BT-Drucksache 17/2426

Modernisierung braucht Rechtsstaatlichkeit - Partnerschaft mit Russland fördern

Vom 7. Juli 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/2426
17. Wahlperiode 07. 07. 2010

Antrag
der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Viola von
Cramon-Taubadel, Ulrike Höfken, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, Katja Keul,
Ute Koczy, Tom Koenigs, Agnes Malczak, Kerstin Müller (Köln), Omid Nouripour,
Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Hans-Christian
Ströbele und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Modernisierung braucht Rechtsstaatlichkeit – Partnerschaft mit Russland fördern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Zu den Zielen einer auf den Werten des Europarates gründenden strategischen
Partnerschaft mit Russland gehören die gemeinsame Lösung globaler Fragen
und die Kooperation auf allen Feldern von Politik, Wirtschaft, Kultur, Wissen-
schaft. Für die Intensivierung der Beziehungen zwischen Russland und der EU
ist die wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierung Russlands von ent-
scheidender Bedeutung. Unerlässlicher Bestandteil dieser Modernisierung ist
die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in Russland.

Der Deutsche Bundestag begrüßt die wiederholte Forderung Präsident Dmitri
Medwedews nach verstärkter Bekämpfung der Korruption und nach Rechts-
sicherheit. Die Reform der russischen Justiz, der Verwaltung im Allgemeinen
und die Durchsetzung der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit wurden zu seinen
politischen Hauptzielen erklärt. Auch das dem Präsidenten nahestehende „Insti-
tut für moderne Entwicklung“ INSOR fordert eine Entwicklung, die „den
aktivsten und produktivsten Bürgergruppen Möglichkeiten für eine freie Selbst-
verwirklichung bieten und eine Grundlage für massive Investitionen – sowohl in
Form von Finanzmitteln als auch in Form von Händen und Köpfen – schaffen“
würde. Diese Agenda bietet eine gute Basis für die Zusammenarbeit zwischen
Russland und Deutschland bzw. der Europäischen Union.

Der Deutsche Bundestag ist sich der Tatsache bewusst, dass die Transformation
Russlands als Teil der früheren Sowjetunion in eine offene Gesellschaft eine
gewaltige Herausforderung ist. Russland bedurfte nach den Umbrüchen in der
Regierungszeit Boris Jelzins einer politischen und ökonomischen Stabilisierung,
die vom damaligen Präsidenten Wladimir Putin ab 1999 als System der „gelenk-
ten Demokratie“ betrieben wurde. Die Reformversuche der frühen 90er-Jahre
hatten die Entwicklung einer Marktwirtschaft initiiert, gleichzeitig aber zu gro-

ßen sozialen Spannungen geführt. Die ungezügelte Bereicherung einer Minder-
heit auf Kosten aller führte zu Enttäuschung über das vermeintliche Versagen
von Demokratie. Ungeachtet dessen ist Russland 1996 dem Europarat beigetre-
ten. Damit hat es sich dessen Konventionen und Standards verpflichtet. Der
Deutsche Bundestag betrachtet diese Mitgliedschaft als ein wichtiges Signal der
russischen Führung gegenüber der EU und gegenüber der eigenen Gesellschaft.
Der damit verbundene Anspruch, einen demokratischen Staat aufzubauen, sollte

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ernst genommen und die Politik der russischen Regierung daran gemessen wer-
den.

Nach wie vor sind deutliche rechtsstaatliche Defizite in Russland festzustellen.
Besonders besorgniserregend bleibt die Lage im Nordkaukasus. Auf islamisti-
sche Gewalt wird noch immer vor allem mit staatlicher Gegengewalt reagiert.
Vorsichtige Versuche des Dialogs können angesichts des massiven Vertrauens-
verlusts in staatliche Institutionen bisher keine nachhaltige Wirkung erzielen.
Trotz einer Vielzahl von Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Men-
schenrechte gegen staatliche Willkür im Nordkaukasus ist nach wie vor keine
Änderung der staatlich verursachten Umstände für die wiederholte Verletzung
von Menschenrechten erfolgt.

