BT-Drucksache 17/4717

zu der Legislativen Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Januar 2011 zu dem Standpunkt des Rates in erster Lesung im Hinblick auf die Annahme einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung (11038/2/2010 - C7-0266/2010 - 2008/0142(COD)) Ratsdok. 11038/10 und KOM (2008) 414 endg. hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union EU-Richtlinie über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung fördert gesundheitliche Ungleichheit

Vom 9. Februar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4717
17. Wahlperiode 09. 02. 2011

Antrag
der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Andrej Hunko, Dr. Ilja
Seifert, Kathrin Senger-Schäfer, Alexander Ulrich, Kathrin Vogler und der Fraktion
DIE LINKE.

zu der legislativen Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Januar
2011 zu dem Standpunkt des Rates in erster Lesung im Hinblick auf die Annahme
einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Ausübung
der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung
(11038/2/2010 – C7-0266/2010 – 2008/0142(COD))
Ratsdok. 11038/10 und KOM(2008) 0414 endg.

hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des Gesetzes über
die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag
in Angelegenheiten der Europäischen Union

EU-Richtlinie über die Ausübung der Patientenrechte in
der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung fördert
gesundheitliche Ungleichheit

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Am 19. Januar 2011 haben die Abgeordneten des Europäischen Parlaments in
Straßburg einen Kompromiss zur Patientenrichtlinie (KOM(2008) 0414) ange-
nommen. Patientinnen und Patienten in Europa sollen in Zukunft entscheiden
können, in welchem europäischen Land sie sich behandeln lassen wollen. Die
Kosten werden durch die Krankenkassen in der Höhe übernommen, die auch
im Herkunftsland erstattet worden wäre. Darüber hinaus können die Mitglied-
staaten eigenständig entscheiden, ob sie weitergehende Kosten wie beispiels-
weise Unterbringungs- und Reisekosten zurückzahlen wollen.

Eine Kostenerstattung darf abgelehnt werden oder kann an eine Vorabgenehmi-
gung geknüpft werden, wenn beispielsweise finanzielle, technische oder perso-
nelle Ressourcen verschwendet oder eine Bedarfsplanung zur Sicherstellung
einer ausgewogenen qualitativ hochwertigen Behandlung erschwert wird. Eine
Vorabgenehmigung kann auch dem Zweck einer Kostenkontrolle dienen. Bei
planbaren Behandlungen können Vorabgenehmigungen gefordert werden, wenn
für die Behandlung mindestens eine Nacht im Krankenhaus erforderlich ist, eine

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kostenintensive und hochspezialisierte medizinische Infrastruktur benötigt wird
oder die Behandlung ein erhöhtes Risiko für den Patienten oder die Bevölke-
rung darstellt. Ferner kann die Vorabgenehmigung eingeführt werden, wenn die
Gesundheitsversorgung von einem Gesundheitsdienstleister erbracht wird, der
zu ernsthaften und spezifischen Bedenken bei der Einhaltung der Qualitätsstan-
dards und -leitlinien für die Versorgung und die Patientensicherheit Anlass gibt.

Was sich freizügig anhört, bedeutet eine Verschärfung des Trends zur Zwei-
Klassen-Medizin. Nur Menschen, die über ein ausreichendes Einkommen ver-
fügen, um Reise- und Beratungskosten zu finanzieren sowie über Sprachkennt-
nisse und einen höheren Bildungsstand, können sich diese Patientenmobilität
leisten. Eine Vorabgenehmigung, die einen Überblick über die zu erwartenden
Kosten und Eigenanteile geben würde, ist nicht zwingend vorgesehen. Viele
Menschen werden auf hohen Kosten sitzen bleiben. Aufgrund des existierenden
Kostengefälles zwischen den EU-Ländern können insbesondere für Versicherte
aus Mitgliedstaaten mit niedrigem Kostenniveau und entsprechend niedrigen
Erstattungsniveau erhebliche finanzielle Belastungen entstehen.

