BT-Drucksache 17/4225

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister des Auswärtigen Fortschritte und Herausforderungen in Afghanistan

Vom 15. Dezember 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4225
17. Wahlperiode 15. 12. 2010

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz,
Sevim Dag˘delen, Dr. Diether Dehm, Annette Groth, Heike Hänsel, Inge Höger,
Andrej Hunko, Ulla Jelpke, Harald Koch, Stefan Liebich, Niema Movassat,
Thomas Nord, Paul Schäfer (Köln), Alexander Ulrich, Kathrin Vogler, Katrin Werner
und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Abgabe einer Regierungserklärung
durch den Bundesminister des Auswärtigen

Fortschritte und Herausforderungen in Afghanistan

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Seit neun Jahren wird die Bundeswehr in unterschiedlicher Truppenstärke in
Afghanistan eingesetzt, ohne dass die Bundesregierung bisher dem Deutschen
Bundestag und der Öffentlichkeit eine Bilanz des Krieges vorgelegt hat. Auch
der „Fortschrittsbericht“ der Bundesregierung, der Gegenstand der Regierungs-
erklärung ist, ist den Abgeordneten des Deutschen Bundestages nur wenige Tage
vor der Debatte zugegangen. Er konnte nicht in der notwendigen Konsequenz
von allen Mitgliedern des Deutschen Bundestages geprüft werden.

Die Sicherheitslage in Afghanistan hat sich auch in den vergangenen Monaten
kontinuierlich verschlechtert. Täglich verschärft sich der Krieg. Die NATO er-
höhte ihre Kampftruppen auf 140 000 Soldatinnen und Soldaten, intensivierte
den Krieg und weitete Bombardierungen und Drohnenangriffe bis nach Pakistan
aus. Aktuelle Zahlen der International Crisis Group (Afghanistan: Exit vs.
Engagement, 28. November 2010) belegen die brutale Wirklichkeit des Krieges:
In den ersten sechs Monaten des Jahres 2010 stieg die Zahl gewalttätiger Zwi-
schenfälle in Afghanistan um 70 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum an.
Es wurden 82 Prozent mehr selbstgebaute Sprengkörper genutzt und die
Zahl von verletzten und getöteten Zivilistinnen und Zivilisten stieg um ein Drit-
tel auf 3 268. Davon wurden 1 271 Menschen getötet. Bis zum 20. November
2010 war die Zahl von getöteten NATO-Soldaten und -Soldatinnen mit 650 höher

als in den Vorjahren. Zugleich attestiert die International Crisis Group in ihrem
Bericht, dass die Taliban aktiver sind als je zuvor. Trotz der Erhöhung der Ein-
satzkräfte der internationalen Kampftruppen weiteten die bewaffneten Aufstän-
dischen ihre Angriffe aus. Zwischen Juli und September 2010 stiegen sie um
knapp 60 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Und schon 2009 waren sie
gegenüber 2008 um 43 Prozent angestiegen. Auch der Sonderbeauftragte der
Bundesregierung für Afghanistan, Michael Steiner, kommt zu dem Urteil:

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„Jeder weiß, dass es in Afghanistan keine militärische Lösung geben kann“
(DER TAGESSPIEGEL, 19. November 2010).

Der sogenannte Abzug in Verantwortung, auf den sich die NATO-Staaten auf
ihrem Gipfel in Lissabon im November 2010 verbal verständigten, bedeutet,
dass der Krieg mindestens vier weitere Jahre fortgeführt werden soll. Auch soll
der Abzug allerhöchstens ein Teilabzug sein. Die NATO hat bereits bestätigt,
dass mindestens 50 000 NATO-Soldatinnen und -Soldaten im Land bleiben sol-
len. Zudem wird das Datum 2014 bereits von der NATO selber wieder relati-
viert. Anders als in diesen NATO-Planungen hatten bzw. haben einzelne NATO-
Mitgliedstaaten die Abzugstermine ihrer Truppenkontingente verbindlicher
festgelegt: Niederlande (August 2010), Kanada (Ende 2011).

Das bisherige Vorgehen der internationalen Gemeinschaft ist gescheitert. Die
unterstützte Regierung von Hamid Karsai gilt als korrupt und wenig einfluss-
reich und konnte sich ihre Macht nur durch massiven und von der ISAF tolerier-
ten Wahlbetrug erhalten. Bei der Parlamentswahl am 18. September 2010 wur-
den allein 5 100 formelle Beschwerden eingelegt und in 634 Fällen wurde
gesetzeswidriger Wahlkampf geführt (Sachstandsbericht der Bundesregierung
vom 27. September 2010). Die zahlreichen Unregelmäßigkeiten haben gezeigt,
dass unter den Bedingungen von Krieg und Besatzung keine freien und fairen
Wahlen stattfinden können.

