BT-Drucksache 17/3207

Rechte der Arbeitsuchenden stärken - Sanktionen aussetzen

Vom 6. Oktober 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3207
17. Wahlperiode 06. 10. 2010

Antrag
der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn, Markus Kurth, Beate
Müller-Gemmeke, Kerstin Andreae, Kai Gehring, Katrin Göring-Eckardt,
Lisa Paus, Elisabeth Scharfenberg, Dr. Gerhard Schick, Dr. Harald Terpe
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Rechte der Arbeitsuchenden stärken – Sanktionen aussetzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Nach jahrelangem Gezerre wurde im Juli 2010 endlich die Jobcenter-Reform be-
schlossen. Dabei konnte trotz der im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und
FDP geplanten Zerschlagung der Jobcenter die Zusammenarbeit von Bundes-
agentur für Arbeit (BA) und Kommunen und damit das Prinzip der „Hilfe aus
einer Hand“ erhalten werden. Ebenfalls konnte eine – wenn auch begrenzte –
Ausweitung der alleinigen kommunalen Trägerschaft durchgesetzt werden. Wei-
tere dringend notwendige Reformen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende
wie mehr Qualifizierung, verbesserte Rechte und die gesicherte Teilhabe für Ar-
beitsuchende wurden jedoch nicht in Angriff genommen.

Im Gegenteil, die von der Bundesregierung beabsichtigten Kürzungen bei der
Grundsicherung gehen sowohl zu Lasten der Qualifizierungs- und Förderange-
bote für Arbeitsuchende als auch zu Lasten des Personalbudgets bei den ört-
lichen Trägern der Grundsicherung. Das bedeutet für die Arbeitsuchenden
weniger Weiterbildung, weniger Unterstützung und weniger Betreuung. Darüber
hinaus ist zu befürchten, dass der Druck auf die Arbeitsuchenden zunimmt und
die Zahl der verhängten Sanktionen steigen wird – auch weil die Bundesregie-
rung plant, die Sanktionsverhängung noch einmal zu erleichtern. Danach sollen
Sanktionen zukünftig ohne schriftliche Rechtsfolgenbelehrung ausgesprochen
werden können, wodurch die Rechtsstellung der Arbeitsuchenden noch einmal
verschlechtert würde.

Das ist der vollkommen falsche Weg, um Arbeitsuchende erfolgreich und dau-
erhaft in Arbeit zu vermitteln. Beispielhaft zeigt dies die Kritik an den beson-
ders rigiden Sanktionsregeln gegen junge Menschen bis zu 25 Jahren. Diese
Regeln werden nicht nur als verfassungsrechtlich bedenklich eingestuft. Ihnen
wird außerdem eine fatale Wirkungsweise attestiert, weil sie die Betroffenen in
Kleinkriminalität, Schwarzarbeit und Verschuldung treiben.

Arbeitsuchende und ihre Angehörigen brauchen Unterstützung statt Druck.
Nicht Sanktionen, bürokratische Zumutungen und Gängelung, sondern faire
Spielregeln, Motivation und Bestärkung der Arbeitsuchenden müssen die Inte-
grationsarbeit in den Jobcentern bestimmen. Grundlagen dafür sind die Stär-
kung der Arbeitsuchenden im Eingliederungsprozess und ein qualifiziertes,
individuelles und umfassendes Fallmanagement. Sowohl Scheinangebote zur

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Überprüfung der Arbeitsbereitschaft als auch Sanktionsandrohungen und -auto-
matismen haben in diesem Prozess keinen Platz.

II. Der Deutsche Bundestag fordert daher die Bundesregierung auf,

1. die Eigeninitiative der Arbeitsuchenden zu fördern und ihre Selbstbestim-
mung zu gewährleisten, indem folgende Grundsätze ins Zweite Buch Sozial-
gesetzbuch (SGB II) aufgenommen werden:

a) Arbeitsuchende haben zukünftig das Recht, zwischen angemessenen
Maßnahmen zu wählen. Ihre Wünsche hinsichtlich der Gestaltung des
Integrationsprozesses müssen berücksichtigt werden. Auf dieses Recht
werden sie im Erstgespräch hingewiesen.

