BT-Drucksache 17/4564

zu der Beratung des Antrags der Bundesregierung - Drucksachen 17/4402, 17/4561 - Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan (International Security Assistance Force, ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 1943 (2010) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen

Vom 26. Januar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4564
17. Wahlperiode 26. 01. 2011

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, Sevim
Dag˘delen, Dr. Diether Dehm, Annette Groth, Heike Hänsel, Inge Höger, Andrej
Hunko, Harald Koch, Stefan Liebich, Niema Movassat, Thomas Nord, Paul Schäfer
(Köln), Alexander Ulrich, Kathrin Vogler, Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Beratung des Antrags der Bundesregierung
– Drucksachen 17/4402, 17/4561 –

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz
der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan
(International Security Assistance Force, ISAF) unter Führung der NATO
auf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001) und folgender Resolutionen,
zuletzt Resolution 1943 (2010) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

„Mittlerweile sind sich alle Akteure einig: Militärisch ist der Konflikt in Afgha-
nistan nicht zu lösen.“ So heißt es in dem im Dezember 2010 von der Bundes-
regierung veröffentlichten Fortschrittsbericht Afghanistan. Ähnlich äußerte sich
der Sonderbeauftragte der Bundesregierung für Afghanistan und Pakistan an-
lässlich des NATO-Gipfels im November 2010 gegenüber der Zeitung „DER
TAGESSPIEGEL“: „Jeder weiß, dass es in Afghanistan keine militärische
Lösung geben kann. Der Westen hat sich zu Afghanistan in der Vergangenheit
Illusionen hingegeben, […].“ Deshalb kommt die Bundesregierung im Fort-
schrittsbericht Afghanistan zu der Feststellung: „Die stetig wachsende Militär-
präsenz hat bisher nicht zu einer signifikanten und nachhaltigen Verbesserung
der Sicherheitslage geführt.“

Trotzdem will die Bundesregierung das ISAF-Mandat und damit die Teilnahme
am Krieg in Afghanistan ein weiteres Mal verlängern. Das Mandat leitet keinen
Abzug ein, sondern fördert eine Intensivierung der Kampfhandlungen. Nicht
einmal die Perspektive eines möglichen (Teil-)Abzugs wird konkretisiert. Die
Bundesregierung will mit einem neuen Mandat an dem alten Kurs, an den alten

Fehlern festhalten. Die Verlegung von schwerem Kriegsgerät (Panzer und Artil-
lerie) sowie die Planungen für die Verlegung von Tiger-Kampfhubschraubern
2012 zeigen, dass auch in Zukunft in erster Linie auf die militärische Karte ge-
setzt werden soll. Durch die absehbare Erweiterung des ISAF-Mandats um die
militärische Überwachung des afghanischen Luftraums durch AWACS-Flug-
zeuge ist in den nächsten Monaten zudem noch mit einer personellen Auswei-
tung des Bundeswehrkontingents zu rechnen.

Drucksache 17/4564 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Damit würde der Afghanistankrieg bald in seine zweite Dekade gehen und län-
ger dauern als die sowjetische Besetzung Afghanistans oder der Vietnamkrieg.
Dass die Bundesregierung auch weit über 2014 hinaus in Afghanistan militärisch
präsent sein will, wird auch im Fortschrittsbericht hervorgehoben: „In der Phase
der Transformation wird die afghanische Regierung die internationale Gemein-
schaft und damit möglicherweise Deutschland um die Unterstützung durch Aus-
bildungskräfte und Schlüsselfähigkeiten der Bundeswehr (allerdings in deutlich
geringerer Stärke) auch über 2014 hinaus bitten.“

Stattdessen müssen aus der realen Lage in Afghanistan, die auch im Fortschritts-
bericht treffend beschrieben wird, gegenteilige Schlüsse gezogen und das ISAF-
Mandat endlich gegen einen zivilen Konfliktlösungsansatz ausgetauscht wer-
den. Ähnlich äußert sich auch der Präsident der Internationalen katholischen
Friedensbewegung pax christi, Bischof Heinz Josef Algermissen, in seiner Er-
klärung zur Verlängerung des Afghanistanmandats: „Es ist unverantwortlich,
weiterhin Soldatinnen und Soldaten für einen Einsatz zu mandatieren, von dem
alle Beteiligten, Militär und Politik, überzeugt sind, dass dieser Krieg dort nicht
gewonnen werden kann. Es dürfen nicht noch mehr Menschen geopfert werden
in der Annahme, militärisches Durchhalten könne das Land mit der Zeit so weit
stabilisieren, dass alliierte Truppen dann abgezogen werden können. Um im
Interesse der afghanischen Bevölkerung Sicherheit zu gewährleisten, sind jetzt
nicht Kämpfe, sondern das Ende aller Kampfhandlungen notwendig.“

