BT-Drucksache 17/2462

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister des Auswärtigen Afghanistan und die Konferenz von Kabul - Auf dem Weg zur Übergabe in Verantwortung

Vom 7. Juli 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/2462
17. Wahlperiode 07. 07. 2010

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Frithjof Schmidt, Ute Koczy, Omid Nouripour, Kerstin Müller
(Köln), Agnes Malczak, Katja Keul, Tom Koenigs, Marieluise Beck (Bremen), Volker
Beck (Köln), Viola von Cramon-Taubadel, Ulrike Höfken, Thilo Hoppe, Uwe
Kekeritz, Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin, Hans-Christian Ströbele und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der Abgabe einer Regierungserklärung
durch den Bundesminister des Auswärtigen

Afghanistan und die Konferenz von Kabul – Auf dem Weg zur Übergabe
in Verantwortung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Kabuler Konferenz am 20. Juli 2010 soll nach der internationalen Afghanis-
tankonferenz in London vom Januar 2010 der nächste Meilenstein für eine
„Übergabe in Verantwortung“ an die afghanischen Partner sein. Neun Jahre nach
Beginn des Einsatzes steht die internationale Gemeinschaft vor einem Dilemma:
Trotz intensiven Engagements ist das Land von einer inneren Stabilität weit ent-
fernt. Die Notwendigkeit sich mit nicht demokratischen Kräften zu arrangieren,
führt zu Kompromissen, die in demokratischer und menschenrechtlicher Hin-
sicht problematisch aber gleichwohl unumgänglich sind.

Auf der Londoner Konferenz hat die internationale Gemeinschaft Anfang des
Jahres ein neues strategisches Vorgehen für Afghanistan beschlossen. Die zivile
Hilfe soll deutlich ausgebaut werden. Ausgehend von den Äußerungen des af-
ghanischen Präsidenten Hamid Karsai und des US-Präsidenten Barack Obama
wurden für den Abzug der internationalen Truppen erste Eckdaten festgelegt.
Erklärtes Ziel der US-Administration ist es, im Juli 2011 mit dem Abzug von
US-Truppen zu beginnen. Zugleich wurde beschlossen, die ISAF-Truppen und
die Zahl der afghanischen Sicherheitskräfte deutlich aufzustocken. Hinter dieser
Strategieänderung steht das Ziel, in den nächsten fünf Jahren Stabilität in Afgha-

nistan zu erzielen, durch einen verstärkten militärischen Einsatz einerseits und
eine politische Verhandlungslösung andererseits.

Allerdings blieben viele konkrete Umsetzungsfragen auf der Londoner Konfe-
renz unbeantwortet und wurden auf die Kabuler Konferenz im Juli vertagt. Dies
gilt insbesondere für eine klare und zielorientierte Übergabestrategie für die
Umsetzung der verstärkten Anstrengungen im Wiederaufbau und für konkrete
Maßnahmen zur Unterstützung des Versöhnungs- und Reintegrationsplans.

Drucksache 17/2462 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Auf der Londoner Konferenz wurde vereinbart, dass die internationalen Geber
den Anteil ihrer Entwicklungsgelder, der über die afghanische Regierung fließt,
in den nächsten zwei Jahren auf bis zu 50 Prozent erhöhen wollen. Dies wurde
an eine Verbesserung der Governance-Strukturen geknüpft. Leider sind neben
der Aufreihung von Absichtserklärungen und Arbeitsaufträgen im Londoner
Abschluss-Communiqué konkrete Umsetzungsvorschläge für die zivilen Auf-
baupläne ebenso wenig zu finden wie eine Definition von klaren Zwischen-
zielen. Afghanistan steht nach dem Korruptionsindex von Transparency Interna-
tional auf der Liste der korruptesten Länder an zweiter Stelle. Internationale
Hilfsgelder sollen auch in der Regierung veruntreut und ins Ausland gebracht
worden sein. Schätzungen gehen von bis zu 3 Mrd. US-Dollar in den letzten drei
Jahren aus. Dies zeigt, welche Dimension die Korruption in Afghanistan bereits
erreicht hat. Wie die Herausforderung gemeistert werden soll, in einem solchen
Land 50 Prozent der internationalen Gelder über die Regierung umzusetzen,
bleibt bisher unbeantwortet.