Die Zustimmung der russischen Delegation zu einer Resolution des Europarates,
die eine kritische Bewertung der Menschenrechtslage im Nordkaukasus enthält,
ist ein ermutigendes Zeichen. Der Deutsche Bundestag gibt seiner Hoffnung
Ausdruck, dass dies zu substantiellen Veränderungen der russischen Politik
führt.

Eine gemeinsame Haltung in der EU zum Verhältnis zu Russland ist eine ent-
scheidende Voraussetzung für eine wirksame Politik. Die Bundesregierung ist
aufgefordert, dafür Sorge zu tragen, dass innerhalb des politischen Dialogs mit
Russland Demokratie und Menschenrechte wesentlich stärker als bisher berück-
sichtigt werden. Langfristige Stabilität, eine verlässliche Rechtsordnung und
eine unabhängige Justiz fordern auch deutsche und europäische Unternehmen
im eigenen Interesse zu Recht ein. Dazu gehört die Einhaltung entsprechender
Standards in ihrem Einflussbereich auch bei Investitionen und Beteiligungen in
Russland.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

● rechtsstaatliche Defizite Russlands konkret zu thematisieren und zugleich
umfassende Angebote zu deren Überwindung im Sinne der Modernisierungs-
partnerschaft zu unterbreiten;

● im Rahmen des auszuhandelnden neuen Partnerschafts- und Kooperationsab-
kommens der EU eine intensive Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Justiz-
wesens zu vereinbaren, die messbar dazu beiträgt, die Rechtssicherheit in
Russland zu erhöhen;

● zusätzliche Beiträge zur Finanzierung von Rechtsstaatsprojekten des Europa-
rates, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE)
sowie von Nichtregierungsorganisationen (NGO) zu leisten, die in Zusam-
menarbeit mit der russischen Regierung durchgeführt werden;

● im Rahmen des Europarates und des Ministerrates der OSZE auch weiterhin
gegenüber der russischen Regierung auf die aus der Mitgliedschaft erwach-
senen Verpflichtungen hinzuweisen;

● im Rahmen der EU verstärkt auf die Finanzierung von Maßnahmen hinzu-
wirken, welche zur Modernisierung der Wirtschaft und des Bildungssystems,
zur Reform der öffentlichen Verwaltung und zur Bekämpfung der Korruption
in Russland beitragen;

● die Zusammenarbeit zu Themen der Gesetzgebung, der Justiz und des Straf-
vollzugs weiterzuentwickeln sowie dabei konkrete Vereinbarungen über
Ziele und deren Umsetzung zu treffen;

● sich bei europäischen Unternehmen, die in Russland investieren, für einen
Verhaltenskodex zur Einhaltung europäischer Standards einzusetzen;
● den russischen Präsidenten bei seinen Bemühungen zur Schaffung einer un-
abhängigen Justiz zu unterstützen;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/2426

● bei der russischen Regierung die Förderung einer pluralistischen, unabhängi-
gen Parteienlandschaft durch gesetzliche Erleichterungen für Registrierung,
Kandidatinnen- und Kandidatenaufstellung und Zugang zu Parlamenten ein-
zufordern;

● sich bei der russischen Regierung für die Gewährleistung der Entwicklungs-
möglichkeiten der Zivilgesellschaft durch Beendigung der Verfolgung
unabhängiger und kritischer Nichtregierungsorganisationen unter straf- und
steuerrechtlichen Vorwänden sowie entsprechende Revision des NGO-Ge-
setzes einzusetzen;

● von der russischen Regierung die Beendigung der Straflosigkeit gegenüber
Verbrechen der Sicherheitskräfte im Nordkaukasus und die Bereitschaft der
russischen Justizorgane zu fordern, Klagen nordkaukasischer Opfer in Er-
mittlungen und Gerichtsverfahren zu verfolgen;

● weiterhin die konsequente und transparente Aufklärung der weiter wachsen-
den Zahl von Morden an zivilgesellschaftlichen Aktivistinnen und Aktivisten
einzufordern;