II. Der Deutsche Bundestag stellt weiter fest:

1. Mehr als 10 000 Menschen hat der Krieg in Afghanistan im Jahr 2010 das Le-
ben gekostet, so Informationen der Nachrichtenagentur AFP. Die Vereinten
Nationen (VN) gehen allein im Zeitraum von Januar bis Oktober 2010 von
mehr als 2 400 getöteten Zivilistinnen und Zivilisten aus – das ist eine Stei-
gerung von 20 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Zwischen 2004
und 2009 sind nach Angaben des Afghan War Diary 24 155 Menschen bei
Kampfhandlungen gestorben und 26 667 verletzt worden. Unter den Toten
waren 2 200 Koalitionssoldaten, darunter 45 Bundeswehrsoldaten und drei
deutsche Polizisten.

2. Der Krieg kostet derzeit laut Afghanistan Study Group 140 Mrd. US-Dollar
pro Jahr (Afghanistan Study Group vom 22. Dezember 2010). Das Deutsche
Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) legt in einer Studie dar, dass sich die
tatsächlichen deutschen Kriegskosten bisher auf 18 bis 33 Mrd. Euro belau-
fen. Sollte Deutschland noch weitere Jahre in Afghanistan bleiben, so würden
diese auf 26 bis 47 Mrd. Euro ansteigen, so das DIW. Jedes weitere Jahr
würde etwa drei Mrd. Euro kosten.

3. Die bisherige internationale Wiederaufbaustrategie für Afghanistan ist ge-
scheitert. Die mit der Londoner Afghanistankonferenz im Frühjahr 2010 an-
gestrebte Trendwende blieb aus. Manipulierte Wahlen, bis in die Staatsspitze
reichende Korruption und der Fehlstart des Re-Integrationsprogramms für
Aufständische sind deutliche Belege dafür. Die Unterordnung ziviler Auf-
baumaßnahmen unter militärische Erfordernisse steht dem Aufbau demokra-
tischer Strukturen vielfach entgegen.

4. Der Fortschrittsbericht Afghanistan dokumentiert keine wesentliche Verbes-
serung in wichtigen Lebensbereichen für die Bevölkerung. Wenigen erzielten
Verbesserungen im Gesundheitswesen und im Bildungssystem stehen kata-
strophale Zustände in vielen anderen Bereichen gegenüber. Das betrifft ins-
besondere die Situation von Flüchtlingen, die Armutsbekämpfung und die
allgemeine Versorgung der Bevölkerung. Afghanistan ist nach wie vor eines
der ärmsten Länder der Welt.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4564

5. Der Krieg der NATO in Afghanistan hat das Land nicht stabilisiert – im Ge-
genteil: Auch die Armut und Perspektivlosigkeit der Menschen in Afghanis-
tan treibt diese Aufständischen in die Arme. Nächtliche Hausdurchsuchun-
gen, gezielte Tötungen, Drohnenangriffe und die hohe Zahl ziviler Opfer
schüren zunehmend den Widerstand in der Bevölkerung gegen die NATO-
Truppen. Die weitere Destabilisierung der Situation in Pakistan verschärft
zusätzlich die Sicherheitslage.

6. Der derzeitige Einsatz der Bundeswehr hat mit der Absicherung des politi-
schen und wirtschaftlichen Aufbaus in Afghanistan nichts zu tun. Insbeson-
dere im Norden Afghanistans führt die Bundeswehr inzwischen vor allem
gemeinsam mit US-Streitkräften und der afghanischen Armee Kampfein-
sätze durch. Auch außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs im Regionalkom-
mando Nord trägt die Bundeswehr zu der fatalen Eskalationsstrategie der
NATO bei. In den NATO-Planungsstäben beteiligt sich die Bundeswehr an
der Planung und Durchführung von offensiven militärischen Operationen,
die zu gezielten Tötungen führen.

