BT-Drucksache 17/4449

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zum zivilen Wiederaufbau in Afghanistan

Vom 18. Januar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4449
17. Wahlperiode 18. 01. 2011

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Heike Hänsel, Jan van Aken, Christine Buchholz, Sevim
Dag˘delen, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, Inge Höger,
Andrej Hunko, Stefan Liebich, Niema Movassat, Thomas Nord, Paul Schäfer (Köln),
Alexander Ulrich, Kathrin Vogler, Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

zum zivilen Wiederaufbau in Afghanistan

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Neun Jahre nach Beginn der ISAF-Militärintervention (ISAF – International
Security Assistance Force) in Afghanistan unter Beteiligung der deutschen Bun-
deswehr ist die soziale, politische, wirtschaftliche und humanitäre Situation in
dem zentralasiatischen Land katastrophal.

Seit 2002 leistet die Bundesregierung Entwicklungshilfe in Afghanistan, vor
allem in den nördlichen Provinzen. Auch eine große Zahl an nichtstaatlichen
Entwicklungsorganisationen (NRO) betreibt in Afghanistan Projekte, die teil-
weise vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung (BMZ) finanziert werden. Über die Einbettung in die Provincial
Reconstruction Teams (PRTs) werden einige dieser Projekte unmittelbarer Be-
standteil des Bundeswehreinsatzes, dessen Operationsschwerpunkt bereits seit
Jahren in der Aufstandsbekämpfung besteht und immer deutlicher den Charak-
ter einer offenen Kriegsführung annimmt. Humanitäre Hilfe und Entwicklungs-
zusammenarbeit werden somit auch zu einem Sanktionsmechanismus gegen-
über der lokalen Bevölkerung. Dies kommt in der aktuellen NATO-Kampfstra-
tegie „Shape – Clear – Hold – Build“ deutlich zum Ausdruck. Durch offensive
Militäraktionen (shape) wird die Vertreibung von Aufständischen (clear) vorbe-
reitet, anschließend sollen vor allem afghanische Polizei- und Armeeangehörige
das gewonnene Territorium verteidigen (hold) und das Wohlwollen der Bevöl-
kerung soll durch kurzfristige Aufbaumaßnahmen (build) gewonnen werden.
Damit werden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entwicklungspolitischer

und humanitärer Organisationen auch von der afghanischen Bevölkerung und
den Opposing Militant Forces (OMF) zunehmend als Teil des Besatzungsre-
gimes angesehen. So werden auch sie immer abhängiger von militärischem
„Schutz“. Die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten
wird auch auf Seiten der ISAF immer undeutlicher.

Der ISAF-Einsatz war ursprünglich als Mission zur Unterstützung der afghani-
schen (Übergangs-)Regierung vom UN-Sicherheitsrat mandatiert und beinhaltet

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auch den zivilen Aufbau. Er wurde jedoch auf Regionen ausgeweitet, die nicht
unter Kontrolle der Übergangsregierung standen. Die PRTs sollten unter militä-
rischer Führung den Einflussbereich der Karsai-Regierung auf die afghanischen
Provinzen ausweiten. Dadurch wird die zunehmende Unterordnung ziviler Or-
ganisationen und zivilen Personals unter den militärischen Auftrag befördert.
Laut einer kritischen Analyse des Verbands Entwicklungspolitik deutscher
Nichtregierungsorganisationen e. V. (VENRO) sollte die Einbindung ziviler
Kräfte auch einen u. a. durch den Irakkrieg bedingten Mangel an militärischem
Personal ausgleichen, „denn eine landesweite militärische Besetzung des Flä-
chenstaates hätte ein Vielfaches der jetzigen Truppenstärke erfordert“ (VENRO-
Positionspapier 1/2009).

