BT-Drucksache 17/4737

Aussetzung des Zivildienstes und Einführung eines Bundesfreiwilligendienstes

Vom 8. Februar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4737
17. Wahlperiode 08. 02. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Kai Gehring, Britta Haßelmann, Ekin Deligöz, Katja Dörner,
Priska Hinz (Herborn), Agnes Krumwiede, Monika Lazar, Tabea Rößner, Krista
Sager und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Aussetzung des Zivildienstes und Einführung eines Bundesfreiwilligendienstes

Am 15. Dezember 2010 wurden vom Bundeskabinett zwei Gesetzentwürfe be-
schlossen, mit denen die Pflicht zur Ableistung des Wehrdienstes und die davon
abgeleitete Pflicht zur Ableistung des Zivildienstes ausgesetzt und ein Bundes-
freiwilligendienst eingeführt werden soll. Die Gesetzentwürfe sehen vor, dass
nach dem 30. Juni 2011 der Antritt zum Zivildienst nicht mehr vollzogen wird.
Zum 31. Dezember 2011 sollen die letzten Zivildienstleistenden entlassen wer-
den. Somit ist davon auszugehen, dass die Pflicht zur Ableistung des Zivildiens-
tes zum 1. Juli 2011 nach über 50 Jahren ausgesetzt werden wird. In diesem Zeit-
raum haben mehr als 3 Millionen Ersatzdienstleistende wichtige Aufgaben für
das Gemeinwohl übernommen. Insbesondere die Pflege- und Betreuungsauf-
gaben in Krankenhäusern, Jugendhäusern, Altenheimen, in der Behindertenhilfe
und bei Rettungsdiensten gelten als die geläufigsten Einsatzgebiete von Zivil-
dienstleistenden. In diesen Bereichen sind die erbrachten Leistungen von Zivil-
dienstleistenden von hoher gesellschaftlicher und sozialpolitischer Relevanz.
Wurden Kriegsdienstverweigerer früher als Drückeberger beschimpft, gelten
Zivildienstleistende heute als gemeinwohlorientierte engagierte junge Männer.
Zugleich waren und sind die Pflichtdienste ein erheblicher Eingriff in die indi-
viduellen Freiheitsrechte, die Lebensplanungen und Bildungsbiografien junger
Männer.

Die Konversion des Zivildienstes ist eine politische Herausforderung, deren
Umsetzung ohne große Brüche oder gar Verwerfungen vonstatten gehen sollte.
Um die Aufgaben der Zivildienstleistenden zu kompensieren, bedarf es einer
nachhaltigen Gesamtstrategie, in der der massive Ausbau der Freiwilligen-
dienste eine wichtige Rolle spielt. In diesem tiefgreifenden Umbauprozess müs-
sen sich die jungen Menschen ebenso wie Träger und Dienststellen neu orientie-
ren. Dabei muss auch die Zukunft des bisherigen Bundesamtes für den
Zivildienst geklärt werden. 1973 übernahm das Amt die Verwaltung der Zivil-
dienstleistenden mit anfänglich 282 Beschäftigten und einem Jahresetat von um-
gerechnet 50 Mio. Euro. Im Laufe der Jahre hat es sich zu einem großen Dienst-
leistungszentrum mit über 1 000 Beschäftigten und einem Haushalt von rund

650 Mio. Euro entwickelt.

Im Kontext der Aussetzung des Zivildienstes plant die Bundesregierung – pa-
rallel zu den bestehenden und bewährten Jugendfreiwilligendiensten in Träger-
verantwortung – einen staatlichen Bundesfreiwilligendienst, der sich an Männer
und Frauen jeden Alters nach Erfüllung der Vollzeitschulpflicht richtet und nach
Schätzungen 35 000 Dienstleistende umfassen soll. Die Dauer des Dienstes soll
in der Regel zwölf, mindestens sechs und höchstens 24 Monate als Vollzeit-

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beschäftigung (bei über 27-Jährigen soll der Dienst auf 20 Wochenstunden ver-
ringert werden können) absolviert werden. Die Freiwilligen sollen ein Taschen-
geld erhalten.

Insgesamt gilt es zu hinterfragen, inwiefern der neue Bundesfreiwilligendienst
eine Parallelstruktur oder Ergänzung zu bestehenden Freiwilligendiensten
schafft, inwieweit er den Geboten der Arbeitsmarktneutralität, einer Abgren-
zung von bisherigem ehrenamtlichen und bürgerschaftlichen Engagement sowie
der Stärkung der Zivilgesellschaft gerecht wird.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Tätigkeiten in welchen Bereichen wurden in den letzten fünf Jahren
von Zivildienstleistenden schwerpunktmäßig erbracht (bitte nach Tätigkeiten
und Platzzahlen aufschlüsseln)?

