BT-Drucksache 17/3672

Beziehungen der Europäischen Union mit Afrika solidarisch und gerecht gestalten

Vom 10. November 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3672
17. Wahlperiode 10. 11. 2010

Antrag
der Abgeordneten Jan van Aken, Christine Buchholz, Dr. Dietmar Bartsch, Sevim
Dag˘delen, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, Heike Hänsel,
Inge Höger, Andrej Hunko, Ulla Jelpke, Harald Koch, Stefan Liebich, Niema
Movassat, Thomas Nord, Paul Schäfer (Köln), Alexander Ulrich, Kathrin Vogler,
Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Beziehungen der Europäischen Union mit Afrika solidarisch und gerecht gestalten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das dritte Gipfeltreffen der Europäischen Union (EU) mit den afrikanischen
Staaten am 29. und 30. November 2010 in Tripolis/Libyen findet 50 Jahre nach
dem „afrikanischen Jahr“, in dem 17 afrikanische Länder ihre staatliche Souve-
ränität erlangten, statt. Bis heute jedoch setzen sich im Verhältnis der EU und
ihrer Mitgliedstaaten zu den Partnerländern in Afrika koloniale Dominanzver-
hältnisse fort, die eine sozial und ökologisch nachhaltige wirtschaftliche Ent-
wicklung in Afrika erschweren. Europäische und deutsche entwicklungspoli-
tische Dachverbände wie VENRO kritisieren, dass auch bei der bisherigen
Implementierung der „Gemeinsamen EU-Afrika-Strategie“ nicht von einer
Partnerschaft auf Augenhöhe gesprochen werden kann. Für den EU-Afrika-
Gipfel ist deshalb eine Neuausrichtung der deutschen und europäischen Bezie-
hungen zu Afrika nötig.

1. Die EU versucht im Umfeld des Gipfeltreffens, die Verhandlungen über
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA) mit den AKP-Staaten (Staaten
Afrikas, der Karibik und des Pazifik) in ihrem Sinne voranzutreiben. Die EU
strebt Abkommen an, die nicht nur die weitgehende Liberalisierung des
Güterhandels umfassen, sondern durch Liberalisierung der öffentlichen
Beschaffungsmärkte sowie Regelungen zum Wettbewerbsrecht, Investitions-
und Patentschutz stark in die ordnungspolitischen Handlungsspielräume der
Partnerländer eingreifen. Um dies durchzusetzen, übt die EU gewaltigen
politischen und wirtschaftlichen Druck auf die AKP-Staaten aus. Mit den
Staaten der Karibik konnte die EU schon ein vollständiges WPA abschlie-
ßen. In Afrika hat die EU hingegen unterschiedliche Interimsabkommen mit
Einzelstaaten oder kleineren Staatengruppen abgeschlossen und damit der
regionalen Integration in Afrika bereits jetzt erheblichen Schaden zugefügt.
Dies stößt auf den zunehmenden Widerstand von Regierungen und sozialen
Organisationen in den afrikanischen AKP-Staaten, die darin eine Bedrohung
für ihre soziale und wirtschaftliche Entwicklung sehen. Einige Regierungen
haben es deshalb abgelehnt, Interimsabkommen zu unterzeichnen. Der
Deutsche Bundestag schließt sich der Forderung zahlreicher afrikanischer
und europäischer sozialer Bewegungen und zivilgesellschaftlicher Organisa-
tionen an, in einem transparenten und demokratischen Prozess ein neues ent-

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wicklungsförderliches Verhandlungsmandat für die Kommission zu formu-
lieren.

Die Bundesregierung und die EU wollen mit sogenannten Rohstoffpartner-
schaften Entwicklungshilfe an den Zugang zu Rohstoffen koppeln. Die Bun-
desregierung versteht die Sicherung des Zugangs zu Rohstoffen für die deut-
sche Wirtschaft als Teil der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik. In
den Beziehungen der EU und Deutschlands zu Afrika dürfen aber nicht die
Interessen der deutschen und europäischen Wirtschaft, sondern müssen die
sozialen Herausforderungen in Afrika im Mittelpunkt stehen. Dies gilt umso
mehr angesichts der Tatsache, dass in Afrika 380 Millionen Menschen in ab-
soluter Armut leben, rund ein Drittel der Afrikanerinnen und Afrikaner
unterernährt ist, und nur die wenigsten afrikanischen Länder aus eigener
Kraft die Millenniumsentwicklungsziele werden erreichen können.