Im Rahmen der zivil-militärischen Zusammenarbeit (CIMIC) werden in Koope-
ration mit der Bundeswehr Aufbauprojekte durchgeführt. Charakteristisch für
diese Projekte ist die enge Verzahnung von Sicherheits-, Außen- und Entwick-
lungspolitik unter dem Begriff „Vernetzte Sicherheit“. Entwicklungsorganisa-
tionen beklagen jedoch seit Beginn von CIMIC ein erhöhtes Gefahrenpotenzial,
z. B. in der Nähe von Stützpunkten der PRTs, die ihre Aufbauarbeit teilweise so-
gar verhindern. 29 in Afghanistan tätige Entwicklungsorganisationen fordern,
die PRTs umgehend aufzulösen (siehe Oxfam et al.: Nowhere to turn. The
Failure to Protect Civilians in Afghanistan, 19. November 2010).

Seit Beginn seiner Amtsführung hat der Bundesminister für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel, mit seiner Ankündigung, die Ver-
gabe von Entwicklungsgeldern durch das BMZ an Nichtregierungsorganisatio-
nen an deren Kooperation mit dem Militär zu koppeln, für großen Protest unter
den Hilfsorganisationen gesorgt. Die zivil-militärische Zusammenarbeit ist kein
Konzept für eine armutsbekämpfende, nachhaltige Entwicklungszusammen-
arbeit, sondern für eine Einbindung in sicherheitspolitische Strategien. Nur so
lässt es sich erklären, dass deutsche staatliche Entwicklungsprojekte fast aus-
schließlich in den Regionen, in denen die Bundeswehr stationiert ist, durchge-
führt werden, unabhängig vom Entwicklungsbedarf in anderen Armutsregionen
Afghanistans.

Hilfsorganisationen haben einen Anstieg von Angriffen durch Aufständische so-
wie Drohungen dokumentiert, die ihre Möglichkeiten, afghanische Dörfer zu
erreichen, die auf Hilfe angewiesen sind, stark beeinträchtigen. Die Zahl getöte-
ter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen ist seit 2009 um
47 Prozent gestiegen, während Entführungen sogar um 60 Prozent zugenommen
haben; überwiegend im Norden des Landes.

Die Strategie, internationale Truppen näher an Dörfern zu positionieren, wird
von den Dorfbewohnerinnen und -bewohnern selten als Schutz, meist jedoch als
enormes Risiko bewertet. Auch die „Winning Hearts and Minds“-Taktik der
ISAF-Truppen wird stark von Hilfsorganisationen kritisiert – dabei betreiben
Streitkräfte entweder selbst Aufbauhilfe oder binden zivile Hilfsorganisationen
bei ihrer Entwicklungsarbeit in militärische Strategien ein. Erfahrungen zeigen,
dass diese Vermischung von militärischem und zivilem Engagement die afgha-
nische Bevölkerung und die Hilfsorganisationen einem großen Risiko aussetzt,
da sie auf diese Weise vermehrt zu Anschlagszielen von Aufständischen werden.

Hilfsorganisationen müssen sich auf die lokale Akzeptanz in der Bevölkerung
verlassen. Dass ihre Arbeit von allen Parteien als unabhängig und neutral wahr-
genommen wird, ist unerlässlich für den Erfolg ihrer Arbeit und die Sicherheit
ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Eine offizielle Bilanz der Bundesregierung über den Erfolg oder Misserfolg der
durchgeführten und geförderten Projekte blieb trotz der festgelegten Ziele bis-
lang aus. Umso entlarvender ist es hingegen, dass von Bundeswehr und NATO

bereits mehrere Studien zur Auswirkung entwicklungspolitischer Maßnahmen
auf die Sicherheit der ISAF-/Bundeswehrsoldaten durchgeführt wurden.

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Im Dezember 2010 legte die Bundesregierung nun mit dem „Fortschrittsbericht“
eine erste offizielle Bilanz des Einsatzes vor. Dieser Bericht dokumentiert gra-
vierende Defizite bei der Regierungsführung, eine anhaltend große Armut sowie
mangelnde Fortschritte bei der Drogenbekämpfung. In einigen Ländern wie
Kanada, das den Truppenabzug aus Afghanistan für das Jahr 2011 und die Um-
widmung der Gelder für zivile Projekte beschlossen hat, ist ein solcher Bericht
über die Auswertung des gesamten zivilen Wiederaufbaus bereits Standard; dort
wird das Parlament regelmäßig unterrichtet.

