BT-Drucksache 17/2747

Barrierefreiheit bei Flugreisen

Vom 12. August 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/2747
17. Wahlperiode 12. 08. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Kornelia Möller, Dr. Dietmar Bartsch,
Inge Höger, Caren Lay, Ingrid Remmers, Kathrin Senger-Schäfer, Kersten Steinke
und der Fraktion DIE LINKE.

Barrierefreiheit bei Flugreisen

Die Verordnung (EG) Nr. 1107/2006 des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 5. Juli 2006 über die Rechte von behinderten Flugreisenden und Flug-
reisenden mit eingeschränkter Mobilität (im Folgenden: Verordnung) trat in der
Bundesrepublik Deutschland am 26. Juli 2008 vollumfänglich in Kraft.

Diese Verordnung und die Erfahrungen bei deren Umsetzung waren Gegenstand
einer Fachkonferenz des Behindertenbeauftragten der Bundesregierung „All
inclusive – ökonomische Chancen im Luftverkehr für alle“ am 10. Juni 2010 auf
dem Flughafen Berlin-Schönefeld sowie des auf Antrag der Fraktion DIE
LINKE. in der Sitzung des Ausschusses für Tourismus des Deutschen Bundes-
tages am 7. Juli 2010 gegebenen Berichts der Bundesregierung.

Wie schon bei der oben genannten Konferenz beruhte der im Ausschuss für
Tourismus vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie schriftlich
vorgelegte und mündlich ergänzte Bericht auf einer äußerst unzureichenden Art
der „Überprüfung“ durch das von der Bundesregierung mit der Durchsetzung
der Verordnung beauftragte Luftfahrtbundesamt (LBA). Laut Bericht wurden
die Flughäfen und Luftverkehrsunternehmen lediglich angeschrieben und um
Selbstauskünfte gebeten. Ob und wie die Verordnung auch in der Praxis umge-
setzt wird, wurde offensichtlich nicht untersucht.

Anscheinend unberücksichtigt blieben auch öffentlich zugängliche Beiträge
von sachkundigen Personen aus der Behindertenbewegung, zum Beispiel der
Artikel „Flugreisen: Barrierefreies Fliegen“ von Dominik Peter in der Zeitschrift
„RehaTreff“ 2/2010, Seite 20 ff. oder die von 571 Bürgerinnen und Bürgern
mitgezeichnete Petition an den Deutschen Bundestag von Kay Macquarrie
(siehe auch www.rechtaufklo.de) aus dem Jahr 2009 (siehe Bundestagsdruck-
sache 17/2100, Seite 46).

Das gesamte Feld der Barrierefreiheit für Blinde und Gehörlose fehlt in dem Be-
richt völlig. Auch die Frage, warum die Informationen über die Rechte für Flug-
reisende auf den Internetseiten des LBA nicht barrierefrei angeboten werden,
spielte im Bericht keine Rolle.

Ebenso wenig belastbar wie die Methode sind die Daten des Berichts. Viele
Punkte wurden blumig abgehandelt, konkrete Daten fehlten (z. B. Anzahl der
Passagiere mit Mobilitätseinschränkung, Schulungen, Hotlines, Beschwerden
beim Behindertenbeauftragten).

Im Bericht zieht die Bundesregierung dann folgendes Fazit: „Nach Einschät-
zung des LBA ist die Umsetzung der Verordnung größtenteils gut oder sogar

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sehr gut erfolgt. Die Vorgaben der Verordnung werden sowohl von den Flughä-
fen als auch von den Luftfahrtunternehmen beachtet. Es sind keine systemischen
oder strukturellen Defizite bei der Umsetzung der Verordnung erkennbar.“ Diese
Einschätzung hat – so der Bundestagsabgeordnete Dr. Ilja Seifert in der Sitzung
des Ausschusses für Tourismus des Deutschen Bundestages am 7. Juli 2010 –
nichts mit dem wirklichen Leben von Menschen mit Behinderung bei Flugreisen
zu tun.

Da der Bericht der Bundesregierung trotz Antrag der Fraktion DIE LINKE. im
Ausschuss für Tourismus nicht öffentlich verhandelt wurde und im Ergebnis der
Berichterstattung mehr Fragen offen blieben bzw. entstanden, als beantwortet
wurden, folgt nunmehr zwei Jahre nach dem Inkrafttreten der Verordnung diese
Kleine Anfrage an die Bundesregierung.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Inwieweit teilt die Bundesregierung die nach der oben genannten Fachkon-
ferenz getroffenen Einschätzung des Behindertenbeauftragten der Bundes-
regierung, Hubert Hüppe, dass weiterhin Handlungsbedarf für mehr Bar-
rierefreiheit im Luftverkehr besteht (siehe seine Presseerklärung 21/2010
vom 11. Juni 2010)?

