BT-Drucksache 17/4556

zu der Beratung der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. -17/2218, 17/4332- Gesundheitliche Ungleichheit im europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung

Vom 26. Januar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4556
17. Wahlperiode 26. 01. 2011

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Inge Höger, Dr. Ilja Seifert, Kathrin
Senger-Schäfer, Kathrin Vogler, Harald Weinberg und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Beratung der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der
Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.
– Drucksachen 17/2218, 17/4332 –

Gesundheitliche Ungleichheit im europäischen Jahr gegen Armut und soziale
Ausgrenzung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

In Deutschland führen soziale Ungleichheiten zu ungleichen Gesundheitschan-
cen. So leben Menschen mit geringem Einkommen bis zu zehn Jahre kürzer als
Menschen mit hohem Einkommen. Das Gesundheitssystem muss dazu beitra-
gen, dass soziale Unterschiede nicht zu unterschiedlicher Gesundheit führen.
Das Gesundheitssystem kann natürlich nicht alle Folgen sozialer Ungleichheit
ausgleichen. Die Minimalforderung muss aber lauten, dass die Unterschiede
durch das Gesundheitssystem nicht verstärkt werden. Um sozial ungleiche Ge-
sundheitsversorgung zu vermeiden, dürfen Menschen nicht unterschiedlich
stark finanziell belastet werden.

Die solidarische Versicherung entspringt dem Gedanken, dass Gesunde für
Kranke und Reiche für Arme einstehen. Zuzahlungen wie die Praxisgebühr und
die Beitragsbemessungsgrenze verletzen diese Grundsätze in der gesetzlichen
Krankenversicherung (GKV) massiv. Privat Versicherte zahlen, bis auf Beihilfe-
berechtigte, keine Praxisgebühr und Zuzahlungen. Das ist eine Ungleichbehand-
lung von gesetzlich und privat Versicherten. Jährliche Selbstbeteiligungen, die
Privatversicherte zur Senkung ihres Tarifs vereinbaren, können nicht als ähn-
liche oder gar höhere Belastung deklariert werden, denn sie sind keine verord-
neten, unabwendbaren Belastungen wie die Praxisgebühr und Zuzahlungen bei
den GKV-Versicherten.

Praxisgebühren und andere Zuzahlungen belasten besonders Versicherte mit

niedrigen Einkommen stark, da sie pauschal und einkommensunabhängig erho-
ben werden. Eine Zuzahlungsbefreiung aufgrund niedriger Einkommen wurde
2004 unter der rot-grünen Bundesregierung abgeschafft. 10 Euro Praxisgebühr
in einem Kalendermonat belasten eine Person mit 1 000 Euro Monatsein-
kommen mit einem Prozent des Monatseinkommens, während eine Person mit
4 000 Euro Einkommen nur mit 0,25 Prozent des Monatseinkommens belastet
wird. Das ist sozial ungerecht und widerspricht dem Solidargedanken.

Drucksache 17/4556 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
Zuzahlungen sind allein von den Patientinnen und Patienten zu bezahlen. Da-
durch werden Kranke gegenüber Gesunden stärker belastet. Die Arbeitgeber
müssen sich an diesen Zahlungen überhaupt nicht beteiligen. Auch dadurch wird
das Solidarprinzip ausgehöhlt. Die Bevölkerung unterstützt laut repräsentativen
Umfragen zu ca. 80 Prozent die solidarische Finanzierung des Gesundheitssys-
tems.

Bei Menschen mit geringen Einkommen verstärken sich beide Effekte, da, wie
auch die Antworten der Bundesregierung bestätigen, ärmere Menschen durch-
schnittlich kränker sind. Frauen müssen laut Arzneimittel-Report 2010 in fast
allen Altersgruppen mehr Arzneimittelzuzahlungen entrichten als Männer. Da-
her sind Frauen hier in besonderer Weise betroffen. Praxisgebühren und andere
Zuzahlungen verstärken damit die Unterschiede bei den Gesundheitschancen
von Menschen mit hohem und geringem Einkommen.

Der Nachweis, dass Praxisgebühren und andere Zuzahlungen positive Steue-
rungseffekte haben, fehlt. Steuerungseffekte waren aber eine wesentliche Be-
gründung für die Einführung. Die Mehrzahl der Studien zeigt allerdings negative
Steuerungswirkungen auf. So hat eine Studie der Bertelsmann Stiftung ergeben,
dass chronisch Kranke mit einem monatlichen Einkommen von weniger als
600 Euro zweieinhalbmal häufiger als Besserverdiener wegen der 10 Euro
Praxisgebühr einen Arztbesuch verschoben oder vermieden haben. Unter-
suchungen aus den USA zeigen auf, dass sich die Einnahmetreue bei Arzneimit-
teln nach der Abschaffung bzw. Halbierung der Selbstbeteiligungen deutlich
verbesserte. Die österreichische Regierung hat das Pendant zur Praxisgebühr,
die Ambulanzgebühr, nach zwei Jahren heftiger Kritik an den unsozialen Aus-
wirkungen wieder abgeschafft.

Die Beitragsbemessungsgrenze beschränkt das Solidarprinzip auf mittlere und
geringe Einkommen. Menschen mit einem Bruttoeinkommen von mehr als
3 712,50 Euro monatlich werden entlastet. Sie bezahlen prozentual weniger ein
als die große Mehrheit der Solidargemeinschaft. Laut Bundesregierung steht
dem Gesetzgeber bei der Gestaltung der Beitragsbemessungsgrenze ein weiter
Spielraum zur Verfügung.

Im Jahr 2009 bezahlten die Versicherten mehr als 4,8 Mrd. Euro Zuzahlungen
und Praxisgebühren an ihre Krankenkassen. Die Anhebung der Beitragsbemes-
sungsgrenze auf das entsprechende Niveau der gesetzlichen Rentenversicherung
(West) würde die Mindereinnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung
infolge der Abschaffung der Praxisgebühren und anderer Zuzahlungen ausglei-
chen. Eine bessere Einnahmebasis der Krankenkassen und eine Stärkung des
Solidargedankens könnten perspektivisch mit der Aufhebung der Beitragsbe-
messungsgrenze erreicht werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf vorzulegen, der

1. alle Zuzahlungen inklusive der Praxisgebühr abschafft;

2. zur Gegenfinanzierung die Beitragsbemessungsgrenze der GKV auf die der
gesetzlichen Rentenversicherung (West) anhebt. Darüber hinaus ist die Ver-
sicherungspflichtgrenze entsprechend zu erhöhen.

Berlin, den 26. Januar 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.