BT-Drucksache 17/3018

Haltung der Bundesregierung zu Massen-Abschiebungen von Roma aus Frankreich

Vom 24. September 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3018
17. Wahlperiode 24. 09. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Jan van Aken, Christine Buchholz,
Annette Groth, Inge Höger, Andrej Hunko, Harald Koch, Wolfgang Neskovic,
Petra Pau, Jens Petermann, Raju Sharma, Frank Tempel, Katrin Werner
und der Fraktion DIE LINKE.

Haltung der Bundesregierung zu Massen-Abschiebungen von Roma
aus Frankreich

Seit Mitte August 2010 wird nicht nur in Frankreich, sondern auch in anderen
EU-Staaten und außerhalb der EU über die von Frankreichs Präsident Nicolas
Sarkozy forcierte Politik der Abschiebungen von Roma aus Frankreich disku-
tiert. Nach Presseberichten wurden im vergangenen Jahr fast 10 000 Roma abge-
schoben, in diesem Jahr sollen es bereits 8 000 gewesen sein. Die meisten der Be-
troffenen kommen aus Rumänien und Bulgarien. In den meisten Fällen werden
die Abschiebungen als „freiwillig“ deklariert, die Deportierten erhalten eine
„Rückkehrhilfe“ von 300 Euro. Ihre Rückkehr gilt als „freiwillig“ und ist mit
einem Wiedereinreiseverbot verbunden. Im Zusammenhang mit den Maßnahmen
zur Abschiebung der Roma stehen auch die Maßnahmen zur Auflösung ihrer
Siedlungen bzw. Lager. 600 solcher Lager gab es insgesamt in Frankreich, die
von den osteuropäischen Roma und den französischen „Gents de Voyage“ be-
wohnt werden. Insgesamt sollen 300 dieser Lager geschlossen werden.

Dagegen gab es auch international deutliche Proteste. Ein Sprecher des Men-
schenrechtskommissars des Europarates, Thomas Hammarberg, sagte gegen-
über der Nachrichtenagentur epd (9. September 2010), die Äußerungen gegen-
über den Roma ähnelten sehr der „Rhetorik der Nationalsozialisten“ und verglich
das Vorgehen Frankreichs mit der Verfolgung der Roma in den 30er- und 40er-
Jahren des 20. Jahrhunderts. Angesichts ähnlicher Vorkommnisse in Schweden,
Dänemark und Italien warnte er vor einer „Welle von Fremdenfeindlichkeit“ in
Europa. Das Europäische Parlament stellte in einer Entschließung vom
7. September 2010 fest, die Abschiebungen verstießen gegen die EU-Verträge
(Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit der EU-Bürger/-innen) und die Euro-
päische Menschenrechtskonvention. Die EU-Justizkommissarin Viviane Reding
erklärte, sie halte ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich für unum-
gänglich (dapd, 14. September 2010). Bereits am 27. August 2010 hatte der UN-
Ausschuss zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung beim UN-
Hochkommissar für Menschenrechte kritisiert, dass die Abschiebungen ohne

Prüfung im Einzelfall durchgeführt würden. Die EU-Kommission hat eine Prü-
fung eingeleitet, ob Frankreich gegen die EU-Freizügigkeitsrichtlinie verstößt.

Drucksache 17/3018 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche rechtliche Einschätzung vertritt die Bundesregierung zur Kritik des
Europäischen Parlaments, Frankreich verletze mit den Abschiebungen das
einschlägige Europarecht?

2. Wie beurteilt die Bundesregierung die Aufforderung des Europäischen
Parlaments an die Mitgliedstaaten „alle Ausweisungen von Roma unverzüg-
lich auszusetzen“ (P7_TA-PROV(2010)0312)?

3. Gab es in der Vergangenheit nach Kenntnis der Bundesregierung in Deutsch-
land ähnlich gelagerte Fälle, in denen Bürgerinnen und Bürger aus den neuen
Mitgliedstaaten der EU, die der Minderheit der Roma zugerechnet werden
können, aus Deutschland ausgewiesen wurden, ihnen die Ausweisung ange-
droht wurde oder sie auf Druck der zuständigen Behörden bei Zahlung einer
„Rückkehrhilfe“ freiwillig ausgereist sind?

4. War die Politik der französischen Regierung gegenüber den osteuropäischen
Roma Thema bei einem internationalen Arbeitstreffen zum Thema Asyl und
Migration am 6. September 2010 in Brüssel, welche Positionen äußerten an-
dere Mitgliedstaaten, und welche Position hat die Bundesregierung (vertre-
ten durch die Staatssekretärin im Bundesministerium des Innern, Cornelia
Rogall-Grothe) bei dieser Gelegenheit vertreten?

5. Hat der italienische Innenminister Roberto Maroni dort wie angekündigt
eine Initiative zur Erleichterung der Ausweisung von EU-Bürgerinnen/-Bür-
gern vorgelegt, lag eine solche Initiative zum Rat der Innen- und Justizminis-
ter der EU am 13./14. September 2010 vor, welches waren die zentralen Eck-
punkte dieser Vorschläge, und welche Position hat die Bundesregierung
dazu eingenommen?