Die Bundesregierung hat nach der Londoner Konferenz die Mittel für die Ent-
wicklungszusammenarbeit im Einzelplan 23 von 144,5 Mio. Euro in 2009 auf
224,5 Mio. Euro in 2010 deutlich erhöht. Mit der Schaffung regionaler Fonds
zur Verbesserung der Regierungsführung und der Regionalinfrastruktur vollzog
die Bundesregierung einen bedeutenden Wechsel hin zu einem stärker dezentra-
lisierten Ansatz. Die Einrichtung eines neuen regionalen Fonds und die deut-
liche Mittelerhöhung innerhalb des vorgegebenen Zeitrahmens lassen aber einen
sinnvollen Mittelabruf innerhalb dieser kurzen Frist von einem Jahr als fraglich
erscheinen. Eine Qualitäts- und Wirkungskontrolle kann unter diesen Voraus-
setzungen nicht stattfinden und ist nicht vorgesehen. Dies ist ein weiteres Ein-
fallstor für Korruption. Ein wesentliches Ziel der Londoner Konferenz, die
Verbesserung von Regierungsführung und Rechenschaftslegung auf Provinz-,
Distrikt- und Zentralebene, wird in Frage gestellt.

Auf der Londoner Konferenz wurde der innerafghanische Versöhnungs- und
Reintegrationsplan Präsident Hamid Karzais begrüßt, um einen Rückfall in einen
Bürgerkrieg nach einem Abzug der internationalen Truppen zu verhindern.
Deutschland hat dabei zugesagt, ein Aussöhnungs- und Reintegrationspro-
gramm finanziell zu unterstützen, dessen genauere Details ebenfalls die Kabuler
Konferenz regeln soll. Dieser Versöhnungsplan ist seit der Londoner Konferenz
nur punktuell vorangekommen. Dies liegt maßgeblich daran, dass sich relevante
Teile der aufständischen Gruppen einem solchen Prozess bisher verschließen. Es
liegt aber auch darin begründet, dass es seitens der internationalen Staaten-
gemeinschaft bzw. der unmittelbaren Nachbarstaaten ambivalente und teils kon-
traproduktive Signale gibt. Das Verhalten des Iran und insbesondere Pakistans
lässt immer wieder Zweifel aufkommen, ob man tatsächlich bereit ist, an einer
Friedenslösung konstruktiv mitzuwirken.

Die beratende Friedensjirga vom 2. bis 4. Juni 2010 hat sich zum Aussöhnungs-
prozess bekannt und konkrete Vorschläge unterbreitet. So forderte sie die Strei-
chung von Aufständischen von der Sanktionsliste der Vereinten Nationen (VN),
die Freilassung von Gefangenen und eine Fortsetzung des Friedensprozesses
durch einen Friedensrat. Zudem forderte die Jirga die Aufständischen und die
internationale Gemeinschaft auf, von Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung
abzusehen. Im Hinblick auf die Kabuler Konferenz forderte die Jirga, ihre
Abschlusserklärung auf die Tagesordnung zu setzen.

Die im Januar 2010 von der Bundesregierung behauptete militärische Schwer-
punktverlagerung von einem offensiven hin zu einem defensiven militärischen
Vorgehen war von Anfang an unglaubwürdig und steht in starkem Widerspruch
zum tatsächlichen militärischen Vorgehen. Im Süden Afghanistans finden weiter-

hin andauernde massive Militäroperationen statt. Auch im Norden wurde die ge-
zielte Bekämpfung von Aufständischen und die extralegalen gezielten Tötungen

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/2462

vorangetrieben. So wurden nach Medienmeldungen allein im Mai 2010 durch
die in Masar-i-Sharif operierenden amerikanischen Spezialkräfte 134 Taliban
gezielt getötet.

Die jüngste Sicherheitsstudie der Vereinten Nationen vom Juni dieses Jahres
attestiert eine alarmierende Zunahme der militärischen Gewalt. Im Vergleich zu
2009 wurde unter anderem ein Anstieg von Anschlägen mit Straßenbomben um
94 Prozent festgestellt. Die Anzahl der Selbstmordattentate hat sich sogar ver-
dreifacht. Dabei nimmt nicht nur die Quantität, sondern auch die Intensität der
Anschläge zu. Die Aufständischen greifen immer stärker auch die Zivilbevölke-
rung und insbesondere afghanische Staatsbedienstete an. Damit verstärken sich
Befürchtungen, dass eine Strategie, mittels einer offensiven Kriegsführung den
Verhandlungserfolg herbeizuzwingen, vermutlich scheitern wird.

Die internationale Gemeinschaft hat auf der Londoner Konferenz grobe Züge
einer Strategie beschlossen. Nun muss die Bundesregierung darauf drängen,
konkrete Ergebnisse auf der Kabuler Konferenz zu erzielen.