2. Die Ausrichtung der deutschen und europäischen Afrika-Politik auf die
Durchsetzung von Wirtschafts- und Rohstoffinteressen wird auch mit militä-
rischer Präsenz flankiert. Die Marinemission ATALANTA zeigt dies deut-
lich. Als Mission zur Bekämpfung von Piraterie eingesetzt, dient sie vor
allem der Überwachung einer der wichtigsten Seehandelsrouten und dem
Schutz europäischer Handelsflotten. Der Deutsche Bundestag kritisiert dies
ebenso wie die zunehmende Fokussierung der deutschen und europäischen
Afrika-Politik auf den Auf- und Ausbau von Sicherheitsstrukturen und die
Ausbildung von Sicherheitskräften. Wichtige zivile, gewaltfreie Konflikt-
bearbeitungsinstrumente werden zugunsten polizeilich und militärisch aus-
gerichteter Missionen immer weiter in den Hintergrund gedrängt. Zudem
verbirgt sich hinter der Überschrift des „zivilen“ Engagements häufig die
Stärkung staatlicher Repressionsorgane, die paramilitärischen oder militä-
rischen Charakter haben und für massive Menschenrechtsverletzungen ver-
antwortlich sind.

Die Pläne der Bundesregierung, das Konzept der vernetzten Sicherheit in
ihre Afrika-Politik zu integrieren, lehnt der Deutsche Bundestag ab. Die Ver-
knüpfung der zivilen Hilfe mit militärischen Strukturen gefährdet die Arbeit
der zivilen Hilfsorganisationen, deren Arbeit auf dem Prinzip der Gewalt-
losigkeit und Neutralität basiert. Durch die zivilmilitärische Zusammen-
arbeit werden sie als den militärischen Akteuren zugehörig wahrgenommen.
Das Leben der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wird dadurch massiv ge-
fährdet, ihre langjährige erfolgreiche Arbeit in Krisen- und Kriegsgebieten
Afrikas um Jahre zurückgeworfen oder unmöglich gemacht. Die zivilmili-
tärische Zusammenarbeit, der Aufbau und die Ausbildung von Sicherheits-
kräften werden zu Teilen auch aus dem Europäischen Entwicklungsfonds
(EEF) finanziert und entziehen auf diese Weise entwicklungspolitischen
Maßnahmen die Mittel.

3. Im Rahmen eines Kooperations- und Partnerschaftsabkommens will die EU
mit Libyen, dem Gastland des EU-Afrika-Gipfels, die Zusammenarbeit in
der Migrations- und Flüchtlingspolitik intensivieren. Libyen hat weder die
Genfer Flüchtlingskonvention noch den Kooperationsvertrag mit dem Büro
des Hohen Flüchtlingskommissariats der UN unterzeichnet und schloss am
8. Juni 2010 das UNHCR-Büro in Tripolis. Der Deutsche Bundestag teilt die
vom Europäischen Parlament in einer Entschließung vom 17. Juni 2010 ge-
äußerte Sorge um das Schicksal der in Libyen befindlichen Migrantinnen
und Migranten, die von gänzlich unüberprüfbaren Abschiebungen in ihre
Herkunfts- oder Transitländer bedroht sind und häufig in den benachbarten
Staaten in der Wüste ausgesetzt werden.

Statt Fluchtursachen zu beseitigen, bekämpft die EU die afrikanischen

Flüchtlinge und zwingt diese auf immer gefährlicher Migrationsrouten, wo-
mit sie sich für den Tod von Migrantinnen und Migranten in der Wüste und

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auf Hoher See verantwortlich macht. Eine herausragende Stellung nimmt
dabei die EU-Grenzschutzagentur FRONTEX ein. Wer es dennoch in die
EU schafft, ist von Abschiebung bedroht und wird mit rassistischer Aus-
grenzung konfrontiert – Leben in Lagern, Residenzpflicht, Abschiebehaft.
Um die ihr nicht willkommenen Menschen wieder los zu werden, schließt
die EU Rückführungs- und Mobilitätsabkommen mit afrikanischen Staaten
ab und knüpft ihre Entwicklungshilfe direkt an deren Kooperation bei der
polizeilich-militärischen Grenzkontrolle, an die Einführung restriktiver Ge-
setze und praktischer Maßnahmen gegen durchwandernde bzw. „illegale“
Migration sowie an die Rückübernahme eigener Staatsangehöriger und von
Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen.