2. Welche Aktivitäten gab bzw. gibt es seitens der Bundesregierung seit dem
Jahr 2006 für mehr Barrierefreiheit im Luftverkehr (bitte einzeln mit jewei-
liger Art der Aktivität, Verantwortlichkeit, Kosten und Zeitraum nennen)?

3. Wie viele Flughäfen mit gewerblicher Personenbeförderung gibt es in
Deutschland (Stand 2009)?

4. Wie viele deutsche und wie viele ausländische Luftfahrtunternehmen mit
gewerblicher Personenbeförderung haben mit Stand 2009 vom LBA eine
Betriebsgenehmigung bzw. eine Einflug- und Verkehrserlaubnis erhalten?

5. Wie viele für die gewerbliche Personenbeförderung zugelassene Flugzeuge
(über 20 t) gibt es bei deutschen Luftfahrtunternehmen?
Wie viele davon verfügen über mindestens eine Toilette?
Wie viele davon verfügen über mindestens eine auch für Rollstuhlnutzerin-
nen und Rollstuhlnutzer geeignete Toilette?
Wie viele dieser Flugzeuge verfügen über eine für Menschen mit Behin-
derungen angemessene barrierefreie Ausstattung hinsichtlich Sitzplatz-
gestaltung, Gangbreiten, barrierefreie Kommunikation usw.?

6. Welche innerdeutschen Strecken und welche Strecken zwischen deutschen
und anderen europäischen Flughäfen sind im Linienflug für Rollstuhl-
fahrerinnen und Rollstuhlfahrer regelmäßig nicht nutzbar, da entweder die
auf diesen Strecken eingesetzten Flugzeuge oder die Abflug- oder An-
kunftsflughäfen für diese Personengruppe auf Grund fehlender Barriere-
freiheit nicht geeignet sind?

7. Wie viele (angemeldete) behinderte bzw. mobilitätseingeschränkte Passa-
giere wurden im Jahr 2009 von den Flughäfen in Deutschland (oder dessen
Dienstleistern) abgefertigt (bitte aufgeschlüsselt nach Flughäfen)?

8. Wie viele behinderte bzw. mobilitätseingeschränkte Passagiere wurden im
Jahr 2009 von deutschen Airlines befördert (bitte aufgeschlüsselt nach
Flugverkehrsunternehmen)?

9. Welche deutschen Flughäfen verfügen über veröffentlichte Qualitätsstan-
dards, welche nicht (bitte namentlich nennen mit der jeweiligen Zahl der
Fluggäste pro Jahr)?

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10. Wie bewertet die Bundesregierung diese veröffentlichten Qualitätsstan-
dards?

11. Inwieweit hält es die Bundesregierung zum Beispiel für akzeptabel, wenn
es im gesamten Terminalbereich D in Berlin-Tegel keine Toiletten für Roll-
stuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer nach der Sicherheitskontrolle gibt, ob-
wohl der Anbau erst neu errichtet wurde?

12. Bei welchen dieser Flughäfen wurde die Umsetzung bzw. Einhaltung dieser
Qualitätsstandards durch die Bundesregierung bzw. in deren Auftrag ent-
sprechend Artikel 14 Absatz 1 der Verordnung überprüft (bitte jeweiliges
Datum und durchführende Institutionen nennen), und welche Ergebnisse
und Erfahrungen wurden dabei erzielt?

13. Welche Behindertenvereine waren an der Festlegung der Qualitätsstandards
bei den Flughäfen beteiligt (siehe Artikel 9 Absatz 1 der Verordnung)?

14. Inwieweit hält die Bundesregierung das gegenwärtige Beschwerdesystem
beim LBA einschließlich der derzeitigen Öffentlichkeitsarbeit und dem
achtseitigen Beschwerdeformular für ausreichend bzw. zielführend?

15. Wie viele Beschwerden zum Thema barrierefreie Flugreisen gingen seit
2008 beim Behindertenbeauftragten der Bundesregierung ein?
Was waren dabei die Schwerpunkte?
Wie wurden diese Beschwerden in der Arbeit des zuständigen Bundes-
ministeriums und des LBA berücksichtigt?
In wie vielen Fällen führten diese Beschwerden zu Sanktionen gegenüber
Flugverkehrsunternehmen, Reiseveranstaltern und Flughäfen?

16. Wie viele Beschwerden im Zusammenhang mit der Verordnung bzw. der
Beförderung von Menschen mit Behinderung gingen seit dem Jahr 2008 bei
den Beschwerdeabteilungen von deutschen Flugunternehmen sowie bei den
Flughäfen in Deutschland ein, und welcher Art waren diese Beschwerden
(bitte aufgeschlüsselt nach einzelnen Airlines und Flughäfen)?
Wie viele davon konnten einvernehmlich geregelt werden, und wie viele
nicht?