In den ländlichen Regionen liegt die Macht zumeist in den Händen von Stam-
mesfürsten. Eine politisch-emanzipatorische Zivilgesellschaft, die der einzige
Garant für einen nachhaltigen Frieden sein kann, konnte sich kaum entwickeln,
da sie zwischen extremistischen Kräften, militärischer Besatzung und einer aus
dem Ausland gesteuerten, schwachen Regierung zerrieben wird.

Die soziale Lage in Afghanistan ist nach wie vor katastrophal. Rund 80 Prozent
der Frauen und 60 Prozent der Männer können nicht lesen. Weniger als 19 Pro-
zent der Bevölkerung haben Zugang zu medizinischer Versorgung und sauberem
Wasser (vgl. www.welthungerhilfe.de, 15. November 2010). Laut den Zahlen
der Weltbank liegt die Säuglingssterblichkeit bei 199 Kindern pro 1 000 Gebur-
ten. Sie ist damit 50-mal so hoch wie in Deutschland. Im Human Development
Index 2010 wird berechnet, dass sich 2,8 Millionen Afghaninnen und Afghanen
auf der Flucht befinden.

Diese Zahlen zeigen, dass die 6,2 Mrd. Euro, die die Bundesregierung seit 2002
für den Afghanistaneinsatz ausgegeben hat, alle Bemühungen um wirtschaft-
lichen Aufbau und menschliche Entwicklung konterkarieren. Das Deutsche
Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) kommt zu dem Ergebnis, dass der
Bundeswehreinsatz in Afghanistan dreimal so teuer sei wie bekannt ist und ver-
anschlagt die Fortsetzung des Bundeswehreinsatzes mit rund 3 Mrd. Euro pro
Jahr. Für den zivilen Aufbau werden deutlich weniger finanzielle Mittel, und
diese auch nicht gezielt genug, eingesetzt.

Zahlreiche Entwicklungsorganisationen haben erneut kritisiert, dass die Vermi-
schung ziviler und militärischer Aktivitäten ihre Arbeit nahezu unmöglich
macht. Eine im November 2010 von Oxfam und 28 afghanischen Nichtregie-
rungsorganisationen veröffentlichte Studie fordert die sofortige Einstellung der
Provincial Reconstruction Teams (Oxfam et al.: Nowhere to Turn – The Failure
to Protect Civilians in Afghanistan, November 2010).

Das Ansehen der ISAF-Verbände und der die Truppen stellenden Staaten, auch
das Ansehen der Bundeswehr und Deutschlands, ist dramatisch gesunken, sie
werden eindeutig als Besatzungsarmee wahrgenommen. Nach der aktuellen
Umfrage (im Auftrag von WDR, ABC, BBC und The Washington Post) stellen
rund zwei Drittel der Afghaninnen und Afghanen den amerikanischen und den

Nato-Truppen ein schlechtes Zeugnis aus. Landesweit haben inzwischen 41 Pro-
zent eine negative Meinung über Deutschland – so viele wie nie seit 2007,

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4225

als diese Frage das erste Mal gestellt wurde. Landesweit sprechen erstmals
mehr Afghaninnen und Afghanen dem Engagement der Deutschen eine negative
(plus 9 auf 28 Prozent) als eine positive Rolle (minus 7 auf 25 Prozent) zu.
Nächtliche Hausdurchsuchungen und Luftangriffe, die wachsende Anzahl der
zivilen Opfer und die politischen und sozialen Verbindungen zu Warlords und
unter Korruptionsverdacht stehenden Politikern sind nur einige der Ursachen.

Die internationale Gemeinschaft hat auf den Konferenzen in London im Januar
2010 und Kabul im Juli 2010 einen Strategiewechsel propagiert, der die Über-
gabe der Sicherheitsverantwortung an die afghanische Regierung bis 2014
vorsieht. In Wirklichkeit bedeutet dieses lediglich, die Kosten und Risiken des
Krieges verstärkt eilig ausgebildeten afghanischen Sicherheitskräften aufzubür-
den. Nicht der Krieg darf afghanisiert werden, sondern der Friede in Afghanistan
bedarf der Selbstbestimmung der afghanischen Bevölkerung. Nur die sofortige
Einstellung aller militärischen Aktivitäten und eine breit angelegte Förderung
der Zivilgesellschaft können das Leid der Afghaninnen und Afghanen lindern.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

● unverzüglich die deutschen Soldatinnen und Soldaten aus Afghanistan ab-
zuziehen;

● demokratische, progressive und emanzipatorische Kräfte in Afghanistan zu
unterstützen, um einen wirksamen Friedensprozess in Gang zu bringen;

● die aus dem Bundeshaushalt für Afghanistan aufgebrachten Mittel für zivile
und gewaltfreie Maßnahmen aufzuwenden und jegliche Verknüpfung von
militärischen und zivilen Maßnahmen umgehend zu beenden.

Berlin, den 15. Dezember 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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