2. Mit welchen konkreten Maßnahmen sollen die bisher von Zivildienstleisten-
den durchgeführten Tätigkeiten kompensiert werden, um entstehende Lücken
„zum großen Teil“ zu schließen (so die Bundesministerin für Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend, Dr. Kristina Schröder, bei der Vorstellung ihrer
Jahresplanung am 26. Januar 2011) und den Qualitätsstandard in den Einrich-
tungen zumindest auf dem aktuellen Stand zu halten (bitte nach Tätigkeiten
und Platzzahlen aufschlüsseln)?

3. Inwieweit sollen nach den Vorstellungen der Bundesregierung zukünftig
Tätigkeiten der Zivildienstleistenden von zusätzlichen sozialversicherungs-
pflichtigen Beschäftigungsverhältnissen des ersten Arbeitsmarktes übernom-
men werden, und welche konkreten Maßnahmen ergreift sie, um dies zu
organisieren bzw. anzureizen?

4. Wie und mit welchen konkreten Maßnahmen plant die Bundesregierung,
einen strukturierten Übergang vom Zivildienst zum Bundesfreiwilligendienst
zu gewährleisten, insbesondere um Planungssicherheit für alle beteiligten
Akteure herzustellen?

5. Welche konkreten Maßnahmen und Programme plant die Bundesregierung,
um einen Rückgang des Anteils junger Männer in personenbezogenen
Dienstleistungen, wie beispielsweise im Sozial-, Pflege- und Gesundheits-
wesen, aufzuhalten und zu kompensieren?

6. Was plant die Bundesregierung mit den frei werdenden Mitteln des Zivil-
dienstetats zu unternehmen, da in den neuen Bundesfreiwilligendienst nur
noch rund 300 Mio. Euro (vorher rund 600 Mio. Euro für den Zivildienst)
investiert werden?

Sollen diese in die Zivildienstkonversion investiert werden, und wenn nein,
warum nicht?

7. Womit begründet die Bundesregierung die Notwendigkeit der durch das Bun-
desfreiwilligendienstgesetz entstehenden Doppelstruktur zu den bestehenden
Freiwilligendiensten (insbesondere zu den im Jugendfreiwilligendienst-
gesetz geregelten Diensten FSJ (freiwilliges soziales Jahr) und FÖJ (freiwil-
liges ökologisches Jahr) und den generationenübergreifenden Freiwilligen-
diensten)?

8. Strebt die Bundesregierung perspektivisch eine strategische Weichenstellung
an, wonach die Freiwilligendienste in alleiniger Länderzuständigkeit oder
alleiniger Bundeszuständigkeit organisiert werden, oder plant sie eine Bei-
behaltung der neuen Misch- bzw. Doppelstruktur?

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9. Inwiefern teilt die Bundesregierung die Einschätzung des Bündnisses für
Gemeinnützigkeit u. a., wonach der Grundsatz der Nachrangigkeit von
staatlichem gegenüber ehrenamtlichem Engagement (Subsidiaritätsprinzip)
durch die Einführung eines Bundesfreiwilligendienstgesetzes missachtet
wird und alternativ ein Ausbau der bestehenden Freiwilligendienste in
Kooperation von Zivilgesellschaft, Ländern und Bund sachgerechter wäre?

10. Wie plant die Bundesregierung, einer Konkurrenz zwischen dem Bundes-
freiwilligendienst und den bestehenden Freiwilligendiensten – insbeson-
dere das FSJ und das FÖJ – wirksam entgegenzuwirken, und wie will sie
ausschließen, dass mittel- und langfristig bestehende Dienste verdrängt
werden?

11. Welche Maßnahmen sind geplant, um die bestehenden Freiwilligendienste
weiter auszubauen?

12. Wie will die Bundesregierung eine klare arbeits- und sozialrechtliche Defi-
nition und Abgrenzung der Freiwilligendienste gewährleisten?

13. Wann und mit welchen Zielen plant die Bundesregierung einen Entwurf für
ein „Freiwilligendienstestatusgesetz“ vorzulegen, wird das Bundesminis-
terium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend dabei die Federführung
innehaben, und welche Bundesministerien werden darüber hinaus an der
Entwicklung und Konzeptionierung beteiligt werden?