b) Eigene Vorschläge der Arbeitsuchenden, wie sie zum Nutzen der Gesell-
schaft beitragen und eine Gegenleistung erbringen können und wollen,
müssen Priorität in der Hilfeplanung haben. Bürgerschaftliches Engage-
ment wird als Gegenleistung anerkannt;

2. die Stellung der Arbeitsuchenden im Eingliederungsprozess zu stärken und
folgende Schritte für die Gewährleistung einer Zusammenarbeit von Jobcen-
tern und Arbeitsuchenden auf Augenhöhe zu ergreifen:

a) Bei allen Trägern des SGB II sollen unabhängige Ombudsstellen einge-
richtet und finanziert werden, die in Konfliktfällen zwischen Arbeitsu-
chenden und Trägern vermitteln.

b) In Zukunft müssen Arbeitsuchende die Möglichkeit haben, den persön-
lichen Ansprechpartner bei schwerwiegenden Konflikten auf Wunsch zu
wechseln.

c) Bei allen Trägern der Grundsicherung sollen qualifizierte Ansprechpart-
ner und Abteilungen zur Verfügung stehen, die einen möglichen Rehabi-
litationsbedarf von Menschen mit Behinderung erkennen und an die
zuständige Agentur für Arbeit weiterleiten. Diese sollten immer einge-
schaltet werden, bevor eine Überprüfung der Erwerbsfähigkeit eingeleitet
wird;

3. ein Sanktionsmoratorium zu erlassen, bis die Rechte der Arbeitsuchenden
gestärkt worden sind. Darüber hinaus müssen die jetzt geltenden Sanktions-
regeln geändert und dürfen entgegen der Planungen der Bundesregierung
nicht weiter verschärft werden. Der Grundbedarf, der für eine Teilhabe an
der Gesellschaft notwendig ist, darf in Zukunft nicht mehr durch Sanktionen
angetastet werden. Es sind folgende Maßgaben zu berücksichtigen:

a) Das geltende schärfere Sanktionsinstrumentarium gegen Menschen unter
25 Jahren wird zurückgenommen.

b) Sanktionsregeln dürfen keinem Automatismus unterliegen. Eine Rück-
nahme der Sanktion bei Verhaltensänderung und die zeitliche Flexibili-
sierung der Sanktionsverhängung muss jederzeit möglich sein.

c) Werden Fähigkeiten, Wünsche und Vorschläge der Einzelnen nicht Rech-
nung getragen oder besteht keine Wahl zwischen angemessenen Förder-
angeboten, dürfen keine Sanktionen verhängt werden.

d) Wird die Aufnahme von Arbeit verweigert, die unterhalb des maßgeb-
lichen tariflichen oder – wenn keine tarifliche Regelung vorhanden ist –
des ortsüblichen Entgelts entlohnt wird, dürfen ebenfalls keine Sanktio-
nen ausgesprochen werden.

e) Legen Hilfebedürftige Widerspruch gegen die Verhängung einer Sank-
tion ein, so muss dieser Widerspruch aufschiebende Wirkung haben und
der Fall der Ombudsstelle vorgelegt werden;

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4. die Voraussetzungen für eine qualitativ hochwertige Betreuung und ein indi-
viduelles Fallmanagement mit den dafür erforderlichen personellen Grund-
lagen zu schaffen und in der Grundsicherung für Arbeitsuchende die folgen-
den fachlichen Mindestanforderungen gesetzlich zu verankern:

a) Eingliederungsvereinbarungen müssen in Zukunft regelmäßig innerhalb
von acht Wochen – bzw. im Falle von unter 25-Jährigen innerhalb von drei
Wochen – geschlossen werden.

b) Der Eingliederungsprozess basiert ausnahmslos auf einem individuellen
Profiling mit den Elementen Beratung und Diagnose und einer auf den
Einzelfall zugeschnittenen Eingliederungsstrategie mit Hilfeplanung und
Zielvereinbarung sowie jeweils erreichbaren Zwischenzielen. Auch die
Anforderungen an den Arbeitsuchenden, z. B. bei der Anzahl der Be-
werbungen müssen auf den individuellen Fall zugeschnitten werden. Da-
bei müssen zukünftig die spezifischen Anforderungen von Frauen und
Alleinerziehenden besser als bislang berücksichtigt werden.

c) Die fortlaufende Begleitung des Eingliederungsprozesses muss für alle
Arbeitsuchenden gewährleistet sein. Eine Einstellung des Fallmanage-
ments auch und gerade im Falle des Nichterreichens bestimmter Inte-
grationsziele oder Zwischenziele nach Ablauf bestimmter Zeiträume ist
nicht hinnehmbar.

