deutschland nun konkrete Unterstüt-
zung für die Länder im Umbruch und ihre Demokratisierungsbestrebungen
anbieten. Diese Hilfe kann nur erfolgreich sein, wenn die Angebote zur Un-
terstützung auch mit einer schnellen Verbesserung der Lebensbedingungen
und Perspektiven der Menschen in Nordafrika und Nahost einhergehen.

7. Der Bundestag begrüßt die zügigen Maßnahmen der EU-Mitgliedstaaten zur
Einfrierung von Vermögenswerten Ben Alis und seiner Familie. Weiteren
Forderungen zu Individualsanktionen durch die tunesische und gegebenen-
falls der Ägyptischen Regierung gegenüber Hosni Mubarak sollte nach-
gegangen werden, um Korruptionsgelder der Entwicklung Tunesiens und
Ägyptens dienlich zu machen. Die Bundesregierung soll sich innerhalb der
EU und international dafür einsetzen, dass aus Korruption erlangtes Vermö-
gen an den ägyptischen und tunesischen Staat zurückgezahlt wird und somit
der zukünftigen Entwicklung dieser Länder dient.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich für eine Neuausrichtung der europäischen Nachbarschaftspolitik der
Europäischen Union gegenüber Nordafrika und dem Nahen Osten einzuset-
zen. Ein Schwerpunkt muss dabei auf der Förderung von Rechtsstaatlich-
keit, Demokratie und Bürgergesellschaft liegen;

2. sich für einen Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs der Europäi-
schen Union einzusetzen, bei dem konkrete Beschlüsse zur Unterstützung
der Demokratiebewegung und der Reformen in Nordafrika und Nahost ge-
fasst werden;

3. auf europäischer Ebene auf die Aktualisierung der Programme, Projekte und
Maßnahmen und die Bereitstellung zusätzlicher Mittel zur Unterstützung
der Demokratisierungsprozesse in Nordafrika und Nahost einzutreten;

4. bilateral aktive Unterstützung für die demokratischen Transformationspro-
zesse anzubieten und den Bundestag baldmöglichst zu unterrichten, welche
konkreten Maßnahmen dazu vorgesehen sind. Die im Sonderfonds für
Demokratieberatung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung kurzfristig versprochenen Mittel in Höhe von
3,25 Mio. Euro müssen dabei verstetigt und mittel- und langfristig ausgebaut
werden;

5. die jungen demokratischen Bewegungen durch Beratung und Austausch zu
unterstützten und ihre Aktivitäten zu fördern. Hierbei können die langfristig
aufgebauten Vertrauensverhältnisse der politischen Stiftungen und von
Nichtregierungsorganisationen zu einem erfolgreichen Engagement beitra-
gen;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/4849

6. den Wunsch der jungen Generation in der arabischen Welt nach einer guten
Zukunftsperspektive zu unterstützen. Die EU muss dabei mit einer viel
engeren Zusammenarbeit in Bildung und Wissenschaft helfen, angefangen
mit konkreten Angeboten für den akademischen Austausch. Dazu gehören
auch Visaerleichterungen für junge Akademiker. Wir brauchen darüber hi-
naus eine neue Flüchtlings- und Migrationspolitik, die den europäischen
Werten der Solidarität und Menschlichkeit entspricht. Es geht darum,
Fluchtursachen zu bekämpfen, und nicht die Flüchtlinge;

7. die soziale und wirtschaftliche Entwicklung in Ägypten und Tunesien ge-
zielt zu fördern durch einen Abbau von Handelshemmnissen und Be-
schränkungen des Marktzugangs, insbesondere für Agrarprodukte und
Dienstleistungen;

8. die Armutsbekämpfung in Ägypten und Tunesien u. a. durch Unterstützung
von guter Bildung sowie Arbeits- und Beschäftigungspolitik voranzutrei-
ben. In diesem Zusammenhang ist es unerlässlich und notwendig, die
Haushaltsmittel für Entwicklungszusammenarbeit gemäß den internationa-
len Verpflichtungen substantiell aufzustocken, um dem 0,7-Prozent-ODA-
Ziel näher zu kommen;

9. sich weltweit, insbesondere aber in der Europäischen Union, dafür einzu-
setzen, dass Vermögen eingefroren werden, die durch Korruption und
Machtmissbrauch erworben wurden;

10. sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass auch die Übergangs-
regierungen in Tunesien und Ägypten politische Rechte und Menschen-
rechte wahren.

Berlin, den 22. Februar 2011

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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