7. Zwar wird im Fortschrittsbericht eine so genannte Abzugsperspektive für
die Bundeswehr aus Afghanistan aufgemacht und die NATO hat die Strate-
gie Transition/Inteqal beschlossen, aber beides deutet nicht auf einen wirk-
lichen Abzug der Truppen hin. Stattdessen sollen auch nach der Übergabe
der Sicherheitsverantwortung noch 50 000 NATO-Soldaten im Land blei-
ben. Nach der bisherigen Strategie in Afghanistan ist davon auszugehen,
dass diese über Geheim- und Kommandoaktionen einschließlich so genann-
ter Capture-or-Kill-Einsätze und „gezielter Tötungen“ weiter Einfluss auf
die Zukunft Afghanistans ausüben sollen.

8. Als Voraussetzung für den Abzug wird der Aufbau eines umfassenden Si-
cherheitsapparates genannt, welcher formal der afghanischen Regierung un-
terstehen soll, aber auf Jahrzehnte nur mit internationaler Hilfe finanziert
werden kann. Der Aufbau afghanischer Militär- und Polizeikräfte hat bis-
lang jedoch nicht zur Stabilisierung beigetragen. Polizei- und Streitkräfte
Afghanistans werden von der Bevölkerung häufig als Bedrohung wahrge-
nommen. In der von 28 afghanischen Nichtregierungsorganisationen (NGOs)
herausgegebenen Studie „Nowhere to turn. The Failure to Protect Civilians
in Afghanistan” werden die massiven Risiken einer eilig betriebenen Aus-
bildung mit dem Ziel der „Übergabe der Verantwortung“ beschrieben: Zahl-
reiche Polizisten desertieren, weil sie im Dienste von Warlords und Drogen-
baronen mehr Geld verdienen. Es werden massenhaft Menschen bewaffnet,
wobei eine Kontrolle darüber, was durch diese Bewaffnung passiert, un-
möglich ist. Die NGOs verweisen auf das große Missbrauchsrisiko, dass
insbesondere durch die schnelle, unsolide Ausbildung der Rekruten von Po-
lizei und Militär entsteht. Sie sehen in dieser Ausbildung eher eine Verunsi-
cherung als eine Sicherung.

9. Das Ansehen Deutschlands und seiner Truppen in Afghanistan ist erheblich
gesunken. Zu diesem Trend trägt auch bei, dass sich Deutschland bisher
weder bei den Angehörigen der Opfer der Bombardierung des Tanklast-
zuges in Kundus am 4. September 2009, bei dem mindestens 113 Zivilisten
getötet wurden, noch bei den anderen zivilen Opfern der Bundeswehrein-
sätze entschuldigt hat. Sie wurden auch nicht annähernd hinreichend ent-
schädigt. Deutschland erscheint inzwischen vielen Menschen in Afghanis-
tan als Unterstützer einer korrupten Regierung, krimineller Warlords und
einflussreicher Drogenkartelle.

10. Die deutsche Beteiligung am Krieg in Afghanistan hat bereits jetzt die deut-
sche Gesellschaft und den deutschen Staat verändert: Als kriegführende Na-

tion, die so auch ins Visier des internationalen Terrorismus geraten ist, wer-
den Elemente des Feindstrafrechts diskutiert, Bürger- und Menschenrechte

Drucksache 17/4564 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
zugunsten der „Bekämpfung des Terrorismus“ eingeschränkt, die im Grund-
gesetz verankerte Trennung zwischen Polizei, Nachrichtendiensten und Mi-
litär ausgehöhlt und die Tötung von unschuldigen Zivilisten als „militärisch
gerechtfertigt“ angesehen.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Bundeswehr unverzüglich aus Afghanistan abzuziehen;

2. dem Bundestag umgehend einen Abzugsplan vorzulegen;

3. die Angehörigen der Bundespolizei und der Polizeien der Länder unverzüg-
lich aus Afghanistan abzuziehen und die Beteiligung an der Mission EUPOL
Afghanistan und die bilaterale Zusammenarbeit im Rahmen des German
Police Project Team (GPPT) einzustellen;

4. die NATO darüber zu unterrichten, dass Deutschland sich am ISAF-Einsatz
nicht mehr beteiligen und innerhalb der NATO eine Beendigung des Einsat-
zes betreiben wird;

5. sich im VN-Sicherheitsrat dafür einzusetzen, dass es kein weiteres ISAF-
Mandat mehr geben wird und

6. die Bemühungen für den innerafghanischen Friedens- und Aussöhnungspro-
zess und die Selbstbestimmung und Entwicklung Afghanistans mit zivilen
Instrumenten zu unterstützen und eine Initiative für vertrauensbildende Maß-
nahmen in der Region unter Einbeziehung aller Anrainerstaaten zu unterneh-
men.

Berlin, den 25. Januar 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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