14. Inwiefern plant die Bundesregierung im Bundesfreiwilligendienstgesetz ein
Rückkehrrecht in die vor Aufnahme des Freiwilligendiensts bestehenden
Arbeitsverhältnisse?

15. Welche Zielgruppen hat die Bundesregierung für die Absolvierung des
Bundesfreiwilligendienstes im Blick?

16. Welche konkrete Regelung plant die Bundesregierung, um Freiwillige unter
25 Jahren, die keinen Freibetrag auf Kindergeld geltend machen können,
mit Freiwilligen, für die ein Anspruch auf einen Freibetrag nach § 32 Ab-
satz 6 des Einkommensteuergesetzes (EStG) oder Kindergeld besteht, gleich
zu behandeln, und wie unterscheiden sich die Regelungen zu denen im
Jugendfreiwilligendienstgesetz?

17. Wie und nach welchen Kriterien plant die Bundesregierung die Vergabe von
Plätzen für den Bundesfreiwilligendienst zu regeln, und gibt es Pläne, die
Anzahl der Plätze im neuen Bundesfreiwilligendienst zu begrenzen und/
oder an bestehende Freiwilligendienstplätze zu binden?

18. Welche Funktionen übernehmen die neu einzurichtenden Zentralstellen bei
der Umsetzung des Bundesfreiwilligendienstgesetzes, wie soll die Träger-
schaft der Zentralstellen geregelt werden, und welche Umstrukturierungs-
maßnahmen sind für die Einrichtung der Stellen erforderlich?

19. Werden die Regionalbetreuerinnen und Regionalbetreuer aus der Zivil-
dienststruktur übernommen, und wenn ja, in welchem Umfang, und für
welche Aufgaben?

20. Sind im Bundesfreiwilligendienst Weiterbildungsmaßnahmen vorgesehen,
die als Brücke in den Arbeitsmarkt genutzt werden können, und welche
konkreten Qualifizierungsmaßnahmen und Zertifizierungen der erworbe-
nen Qualifikationen sind geplant?

21. Welche konkrete pädagogische Begleitung ist im Bundesfreiwilligendienst-
gesetz vorgesehen, und inwiefern wird dabei die heterogene Zusammenset-
zung der Freiwilligen, insbesondere bezüglich des Alters und der Bildungs-
anforderungen, berücksichtigt?

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22. Welche Pläne zur Ansprache und Gewinnung junger Menschen entwickelt
und verfolgt die Bundesregierung, um die Zielzahl von 35 000 Bundesfrei-
willigendienstleistenden zu erreichen?

Welche Anreize plant sie zu setzen?

Welche Informations- und Werbekampagnen, mit welchen Kosten, sind in
Vorbereitung?

23. Wie will die Bundesregierung gewährleisten, dass junge Frauen und junge
Männer gleichermaßen das Angebot des Bundesfreiwilligendienstes wahr-
nehmen und ihn absolvieren?

24. Inwiefern plant die Bundesregierung Begünstigungen durch die Absolvie-
rung des Bundesfreiwilligendienstes, wie eine Bevorzugung bei der Stu-
dienplatzvergabe (u. a. Wartesemester) oder einen verbesserten Zugang zur
Berufsausbildung, inwiefern will sie diese auf bestehende Freiwilligen-
dienste ausweiten, und welche Vorkehrungen und Vereinbarungen sind im
Rahmen von Kultusministerinnen-/Kultusministerkonferenz, Jugendminis-
terinnen-/Jugendministerkonferenz oder in anderen Gremien bisher erörtert
oder getroffen worden?

25. Welche konkreten Maßnahmen ergreift die Bundesregierung, um sicherzu-
stellen, dass die Umsetzung des Bundesfreiwilligendienstes den Prinzipien
der Arbeitsmarktneutralität entspricht?

26. Ist seitens der Bundesregierung eine Überprüfung der Dienststellen und der
rund 170 000 bisher anerkannten Zivildienstplätze vorgesehen, um insbe-
sondere zu gewährleisten, dass diese Stellen den Anforderungen des Arbeits-
marktneutralitätsprinzips bei der Umsetzung des Bundesfreiwilligendienstes
entsprechen?

Wenn ja, wird diese Aufgabe zu den neuen Tätigkeiten des bisherigen Bun-
desamtes für den Zivildienst zählen, und nach welchen Kriterien wird die
Überprüfung durchgeführt?