Wenn die Kostenerstattung nach den nationalen Sätzen des Versicherungslan-
des erfolgt, werden neue Ungleichheiten beim Zugang zu medizinischen Leis-
tungen geschaffen. Je niedriger die vom nationalen Gesundheitssystem garan-
tierte Erstattung von Behandlungskosten, umso geringer sind die Chancen auf
Behandlung in anderen, vor allem in reicheren EU-Ländern. Das Prinzip des
gleichen Zugangs für alle zu grenzüberschreitenden Gesundheitsdienstleistun-
gen und das Prinzip der Gleichheit in der Gesundheitsversorgung unabhängig
vom Einkommen wird grob verletzt.

Auf längere Sicht verschlechtert sich zudem die Gesundheitsversorgung in den
ärmeren Ländern der EU. Den nationalen Gesundheitssystemen werden Mittel
entzogen, wenn Ärztinnen und Ärzte bevorzugt für wohlhabende ausländische
Patientinnen und Patienten tätig werden, statt einheimische zu niedrigeren Sät-
zen zu behandeln.

Die Richtlinie öffnet das Tor zu einem liberalisierten EU-Gesundheitsbinnen-
markt. Gesundheitsdienstleistungen werden europaweit als wirtschaftliche Tätig-
keit Markt- und Wettbewerbsgesichtspunkten unterworfen. Leistungen des Ge-
sundheitssystems sind aber Teil der Daseinsvorsorge und keine handelbare
Ware beziehungsweise Dienstleistung.

Solidarität und Gleichheit in der Versorgung bei hoher Qualität unabhängig vom
Einkommen müssen in der gesamten EU gestärkt werden. Die Gesundheitsver-
sorgung hat der flächendeckenden, wohnortnahen und bedarfsgerechten gesund-
heitlichen Versorgung der Bevölkerung zu dienen und mit ihren Leistungen
allen Menschen unabhängig von Alter, Geschlecht sowie ihrer sozialen und
finanziellen Situation zur Verfügung zu stehen gemäß der Definition der Welt-
gesundheitsorganisation von Gesundheit als Zustand vollkommenen körper-
lichen, seelischen und geistigen Wohlbefindens. An diesen Zielen ist die EU-
Richtlinie zur grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung zu messen.

Alle Probleme im Rahmen EU-weiter Patientenmobilität – von der Übernahme
der Behandlungskosten, der Vorabgenehmigung von Behandlungen im EU-
Ausland und ihrer Einzelheiten, der Definition unverhältnismäßiger Wartezei-
ten, zur Rechtshilfe bei Behandlungsfehlern bis hin zu einer Europäischen
Charta der Patientenrechte – können im Rahmen der novellierten Verordnung
(EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Sep-
tember 2009 behandelt und gelöst werden. Diese Verordnung gründet auf dem
Bestimmungslandprinzip. Patientinnen und Patienten aus dem EU-Ausland
werden nach den gleichen Leistungs- und Qualitätsstandards und zu den glei-
chen Kostensätzen behandelt wie die inländischen. Vorkasse (Kostenerstattung)
ist nicht nötig. Die Abrechnung der Behandlungskosten wird zwischen den zu-

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ständigen Stellen des Versicherungsmitgliedstaates und des Behandlungsmit-
gliedstaates intern geregelt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. der Richtlinie KOM(2008) 0414 endgültig im Rat nicht zuzustimmen;

2. sich stattdessen im Rat dafür einzusetzen, dass patientengerechte Lösungen
für Behandlungen im EU-Ausland und in grenznahen Gebieten im Rahmen
der Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 und Nr. 988/2009 des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 erarbeitet werden;

3. am Sachleistungs- und Bestimmungslandprinzip festzuhalten;

4. sich im Rat dafür einzusetzen, Vorschläge, die nicht der Patientenmobilität
und der Sicherheit der Versicherten dienen oder die auf eine grenzüber-
schreitende Dienstleistungserbringung abzielen oder die zu stark in die Ge-
setzeshoheit der Mitgliedstaaten eingreifen, nicht weiter zu verfolgen.

5. jegliche Vermarktlichung der Gesundheitspolitik in der EU zu verhindern;

6. die europäische Integration in Richtung einer europäischen Sozialunion zu
befördern und sich für ein demokratisches, soziales, ökologisches und fried-
liches Europa mit guten Lebenschancen für alle Bürgerinnen und Bürger
einzusetzen.

Berlin, den 9. Februar 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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