17. Welche von deutschen Flughäfen startenden Airlines verweigern die kos-
tenlose Mitnahme eines zweiten Rollstuhls bzw. Hilfsgerätes?
Wie hoch sind bei diesen Airlines die durchschnittlich geforderten Kosten
für die Mitnahme eines zweiten Rollstuhls?

18. Wie hat die Bundesregierung Artikel 16 „Sanktionen“ der Verordnung um-
gesetzt, in dem es heißt: „Die Mitgliedstaaten legen für Verstöße gegen
diese Verordnung Vorschriften über Sanktionen fest und treffen alle ihr zu
ihrer Anwendung erforderlichen Maßnahmen. Die Sanktionen müssen
wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. Die Mitgliedstaaten tei-
len der Kommission diese Vorschriften mit (…)“?

19. Wie lauten diese Vorschriften, und seit wann sind sie in Kraft?

20. Wie oft, wofür, und in welcher Höhe wurden bisher in Deutschland Sank-
tionen verhängt
a) gegenüber deutschen Flughäfen,
b) gegenüber deutschen Airlines,
c) gegenüber in Deutschland tätigen ausländischen Airlines,
d) gegenüber Reiseveranstaltern und sonstigen Unternehmen?

21. Welche deutschen Luftverkehrsunternehmen stellen
a) auf Kurzstreckenflügen,
b) auf Mittelstreckenflügen (beispielsweise Kanaren) und

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c) auf Langstreckenflügen
keine Bordrollstühle (u. a. für den Weg zur Toilette) bereit?

22. Welche deutschen Luftverkehrsunternehmen haben
a) auf Kurzstreckenflügen,
b) auf Mittelstreckenflügen (beispielsweise Kanaren) und
c) auf Langstreckenflügen
in ihren Flugzeugen Toiletten, die auch hinsichtlich ihrer Größe und Gestal-
tung für Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer sowie andere Menschen
mit Behinderung (blinde oder gehörlose Passagiere) nutzbar sind?

23. Welche deutschen Luftverkehrsunternehmen und welche ausländischen, in
Deutschland tätigen Luftverkehrsunternehmen boten 2009 keine kosten-
losen Hotlines und/oder Internetangebote für die Anmeldung eines Hilfe-
bedarfs an?
Hat das LBA diesen Unternehmen Fristen gestellt?
Wenn ja, welche?
Wurden diesbezüglich vom LBA Sanktionen verhängt oder zumindest an-
gedroht?
Wenn ja, welche, wenn nein, warum nicht?

24. Welche deutschen und welche ausländischen, in Deutschland tätigen Luft-
verkehrsunternehmen bieten Menschen mit Behinderungen, in deren
Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen „Begleitung“ vermerkt ist,
eine kostenlose Beförderung der Begleitperson oder Preisnachlässe für die
Schwerbehinderte bzw. den Schwerbehinderten oder die Begleitperson an?

25. Welche deutschen und welche ausländischen, in Deutschland tätigen Luft-
verkehrsunternehmen haben seit dem Jahr 2008 nach Kenntnis der Bundes-
regierung bei Menschen mit Behinderung, die allein reisen wollten, eine
Begleitperson als Beförderungsvoraussetzung gefordert, obwohl im Be-
reich des Flugverkehrs diese Unterstützung durch Mitarbeiter der Luftver-
kehrsunternehmen auf der Grundlage der Verordnung zu gewährleisten ist
(siehe auch Antwort der Bundesregierung auf die Schriftliche Frage 3 des
Abgeordneten Dr. Ilja Seifert auf Bundestagsdrucksache 16/4134)?

26. Wann ist mit dem laut Artikel 17 der Verordnung, spätestens bis zum
1. Januar 2010 von der Europäischen Kommission an das Europäische
Parlament und den Rat vorzulegenden Bericht über die Anwendung und die
Ergebnisse dieser Verordnung zu rechnen, und mit welchen Vorschlägen zu
Veränderungen der Verordnung wird die Bundesregierung zu diesem
Bericht ihren Beitrag leisten?

27. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Umsetzung
dieser Verordnung für die Umsetzung der am 6. Juli 2010 im Europäischen
Parlament angenommenen Verordnung zur Regelung der Fahrgastrechte im
Bereich Schifffahrt, welche laut Pressemitteilung 196/2010 des Bundes-
ministers für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Dr. Peter Ramsauer, vom
6. Juli 2010 in etwa zwei Jahren „auf möglichst kostengünstigem Weg“ mit
„schlanken Lösungen“ in Deutschland unmittelbar geltendes Recht werden
soll?

Berlin, den 9. August 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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