BT-Drucksache 17/4105

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/CSU und FDP - Drucksachen 17/3404, 17/4032 - Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch

Vom 1. Dezember 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4105
17. Wahlperiode 01. 12. 2010

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Katja Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, Heidrun
Dittrich, Klaus Ernst, Jutta Krellmann, Cornelia Möhring, Kornelia Möller, Yvonne
Ploetz, Ingrid Remmers, Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion
DIE LINKE.

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
– Drucksachen 17/3404, 17/4032 –

Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen
und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das vorliegende Gesetz wird den Anforderungen an die Ausgestaltung des
Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum nicht gerecht und er-
füllt die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht. Die Ermittlung der
Leistungshöhe entspricht nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben und fixiert
ein Leistungsniveau, das kontinuierliche Mangelernährung und soziale Aus-
grenzung für rechtens erklärt. Rechte von Leistungsberechtigen nach dem Zwei-
ten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) werden nicht ausgeweitet, sondern weiter
beschnitten.

Es bleibt dabei: Hartz IV war eine historische Fehlentscheidung, die grundle-
gend revidiert werden muss. Die Regierung hat die Chance verpasst mit einem
grundlegenden Kurswechsel zu beginnen.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 das
eigenständige Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Exis-
tenzminimums nachdrücklich bekräftigt. Dieses Grundrecht für jede hilfebe-
dürftige Person ergibt sich aus Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes (GG) in
Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikels 20 Absatz 1 GG. Die be-
stehenden Regelleistungen von Hartz IV (SGB II) wurden vom Bundesverfas-
sungsgericht als verfassungswidrig verworfen und der Gesetzgeber verpflichtet,

bis zum 1. Januar 2011 das menschenwürdige Existenzminimum in einer verfas-
sungskonformen Art und Weise neu zu ermitteln. Dieser Aufforderung wird die
Regierung mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht gerecht. Der Gesetzent-
wurf nennt zwar nun als zentrale Aufgabe des SGB II, dass die Grundsicherung
es den Leistungsberechtigten ermöglichen soll „ein Leben zu führen, das der
Würde des Menschen entspricht“ (§ 1 Absatz 1). Gleichzeitig konterkariert das
Gesetz den Grundsatz jedoch durch die konkreten Regelungen. Die Neuermitt-

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lung der Regelsätze schreibt Hartz IV als „Armut und Ausgrenzung per Gesetz“
fest. Die Neuermittlung des Regelbedarfs gleicht nicht einmal den Kaufkraftver-
lust seit 2003 – mindestens 20 Euro – aus. Das „Bildungs- und Teilhabepaket“
für Kinder und Jugendliche wird mit der parallelen Streichung des Elterngelds
für Hartz-IV-Beziehende faktisch durch andere arme Eltern finanziert.

1. Der Gesetzentwurf ignoriert Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts,
weicht ohne nachvollziehbare Gründe von etablierten Standards ab und be-
lastet die Neuermittlung der Regelbedarfe zudem mit zusätzlichen kritikwür-
digen Regelungen. Die Bundesregierung hat getrickst und manipuliert, um
höhere Ausgaben für das Arbeitslosengeld II zu vermeiden. Die Kritik lässt
sich in folgenden Punkten festmachen:

a) Die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, dass das menschenwürdige
Existenzminimum in einem nachvollziehbaren und transparenten Verfah-
ren zu ermitteln sei, wurde nicht eingehalten. Vielmehr wurde das Verfah-
ren so organisiert, dass die Vorgaben des bereits vorgelegten Haushaltsplans
eingehalten werden konnten. Es wurden zahlreiche Alternativberechnun-
gen beim Statistischen Bundesamt in Auftrag gegeben. Die politisch ge-
nehme Variante wurde am Ende ausgewählt. Dieses manipulative Verfah-
ren wurde möglich durch die zeitgleiche Präsentation von Verfahren und
Ergebnis.

b) Die ausdrückliche Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, dass Men-
schen, die unter dem Grundsicherungsniveau leben, nicht in die sog. Re-
ferenzgruppe zur Ermittlung der Regelsätze eingehen dürfen, wurde igno-
riert. Von Haushalten, die selber Leistungen der Grundsicherungssysteme
in Anspruch nehmen dürften, wird das Existenzminimum abgeleitet – ein
sachlich nicht zu rechtfertigender und verfassungswidriger Zirkelschluss.