Die Abwehr von Flüchtlingen darf kein Bestandteil der Entwicklungszusam-
menarbeit sein. Vielmehr muss das Engagement der Bundesregierung und
der EU bei der Bekämpfung der wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen
Ursachen der Migration verstärkt werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. von der Verknüpfung der Entwicklungszusammenarbeit mit den afrikani-
schen Partnerländern mit Rohstofflieferungen und deutschen wirtschaftspoli-
tischen Interessen abzusehen und stattdessen eine selbstbestimmte soziale
und wirtschaftliche Entwicklung in Afrika, die Bekämpfung von Armut und
Hunger, die Herstellung von Ernährungssouveränität sowie den Schutz der
natürlichen Ressourcen in den Mittelpunkt der Zusammenarbeit zu stellen;

2. in der Zusammenarbeit mit den afrikanischen Partnerländern auf die Durch-
setzung von Freihandel, Deregulierung und Privatisierung, insbesondere der
Privatisierung von staatlichen und kommunalen Institutionen der öffent-
lichen Daseinsvorsorge, von Bodenschätzen, Saatgut, Pflanzen und Wasser
sowie auf Wettbewerbs-, Patent- und Investitionsschutzregeln, welche die
wirtschaftlichen und sozialpolitischen Handlungsräume der afrikanischen
Partnerländer einengen, zu verzichten;

3. sich in diesem Sinne innerhalb der EU für einen Neustart in den Verhandlun-
gen über die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA) und konkret dafür
einzusetzen, dass

– die WPA-Verhandlungen vorübergehend ausgesetzt werden und ein
neues entwicklungsförderliches Verhandlungsmandat formuliert wird,

– im Verlauf der Neufassung des Mandats eine gründliche Abschätzung der
menschenrechtlichen und sozialen Auswirkungen der künftigen Abkom-
men in den Partnerländern gemeinsam mit deren Regierungen und sozia-
len Organisationen vorgenommen wird,

– in den Abkommen wirksame Schutzmechanismen für die lokalen und
regionalen Märkte im Interesse der Produzentinnen und Produzenten in
den AKP-Ländern vorgesehen werden,

– die unter einem neuen Mandat aufgenommenen Verhandlungen ohne
Zeitdruck geführt werden und die Positionen der AKP-Regierungen da-
bei gleichberechtigt aufgenommen werden,

– die bereits abgeschlossenen Interimsabkommen neu verhandelt werden
können, sofern die Partnerländer dies wünschen,

– die regionale Integration in Afrika gefördert und davon abgesehen wird,
Abkommen mit einzelnen Staaten und Teilen der Regionalgruppen abzu-
schließen,

Drucksache 17/3672 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
– Regelungen gefunden werden, die allen afrikanischen Staaten unabhän-
gig vom Abschluss der WPA ihren bisherigen Zugang zum EU-Markt
sichern,

– die nationalen Parlamente der EU-Mitgliedstaaten und der AKP-Staaten
sowie die Paritätische Parlamentarische Versammlung und das Euro-
päische Parlament stärker und verbindlicher an den Verhandlungsprozes-
sen beteiligt werden;

4. gegenüber den übrigen EU-Mitgliedstaaten die Aufgabe des Konzepts der
vernetzten Sicherheit zu verkünden und darauf zu bestehen, dass keinerlei
Mittel des EEF in die zivilmilitärische Zusammenarbeit und die Ausbildung
von Sicherheitskräften fließen;

5. eine Neuausrichtung der Rohstoff- und Energiepolitik auf regenerative,
umweltverträgliche, gerechte und Konflikte vermeidende Strategien der
Energieversorgung vorzunehmen und die Militarisierung der deutschen und
europäischen Rohstoffpolitik zu beenden;

6. sich innerhalb der Europäischen Union für eine andere Flüchtlings- und
Migrationspolitik einzusetzen, die den Bedürfnissen der Migrierenden und
den Entwicklungsinteressen der Herkunftsländer gerecht wird, und entspre-
chend

– für die Abschaffung der Grenzschutzagentur FRONTEX einzutreten; die
Einrichtung einer Koordinierungsstelle, die für rechtsstaatliche und men-
schenwürdige Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge sorgt, zu unterstüt-
zen,

– sicherzustellen, dass Bootsflüchtlinge auf dem Mittelmeer nicht abge-
drängt und ohne Zugang zu einem fairen Asylverfahren in ihre Her-
kunfts- oder in Transitstaaten zurückgebracht werden und die gefährliche
Einreise über See dadurch einzudämmen, dass allen Flüchtlingen legale
Möglichkeiten der Einreise in die EU eröffnet werden,

– in der Europäischen Union für die Abschaffung der Richtlinie 2008/115/
EG über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur
Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger vom 16. Dezem-
ber 2008 und dafür einzutreten, dass es in der EU keine Inhaftierungen
zur Durchsetzung der Ausreisepflicht sowie grundsätzlich kein Wieder-
einreiseverbot für ausgewiesene bzw. abgeschobene Migrantinnen und
Migranten für die EU geben darf;

7. sich in der EU deutlich gegen das geplante Kooperations- und Partner-
schaftsabkommen mit Libyen sowie für das Ende jeglicher polizeilicher und
militärischer Kooperationen mit den afrikanischen Partnerstaaten auszuspre-
chen.

Berlin, den 10. November 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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