6. Welche konkreten Vorschläge gab es darüber hinaus im EU-Rat der Innen-
und Justizminister in den vergangenen sechs Jahren, die Freizügigkeits- und
Niederlassungsregelungen in der EU aus sozial- und ordnungspolitischen
Gründen restriktiver zu handhaben, und welche Position hat die Bundesre-
gierung zu diesen Vorschlägen jeweils eingenommen?

7. Wie verhält sich die Bundesregierung zur Forderung der EU-Kommission
aus Anlass des Zweiten Europäischen Roma-Gipfels am 8. und 9. April 2010
in Cordoba (Spanien), die Mitgliedstaaten sollten Mittel aus den EU-Struk-
turfonds benutzen, um die Integration der Roma voranzutreiben?

8. Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung selbst ergriffen, um die Inte-
gration von Sinti und Roma in Deutschland voranzutreiben, gerade auch
jener Roma, die nicht zu den „autochthonen“ Minderheitenangehörigen in
Deutschland gehören?

9. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung zum Grad gegen Roma und
Sinti gerichteter fremdenfeindlicher bzw. rassistischer Stimmungen in der
deutschen Gesellschaft, wie sie beispielsweise die EU-Statistikbehörde
Eurostat und die EU-Grundrechteagentur für die gesamte EU untersucht
haben?

10. Welche Maßnahmen strebt die Bundesregierung an oder sind ihr aus den
Ländern und Kommunen bekannt, mit denen einer Beeinträchtigung des
Kindeswohls entgegengewirkt werden soll, wenn Kinder von Roma aus den
osteuropäischen EU-Staaten beispielsweise nicht regelmäßig zur Schule ge-
hen können, weil sich ihre Eltern mangels eines dauerhaften Aufenthalts-
bzw. Freizügigkeitsrechts zu permanenter Weiterwanderung und/oder einem
Leben in prekären Lebens- und Wohnverhältnissen gezwungen sehen, und
wie schätzt sie die Zahl und Situation dieser Kinder ein?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/3018

11. Welche Daten und Erkenntnisse liegen der Bundesregierung vor zur Zahl,
Aufenthaltsdauer und Lebenssituation der in Deutschland lebenden bzw.
sich aufhaltenden Roma aus den osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten (hilfs-
weise: rumänischer bzw. bulgarischer Staatsangehöriger), insbesondere
auch ihrer Kinder, wie viele rumänische bzw. bulgarische Staatsangehörige
(falls bekannt auch nach Roma-Zugehörigkeit differenzieren) wurden seit
2007 ausgewiesen, zur Ausreise aufgefordert, abgeschoben bzw. haben ihr
Freizügigkeitsrecht verloren (bitte jeweils nach Jahren differenzieren und
zum Vergleich auch die Gesamtzahlen in Bezug auf alle EU-Angehörigen
nennen)?

12. Bei wie vielen EU-Angehörigen aus welchen Mitgliedstaaten liegt derzeit
ein Einreiseverbot bzw. ein Verlust des Freizügigkeitsrechts vor, gegen wie
viele Staatsangehörige aus welchen EU-Mitgliedstaaten wurde seit 2007
(bitte nach Jahren differenzieren) wegen Verstößen gegen § 9 des Freizügig-
keitsgesetzes ermittelt, und wie viele wurden deshalb verurteilt, und wie
viele Zurückweisungen von welchen EU-Angehörigen gab es seit 2007
(bitte nach Jahren differenzieren) wegen einer Einreise bzw. wegen Aufent-
halts in Deutschland trotz Verlusts des Freizügigkeitsrechts?

13. Welche weiteren Erkenntnisse und Zahlen in Bezug auf bulgarische und ru-
mänische Staatsangehörige (wenn möglich: mit Roma-Zugehörigkeit) gibt
es, die Aufschluss über ihre Lebenssituation in Deutschland geben könnten
(z. B. auch die Zahl von Ermittlungsverfahren wegen illegaler Beschäfti-
gung, der Umfang gewährter Rückkehrhilfen)?

14. Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung ergriffen, um gezielt gegen
rassistisch motivierte Diskriminierung von Sinti und Roma in Deutschland
vorzugehen und antiziganistischer Stigmatisierung entgegenzutreten?

15. Hat sich die Bundesregierung an der vom Europarat und der Europäischen
Union finanzierte Kampagne „Dosta“ (Romanes für „Genug!“) beteiligt, mit
der Vorurteile gegenüber den Roma abgebaut werden sollen, und wenn nein,
warum nicht, und wenn ja, in welcher Form unterstützt sie diese Kampagne?

16. Inwiefern hält die Bundesregierung die allgemein angestrebte Integration
der Roma in der EU für vereinbar mit ihrer Politik der Abschiebung aller nur
geduldeten Roma aus dem Kosovo, die dort mit allen Formen von Diskrimi-
nierung und Segregation konfrontiert sind, die die EU-Kommission in ihrem
Bericht zur Lage der Roma auflistet und bekämpft sehen will?

Berlin, den 24. September 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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