c) Ohne nachvollziehbaren Grund wird bei den Einpersonenhaushalten von
der gängigen Praxis abgewichen die untersten 20 Prozent der Haushalte
als Referenzgruppe zu nehmen. Stattdessen leitet die Bundesregierung
den Regelsatz von den einkommensärmeren untersten 15 Prozent der
Haushalte ab. Allein durch diese Abkehr von gängigen Standards verrin-
gert sich der Regelsatz um fast 20 Euro.

d) Schließlich werden von den tatsächlichen Ausgaben der Referenzgruppe
– 500 Euro nach Abzug der Leistungen für Unterkunft und Heizung – nur
364 Euro als regelsatzrelevant anerkannt. Zahlreiche Ausgaben werden
schlicht nicht für notwendig erklärt, so z. B. für Gaststättenbesuche und
Imbisse, für Hausrat- und Haftpflichtversicherungen, für Blumen und
Haustiere sowie Alkohol und Tabak. Ausgaben für die Mobilität werden
nur zu einem Bruchteil anerkannt.

e) Die Fallzahlen bei den Paarhaushalten mit Kind sind so gering, dass die
ermittelten Daten nicht aussagekräftig sind (die Anzahl der erfassten
Haushalte beträgt zwischen 168 und 237). Nach einer Auswertung des Pa-
ritätischen Wohlfahrtsverbandes liegt für die Kinder und Jugendlichen der
Anteil der statistisch unsicheren Einzelpositionen an den regelsatzrelevan-
ten Einzelpositionen insgesamt zwischen 64 Prozent und 91 Prozent. Auf
dieser Grundlage sind tragfähige Aussagen nicht möglich. Die Vorgabe
des Bundesverfassungsgerichts, den Regelbedarf für Kinder und Jugend-
liche eigenständig und nachvollziehbar zu ermitteln, wurde nicht zufrie-
denstellend umgesetzt.

f) Das sogenannte Bildungs- und Teilhabepaket ist von seiner Anlage her
abzulehnen. Die Leistungen sollten unbürokratisch als zusätzliche und
pauschale Geldleistung ausgezahlt und nicht als Sachleistungen angebo-

ten werden, für die Gutscheine zu beantragen sind. Damit wird unterstellt,
dass Eltern im Hartz IV Bezug das Geld für ihre Kinder zweckentfremden

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würden. In Ausnahmefällen kann das Jugendamt eingreifen. Gutscheine
sind zudem diskriminierend, da sich die Leistungsberechtigten als solche
„outen“ müssen. Leistungen der Grundsicherung können hierüber hinaus
keinen Ersatz bilden für allgemeine Angebote der öffentlichen Daseins-
vorsorge, stattdessen muss die finanzielle wie personelle Ausstattung von
Schulen, Betreuungseinrichtungen und Jugendhilfe deutlich verbessert
werden. Eine individuelle Förderung von benachteiligten Jugendlichen
gehört zu den Aufgaben der Schulen, eine Privatisierung dieser Aufgabe
über die Vergabe von Gutscheinen für private Nachhilfeangebote muss
verhindert werden. Die JobCenter sind als Träger der Leistungen aus dem
Bildungs- und Teilhabepaket zudem grundsätzlich ungeeignet. Sie verfü-
gen weder über die Kompetenzen für diese Aufgaben noch über das ent-
sprechende Personal und sind hierüber hinaus an völlig andere Ziele ge-
bunden als Einrichtungen des Bildungssystems und der Jugendhilfe.

2. Neben der Ermittlung des Existenzminimums sieht der Gesetzentwurf Verän-
derungen bei den Sanktionsbestimmungen und den Leistungen für Unter-
kunft und Heizung vor. Diese sind abzulehnen. Zunächst ist nicht einzusehen,
warum teilweise erhebliche Veränderungen in diesem Gesetz unter erheb-
lichem Zeitdruck beschlossen werden sollen. Dafür gibt es keinen nachvoll-
ziehbaren Grund, zumal die Länder zu den Aspekten eine eigene Arbeits-
gruppe eingesetzt haben, die noch keinen abschließenden Bericht vorgelegt
hat. Der Gesetzentwurf ist demnach auf die Regelung der Regelbedarfe zu
konzentrieren. Stattdessen werden im Huckepackverfahren deutliche Ver-
schlechterungen für die Betroffenen durchgesetzt.