Militärisch kann der Konflikt in Afghanistan nicht gelöst werden. Die von der
Bundesregierung angestrebte „Übergabe in Verantwortung“ ohne einen Rück-
fall Afghanistans in einen offenen Bürgerkrieg nach dem Abzug der internatio-
nalen Truppen, kann nur durch eine substanziell verstärkte Anstrengung der
afghanischen Partnerinnen und Partner und nur im Rahmen einer politischen
Verhandlungslösung mit allen relevanten Akteurinnen und Akteuren erreicht
werden. Dabei muss die Einhaltung der Menschenrechte gesichert sein.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

● sich in der Vorbereitung der Kabuler Konferenz und auf der Konferenz dafür
einzusetzen, dass die afghanischen Partnerinnen und Partner ihrer Eigen-
verantwortung gerecht werden und die internationale Gemeinschaft eine
klare Unterstützung für eine Verhandlungslösung mit den aufständischen
Gruppen signalisiert, damit ein Ende der Gewalt und eine politische Lösung
des Afghanistankonflikts erreicht werden kann;

● sich im Einzelnen dafür einzusetzen,

– eine Beteiligung der Zivilgesellschaft, insbesondere von Frauen, an der
Konferenz sicherzustellen,

– die Abschlusserklärung und die Forderungen der Friedensjirga in die Be-
ratung auf der Kabuler Konferenz einzubeziehen,

– dass die Stellung des Parlaments und andere demokratisch legitimierte
Institutionen gestärkt werden,

– dass den Vertretern aufständischer Gruppen freies Geleit für Verhandlun-
gen eingeräumt wird,

– die Forderung der afghanischen Zivilgesellschaft nach der Wahrung der
afghanischen Verfassung und Einhaltung der Menschenrechte im Rahmen
des Verhandlungsprozesses mit den aufständischen Gruppen nicht preis-
zugeben,

– die Afghan Independent Human Rights Commission (AIHRC), die zur
Beobachtung der Menschenrechtslage in Afghanistan unersetzlich ist, die
Menschenrechtsverletzungen unabhängig untersucht und detaillierte Be-
richte über Menschenrechtsverletzung verfasst, finanziell und politisch
bestmöglich zu unterstützen,

– dass für den nachhaltigen Erfolg des Versöhnungsprozesses Menschen-

rechtsverletzungen mit geeigneten Instrumenten aufgedeckt und aufge-
arbeitet werden,

Drucksache 17/2462 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
– wichtige Akteure in der Region wie Pakistan, Iran, Russland, Indien und
China für eine Unterstützung des Verhandlungsprozesses zu gewinnen;

● regionale Verhandlungs- und Versöhnungsinitiativen insbesondere auch im
Norden zu unterstützen;

● durch einen konkreten Abzugsplan eine wichtige Vorbedingung für eine Ver-
handlungslösung zu schaffen und dafür im Rahmen der Kabuler Konferenz
einen konkreten Zeitplan mit klaren Zwischenschritten für die Übergabe der
neun Provinzen und 124 Distrikte im Norden vorzulegen. An der Ausarbei-
tung und Umsetzung einer kohärenten Übergabestrategie, welche den militä-
rischen Abzug und die Erhöhung der zivilen Kapazitäten koordiniert, müssen
alle betroffenen Bundesministerien (Auswärtiges Amt, Bundesministerium
des Innern, Bundesministerium der Verteidigung, Bundesministerium für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) eng zusammenarbeiten;

● einen zivilen Aufbauplan mit realistischen und verbindlichen Zwischenzielen
für die Bereiche Sicherheit, Entwicklung und Governance zu erstellen, der
beinhaltet,

– dass umsetzbare Zielvereinbarungen für die regionalen Fonds erstellt wer-
den, die sich vor allem auf Qualität und Wirkung der Maßnahmen bezie-
hen,

– den lokalen Verwaltungsaufbau verstärkt voranzutreiben, um das für die
Stabilisierung notwendige Maß an Staatlichkeit und Governance-Struk-
turen zu schaffen,

– dass alle Beschlüsse der Kabuler Konferenz darauf geprüft werden, ob sie
tatsächlich dazu beitragen, Good Governance auf allen Ebenen zu verbes-
sern,

– dass eine bessere Koordinierung der internationalen Bemühungen erreicht
wird, die sich am afghanischen Bedarf orientiert,

– dass sich auf den Wiederaufbau gerade in den friedlichen Provinzen kon-
zentriert wird, damit diese nicht auch noch destabilisiert werden,

– dass die Auszahlung internationaler Hilfsgelder und Mittel für den zivilen
Aufbau an verlässliche und überprüfbare Kriterien geknüpft wird, um der
Korruption Einhalt zu gebieten,

– die politischen Verhandlungen nicht durch extralegale gezielte Tötungen
zu konterkarieren;

● alle Aktivitäten einzustellen, die einer politischen Lösung entgegenwirken,
also insbesondere ISAF als Stabilisierungseinsatz fortzuführen und eine mi-
litärisch offensive Aufstandsbekämpfung, die auf die physische Vernichtung
möglichst vieler Gegner zielt, abzulehnen.

Berlin, den 6. Juli 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.