Berlin, den 5. Oktober 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Mit der im Juni und Juli 2010 durch Bundestag und Bundesrat verabschiedeten
Weiterentwicklung der Organisation der Grundsicherung für Arbeitsuchende
wurde der Erhalt der Hilfe aus einer Hand gewährleistet. Dies ist die Grundlage
dafür, dass arbeitsmarkt- und sozialpolitische Maßnahmen weiterhin eng ver-
knüpft und abgestimmt werden können. Dieser Schritt reicht jedoch für eine
erfolgreiche und andauernde Integration der Betroffenen nicht aus.

Viele Langzeitarbeitslose müssen erhebliche Hürden überwinden, bevor sie
(wieder) eine Arbeit aufnehmen können. Lange Zeiten von Arbeitslosigkeit
sind häufig verbunden mit Überschuldung, Gesundheitsproblemen und insta-
bilen familiären und sozialen Beziehungen. Für deren Überwindung sind die
Betroffenen auf partnerschaftliche Unterstützung angewiesen.

Der Weg zurück in Erwerbstätigkeit hängt wesentlich von der Motivation der
Arbeitsuchenden selbst ab. Motivation und Selbstbestimmung stehen dabei in
einem engen Wechselverhältnis. Deshalb muss ein Wunsch- und Wahlrecht des
Hilfebedürftigen zukünftig zentrale Grundlage des Fallmanagements werden.
Dieser Grundsatz ist in der Kinder- und Jugendhilfe bereits allgemein aner-
kannt und gesetzlich verankert, er muss auch im SGB II verankert werden. Zu-
dem soll in Zukunft freiwillig geleistete Arbeit im Rahmen des bürgerschaft-
lichen Engagements als Gegenleistung anerkannt werden.

Das Prinzip der partnerschaftlichen Zusammenarbeit ist mit Sanktionsandro-
hungen und -automatismen nicht vereinbar. Der kooperative Charakter des Fall-
managements wird durch Regelsanktionen, die bis zur vollständigen Streichung
des Arbeitslosengeldes II reichen, im Kern gefährdet. Die jetzigen Sanktions-
regelungen werden zudem allzu oft als Mittel zur Einsparung von passiven Leis-

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tungen genutzt. Sie müssen deshalb abgeschafft werden. Das gilt insbesondere
für die Sonderregelungen für junge Menschen bis zu 25 Jahren. Diese sind nicht
nur verfassungsrechtlich bedenklich (vgl. die Aussagen von Prof. Dr. Uwe Berlit
in: REPORT MAINZ vom 19. Juli 2010), sondern werden in ihrer Wirkung auch
als kontraproduktiv eingestuft, da sie die Betroffenen häufig aus dem Einglie-
derungsprozess herausdrängen. Am Ende „verschwinden“ die jungen Leute
nicht nur aus der Statistik, sondern auch aus der Beratung, so dass Hilfe und
Unterstützung nicht mehr gewährleistet werden können (vgl. IAB-Kurzbericht
10/2010).

Trotz dieser Erkenntnisse will die Bundesregierung zukünftig erlauben, dass
Sanktionen ohne schriftliche Rechtsfolgenbelehrung verhängt werden können.
Damit würde die Rechtsstellung der Arbeitsuchenden noch einmal verschlech-
tert. Daher darf dieser Plan nicht umgesetzt werden.

Sanktionen dürfen keinem Automatismus folgen, der keine Rücknahme bei
Verhaltensänderung und keine zeitliche Flexibilisierung erlaubt. Verweigern
Arbeitsuchende die Aufnahme von Arbeit, die unterhalb des maßgeblichen tarif-
lichen oder – wenn keine tarifliche Regelung vorhanden ist – des ortsüblichen
Entgelts entlohnt wird, darf dies keine negativen Folgen für die Betroffenen
haben.