Die soziale Lage in Afghanistan ist gleichbleibend schlecht. Afghanistan liegt
auf Platz 181 und damit auf dem vorletzten Platz des Human Development
Index (HDI). Rund 80 Prozent der Frauen und 60 Prozent der Männer sind
Analphabeten, weniger als 19 Prozent der Bevölkerung haben Zugang zu medi-
zinischer Versorgung und sauberem Wasser (siehe Welthungerhilfe vom 15. No-
vember 2010). Laut der Weltbank liegt die Säuglingssterblichkeit bei 199 Kin-
dern pro 1 000 Geburten. Sie ist damit 50-mal so hoch wie in Deutschland. Im
HDI heißt es, dass sich 2,8 Millionen Afghaninnen und Afghanen – das ist jeder
zehnte Einwohner – auf der Flucht befinden. In den umkämpften Regionen gibt
es eine hohe Zahl an Binnenflüchtlingen, oft ohne ausreichende humanitäre und
gesundheitliche Versorgung. Auch ein Bericht der International Crisis Group
(ICG) bemängelt, dass der Konflikt den Zugang der afghanischen Bevölkerung
zu Gesundheitsversorgung, Bildung und anderen sozialen Dienstleistungen
stark eingeschränkt hat. Angriffe auf Schulen, z. B. das Abbrennen oder erzwun-
gene Schließen von Schulen, die Verwendung von Schulen für militärische Zwe-
cke sowie Drohungen gegen das Lehrerpersonal und Schülerinnen und Schüler
nehmen zu. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist grob beeinträchtigt. Seit
2005 konstatiert eine Mehrheit der Afghaninnen und Afghanen eine Abnahme
ihrer Lebensqualität, eine deutlich höhere Gefährdung durch mangelnde Sicher-
heit sowie eine sich verschlechternde Versorgung mit Lebensmitteln. Noch im-
mer ist die Versorgung der Bevölkerung mit sauberem Trinkwasser sehr mangel-
haft. Nur 19 Prozent der Befragten erklärten, dass sie über einen guten Zugang
zu Wasser verfügten (Umfrage ARD, The Washington Post u. a. vom Dezember
2010).

Von Fortschritt kann also keine Rede sein. Die Afghanistanstrategie ist geschei-
tert. Im ersten Halbjahr 2010 hat sich die Zahl gewalttätiger Vorfälle in Afgha-
nistan um 70 Prozent zum Vorjahr erhöht. Die Zahl der verletzten und getöteten
Zivilistinnen und Zivilisten steigt kontinuierlich und erhöht sich auch dadurch,
dass sich die ISAF militärisch in der Defensive befindet und immer schwerere
Waffen einsetzt. Durch Anschläge und Kämpfe in Afghanistan sind im vergan-
genen Jahr wahrscheinlich über 10 000 Menschen getötet worden. Die Zahl der
getöteten Zivilisten wird auf 2 000 bis 5 000 geschätzt. Das afghanische Innen-
ministerium gab die Gesamtzahl der getöteten Zivilisten, Polizisten und Auf-
ständischen mit 8 560 an. Laut icasualties.org kamen zudem 711 ausländische
Soldaten im vergangenen Jahr ums Leben.

Diese Zahlen demonstrieren, dass die 6,2 Mrd. Euro, die die Bundesregierung
seit 2002 für den Afghanistaneinsatz ausgegeben hat, allen Bemühungen um
wirtschaftlichen Aufbau und eine soziale Entwicklung zuwiderlaufen. Auch bei
einer Verdopplung der Mittel für den zivilen Aufbau auf 430 Mio. Euro im Jahr
2010 wird die Wirkung der eingesetzten Mittel durch den Krieg konterkariert.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) beziffert die Kosten des
deutschen Afghanistaneinsatzes sogar weit höher als von der Bundesregierung
angegeben und schätzt, dass selbst bei einem Abzug im Jahr 2011 der Krieg
zwischen 18 und 33 Mrd. Euro gekostet haben wird. In diesen Betrag sind
Kriegskosten wie Soldatengehälter und Ausrüstungsgüter eingerechnet, die in
den offiziellen Zahlen der Bundesregierung nicht vorkommen (Eine erste Schät-

zung der wirtschaftlichen Kosten der deutschen Beteiligung am Krieg in Afgha-
nistan, Nr. 21, 26. Mai 2010).