a) Für die Verhängung von Sanktionen muss zukünftig nicht mehr zwingend
eine schriftliche Belehrung über die Rechtsfolgen vorgelegt werden, son-
dern es reicht die Unterstellung, dass der Leistungsberechtigte Kenntnis
über die Rechtsfolgen hatte. Damit wird einer willkürlichen Kürzung von
Leistungen Tür und Tor geöffnet. Der Belehrung wurde eine Warn- und
Signalfunktion zubemessen: Den Betroffenen sollten die Folgen ihres Ver-
haltens deutlich gemacht werden. Mit dem Abrücken von der vorherigen
Belehrung wird deutlich: Es geht nicht um Verhaltensänderung, sondern
um Bestrafung und Kosteneinsparungen.

b) Dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenz-
minimums widersprechen Sanktionsmöglichkeiten, da sie die Leistungen
unter das Existenzminimum drücken. In diesem Sinne hat auch das Bun-
desverfassungsgericht ausgeführt, dass das Grundrecht „dem Grunde nach
unverfügbar“ ist und die Leistungen „stets den gesamten existenznotwen-
digen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers decken“ müssen. In
dem Sinne ist der Anspruch auf das Existenzminimum für Hilfebedürftige
nicht mit Sanktionen und Leistungskürzungen vereinbar. Diesen Aspekt
des Grundrechtscharakters ignoriert die Neuregelung des SGB II.

c) Das Gesetz regelt die Grundsätze für Unterkunft und Heizung in einer Art
und Weise neu, die weitere Kürzungen für die Betroffenen befürchten las-
sen. Das Gesetz sieht eine sogenannte Satzungslösung vor, nach der die
Kommunen die angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung in
ihrem Gebiet festlegen können. In diesen Satzungen kann – gegen die
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts – eine „Gesamtangemessen-
heitsgrenze“ festgelegt werden. Zudem wird die Tür für eine Pauschalie-
rung der Leistung geöffnet. Damit drohen Satzungen nach Kassenlage und
ein Verstoß gegen den unmittelbar verfassungsrechtlichen Leistungsan-
spruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums,
der die Kosten der Unterkunft und Heizung mit umfasst. Der Bund ist

durch seine unzureichende Beteiligung an den Kosten der Unterkunft

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und Heizung maßgeblich für die schlechte Haushaltslage der Kommunen
(mit- )verantwortlich.

d) Die ehrenamtliche Tätigkeit von Hartz-IV-Leistungsberechtigten wird in
Zukunft weniger honoriert. Einkünfte aus ehrenamtlicher Tätigkeit – etwa
Aufwandsentschädigungen, Aufwendungsersatz für Blutspenden oder
Wahlhilfe – werden zukünftig als Einkommen angerechnet. Diese Rege-
lung diskriminiert Hartz-IV-Beziehende und schließt sie aus dem sozialen
Leben aus, statt ihnen soziale Teilhabe zu ermöglichen.

Der vorliegende Gesetzentwurf ist nach der Anhörung der Sachverständigen
im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages am 22. No-
vember 2010 als verfassungswidrig einzustufen. Der Deutsche Bundestag
kann diesem Gesetz daher nicht zustimmen.

II. Der Bundestag fordert daher die Bundesregierung auf,

umgehend ein neues und grundlegend überarbeitetes Gesetz vorzulegen. Das
überarbeitete Gesetz muss folgenden Vorgaben genügen:

1. Das Gesetz regelt ausschließlich die Ermittlung des menschenwürdigen Exis-
tenzminimums.

2. Die Regelbedarfe werden sachgerecht und verfassungskonform neu ermittelt.
Auf Tricks und Manipulationen wird verzichtet.

3. Der Deutsche Bundestag setzt parallel eine eigene Kommission ein, die eine
gesellschaftliche Debatte und Verständigung initiiert und fördert zu der
Frage: „Was braucht ein Mensch für ein Leben in Würde?“ Die Kommission
analysiert bisherige Verfahren zur Ermittlung eines menschenwürdigen Exis-
tenzminimums und legt kurzfristig einen Vorschlag zur künftigen Ermittlung
der Bedarfe von Erwachsenen sowie Kindern und Jugendlichen vor.

Berlin, den 30. November 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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