Der Grundbedarf, der für eine Teilhabe an der Gesellschaft notwendig ist, muss
jederzeit gewährleistet sein und darf nicht angetastet werden. Legen Hilfebe-
dürftige Widerspruch gegen die Verhängung einer Sanktion ein, so hat dieser
zukünftig aufschiebende Wirkung. Der Fall muss umgehend den neu zu schaf-
fenden, von der Geschäftsführung oder anderen Institutionen des Jobcenters
unabhängigen Ombudsstellen vorgelegt werden. Ein Klageverfahren ist erst im
Anschluss möglich, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs besteht bis
zum Urteil fort. Mit den Ombudsstellen stehen neutrale Anlaufstellen vor Ort
zur Verfügung, die bei Konflikten vermitteln. Dadurch können unterschiedliche
Auffassungen und Vorstellungen zwischen Arbeitsuchenden und Ansprechpart-
ner in einem frühen Stadium bearbeitet und gelöst werden. Bei Widersprüchen
gegen Sanktionen sind die Ombudsstellen verpflichtend als gütliche Einigungs-
stellen einzuschalten. Auch die Zahl von Gerichtsverfahren kann dadurch deut-
lich sinken.

Den Arbeitsuchenden muss die Möglichkeit eingeräumt werden, den Ansprech-
partner zu wechseln, wenn ein gemeinschaftliches Vorgehen auf Augenhöhe
unmöglich ist. Zudem soll Menschen mit Behinderung die Teilhabe am Ar-
beitsleben entsprechend ihren Neigungen und Fähigkeiten dauerhaft gesichert
werden. Die Erfahrung hat jedoch gezeigt, dass viele Träger der Grundsiche-
rung ihren Prüfauftrag nur sehr restriktiv wahrnehmen. Oftmals erkennen die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Rehabilitationsbedarfe nicht. Entspre-
chende Ansprechpersonen und Abteilungen fehlen bislang.

Ein kompetentes Fallmanagement ist nicht nur Grundbedingung für eine part-
nerschaftliche Hilfestellung durch die SGB-II-Träger, es stellt auch eine der wirk-
samsten und nachhaltigsten Instrumente der Arbeitsmarktpolitik dar. Dass es hier
noch einigen Nachbesserungsbedarf gibt, zeigen nicht nur die vielen erfolgrei-
chen Klagen gegen Bescheide der Jobcenter. Bereits 2008 hat der Bundes-
rechnungshof erhebliche Defizite bei der Betreuung von Arbeitsuchenden fest-
gestellt, damals bei der Überprüfung der Arbeit von Arbeitsgemeinschaften. Ein
weiterer Bericht des Bundesrechnungshofs von 2009 kam zu einem ähnlichen
Ergebnis bei den alleinigen kommunalen Trägern. Auch wenn es seitdem zu Ver-
besserungen gekommen ist, bleiben Mängel offensichtlich. So berichtet das
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit
(IAB) im Kurzbericht 29/2009, dass „sich der Maßnahmeeinsatz häufig immer
noch nicht konsequent an den individuellen Bedarfen“ orientiert (vgl. S. 7).

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Nach einer weiteren Untersuchung des IAB erhalten zwar inzwischen 70 Pro-
zent der Arbeitsuchenden eine Beratung zu ihrer beruflichen Situation. Gleich-
zeitig stellt es aber z. B. fest, dass es offensichtlich signifikante Unterschiede
bei der Unterstützung von Frauen und Männern gibt. So bekommen Frauen
messbar weniger Unterstützung bei der Arbeitssuche. Darüber hinaus haben
weniger als 10 Prozent aller Alleinerziehenden aktive Unterstützung bei der
Suche nach einer Kinderbetreuung erfahren, obwohl sich ein Drittel der Be-
troffenen dies gewünscht haben (vgl. IAB-Kurzbericht 7/2010). Diese, auf reprä-
sentativen Aussagen von Arbeitslosengeld-II-Beziehenden beruhenden Erkennt-
nisse zeigen, dass die Qualität der Arbeit in den Jobcentern verbessert werden
muss. Aus diesem Grund ist es nicht nur wichtig, die Personalsituation in den
Jobcentern auf qualitativ und quantitativ hohem Niveau zu stabilisieren, son-
dern auch verbindliche Vorgaben für Eingliederungsvereinbarungen und das
Fallmanagement zu machen.

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