Wenn nein, warum nicht?

27. Inwiefern plant die Bundesregierung private und gewinnorientierte Einrich-
tungen, in denen bisher fast ein Drittel der Zivildienstleistenden arbeiteten,
als Stellenanbieter für den Bundesfreiwilligendienst anzuerkennen?

28. Welche Auswirkungen des Bundesfreiwilligendienstgesetzes erwartet die
Bundesregierung gerade auch angesichts des generationenübergreifenden
Ansatzes des Bundesfreiwilligendienstgesetzes auf das klassische Ehren-
amt und andere bürgerschaftliche Engagementformen, vor allem aufgrund
der vorgesehenen Taschengeld- und Mindeststundenregelungen?

29. Ist neben den neuen Bundesfreiwilligendiensten eine Neuauflage bzw. ein
Folgeprogramm der „Freiwilligendienste aller Generationen“ geplant?

Falls ja, wie, und ab wann?

Falls nein, warum nicht?

30. Inwiefern plant die Bundesregierung die Beauftragung des Bundesamtes
für den Zivildienst mit der Durchführung des Bundesfreiwilligendienstge-
setzes, und für welche konkreten, gesetzlich und untergesetzlich geregelten
Aufgaben soll das Bundesamt für den Zivildienst zukünftig verantwortlich
sein?

31. Plant die Bundesregierung dem Bundesamt für den Zivildienst Aufgaben zu
übertragen, die nicht aus dem Bundesfreiwilligendienstgesetz hervorgehen?
Wenn ja, welche?

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32. Was versteht die Bundesregierung unter der Ankündigung der Bundes-
ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dr. Kristina Schröder,
(aus der Befragung der Bundesregierung vom 15. Dezember 2010 – Plenar-
protokoll 17/80), dass für das Bundesamt für den Zivildienst „weiterhin die
sehr schlanke Struktur“ vorgesehen ist und „eine schlanke und effiziente
Verwaltung der Freiwilligendienste“ erfolgen soll (so die Bundesministerin
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bei der Vorstellung ihrer Jahres-
planung am 26. Januar 2011), und wie will die Bundesregierung diese um-
setzen?

33. Inwiefern können die Aufgaben, die an das Bundesamt für den Zivildienst
zur Durchführung des Bundesfreiwilligendienstgesetzes übertragen werden
sollen, auch von anderen Behörden, Trägern oder Institutionen insbeson-
dere der Zivilgesellschaft geleistet werden, und welche Behörden, Träger
oder Institutionen kämen für die Übernahme der Aufgaben in Betracht (bitte
jeweils die alternativen Möglichkeiten aufführen)?

34. Welche Veränderungen des Personalbestandes plant die Bundesregierung
bei einer Umstrukturierung des Bundesamtes für den Zivildienst?

35. Wie viele Beschäftigte werden für die Umsetzung des Bundesfreiwilligen-
dienstgesetzes sowie für die neuen Aufgaben des Bundesamtes für den
Zivildienst eingeplant und benötigt (bitte jeweils pro Aufgabengebiet mit
genauer Angestellten- und Beamtenzahl angeben)?

36. Sind für die Übernahme der Durchführung des Bundesfreiwilligengesetzes
Umschulungen des Personals des Bundesamtes für den Zivildienst notwen-
dig?

Wenn ja, in welchen Bereichen, und in welchem Umfang müssen Umschu-
lungen durchgeführt werden?

37. Welche Kosten entstehen kurz-, mittel- und langfristig beim Bundesamt für
den Zivildienst aufgrund der Umsetzung des Bundesfreiwilligendienstge-
setzes und der neuen Aufgaben (bitte nach Aufgaben aufgeteilt angeben)?

38. Bleiben die Anzahl, Struktur und personelle Ausstattung der Zivildienst-
schulen bestehen?

Falls ja, warum?

Falls nein, warum nicht?

39. Welche konkreten Verabredungen und Entscheidungen im Rahmen der
Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK) oder anderer vergleichbarer
Gremien hat die Bundesregierung mit den Ländern getroffen, um für die
15 000 jungen Männer, die im Jahr 2011 aufgrund der Aussetzung von
Wehrpflicht und Zivildienst zusätzlich einen Ausbildungs- oder Studien-
platz benötigen, entsprechende Kapazitäten durch den Ausbildungspakt
bzw. Hochschulpakt bereitzustellen?

Berlin, den 8. Februar 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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