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Zwar ist es in den letzten Jahren gelungen, ein gewisses Wirtschaftswachstum in
Afghanistan zu erzeugen, aber bei der Bevölkerung kam davon wenig an. Aus-
ländische Firmen haben weit mehr profitiert aufgrund einer neoliberalen Wirt-
schafts- und Privatisierungspolitik. Unter diesen Bedingungen ist eine nach-
holende Entwicklung Afghanistans nahezu unmöglich. Die Bundesregierung hat
im April 2005 ein bilaterales Investitionsschutzabkommen mit dem zentralasia-
tischen Land abgeschlossen, das von Freihandel gekennzeichnet ist, der eine
umfassende Gewinnabschöpfung westlicher Konzerne ermöglicht. Zudem flie-
ßen große Teile der Einnahmen aus der Entwicklungshilfe in die Kassen dieser
Konzerne (Jürgen Wagner, Prototyp Afghanistan: Neoliberales Nation Building
und zivil-militärische Aufstandsbekämpfung, 23. Oktober 2008). Als „Afgha-
nistan GmbH“ (Afghanistan Inc. 2006) bezeichnete eine Studie der afghani-
schen Politikwissenschaftlerin Fariba Nawa die interessensgeleitete Wiederauf-
baupraxis. Obwohl afghanische Firmen die meisten Aufträge billiger und hoch-
wertiger durchführen könnten, profitieren ausländische Konzerne und Hilfsor-
ganisationen. Caritas International kritisiert die vorherrschende Vergabepraxis,
„dass importierte Arbeitskräfte und Güter genutzt werden müssen, zumeist des
jeweiligen Geber-Landes.“ Schätzungen von Oxfam zufolge fließen 40 Prozent
der Hilfsgelder so direkt zurück an die Konzerne der intervenierenden Staaten.

Die ICG berichtet zudem, dass auch die Gelder für den zivilen Wiederaufbau,
die insgesamt nach Afghanistan geflossen sind, die Verbindungen zwischen
korrupten Mitgliedern der afghanischen Regierung, lokalen Befehlshabern,
Warlords und Aufständischen verfestigt haben (siehe Exit versus Engagement,
28. November 2010). Der Korruptionsindex von Transparency International
listet Afghanistan auf dem vorletzten Platz weltweit.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

– unverzüglich die Bundeswehr aus Afghanistan abzuziehen;

– einen Teil der aus dem Bundeshaushalt für Afghanistan aufgebrachten Mittel
für Militärausgaben in Mittel für zivile und friedenspolitische Maßnahmen
umzuwidmen;

– jegliche Verknüpfung von militärischen und zivilen Strukturen zu beenden;

– die zivil-militärische Zusammenarbeit zu beenden und die PRTs aufzulösen;

– eine armutsorientierte, nachhaltige, auf lokalen Strukturen aufgebaute Ent-
wicklungszusammenarbeit zu fördern;

– zivile, demokratische und emanzipatorische Kräfte in Afghanistan im Rah-
men der Entwicklungszusammenarbeit finanziell zu unterstützen, um einen
wirksamen Friedens- und Versöhnungsprozess innerhalb des Landes in Gang
zu bringen;

– sich dafür einzusetzen, dass die afghanische Regierung die Arbeit der zivilen,
demokratischen und emanzipatorischen Kräfte in Afghanistan unter Schutz
stellt, Bedrohungen ahndet und den Einsatz der Zivilgesellschaft für ein
selbstbestimmtes und friedliches Afghanistan ermöglicht.

Berlin, den 18. Januar 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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