● gegenüber der russischen Regierung auf konsequente strafrechtliche Verfol-
gung rassistisch motivierter Straftaten sowie der Verbreitung entsprechender
Ideologien zu drängen;

● sich bei der russischen Regierung für die Zulassung unabhängiger, auch in-
ternationaler Untersuchungen zu den Haftbedingungen in russischen Strafan-
stalten sowie für die Beendigung der menschenrechtswidrigen und schikanö-
sen Behandlung vieler Häftlinge des russischen Strafvollzugs einzusetzen;

● von der russischen Regierung die Gewährleistung der Demonstrationsfreiheit
und den Schutz friedlicher Demonstranten vor Gewalt zu fordern.

Berlin, den 6. Juli 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

In den vergangenen 20 Jahren hat sich in Russland eine lebendige Zivilgesell-
schaft gebildet, in der wie in den demokratischen oppositionellen Parteien der
Anspruch gelebt wird, Russland zu einem demokratischen Land mit einer eman-
zipierten Gesellschaft zu entwickeln. Dafür spielt der Bezug auf die europäi-
schen Standards für die Organisation der Gesellschaft und ihre Entfaltungsmög-
lichkeiten eine wichtige Rolle. Trotz der unstrittigen Besonderheiten Russlands
werden sie als Maßstab für die weitere Entwicklung des Landes angesehen. In
verschiedenen Bereichen füllen Nichtregierungsorganisationen Lücken, die sich
durch die Schwäche der eigentlich zuständigen staatlichen Strukturen auftun.
Das seit 2006 gültige NGO-Gesetz behindert nach wie vor massiv die Arbeit der
zivilgesellschaftlichen Organisationen. Durch Präsident Dmitri Medwedew
2009 begonnene Erleichterungen und mehr noch das am 24. März 2010 von der
Duma verabschiedete Gesetz über „sozial orientierte nichtkommerzielle Organi-
sationen“ sind ermutigende Zeichen. Die Umsetzung dieser ersten Maßnahmen
genügt jedoch nicht. Notwendig ist eine weitere Liberalisierung der Gesetzge-
bung, damit sich die Potentiale der Zivilgesellschaft für eine dynamische gesell-
schaftliche Entwicklung in der Praxis wirksam entfalten können.

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Zum Symbol für die fehlende Unabhängigkeit der Justiz ist der Fall
Chodorkowski geworden. Sein offenkundig politischer Hintergrund hat dem
Ansehen Russlands im Ausland erheblich geschadet. Auch die anhaltende
Behinderung der Entwicklung der Parteien- und Medienlandschaft und ihrer
Möglichkeiten zur Teilnahme an den gesellschaftlichen Debatten muss beendet
werden, wenn eine pluralistische Gesellschaft befördert werden soll. Denn ohne
öffentliche Kontrolle von Polizei, Justiz und Strafvollzug kann Rechtsstaatlich-
keit nicht gedeihen.

Nach wie vor beunruhigend ist auch die Verletzung des Verfassungsrechts auf
Versammlungsfreiheit. Bezeichnend dafür ist die wiederholte massenhafte Fest-
nahme friedlicher Demonstranten und Demonstrantinnen bei behördlich behin-
derten und verbotenen Demonstrationen für dieses Recht. Die Einhaltung von
Geist und Buchstaben der Verfassung ist eine nicht verhandelbare Grundforde-
rung an jeden Rechtsstaat.

Während die russische Regierung für Tschetschenien von einer „Normalisie-
rung“ spricht, ist die Menschenrechtssituation unter der Herrschaft des von
Russland protegierten, vom Kreml installierten Milizenführers Ramsan Kadyrow
nach wie vor katastrophal. Der islamistische Terrorismus hat sich auf die
Nachbarrepubliken ausgeweitet und durch wiederholte Anschläge in der Region
sowie in anderen Teilen Russlands zu Hunderten von Opfern und einer bereits
seit Jahren anhaltenden Atmosphäre der Angst geführt.

Rassistische Ressentiments bis hin zu Pogromen sind dabei eine besorgnis-
erregende Begleiterscheinung. Von den Behörden werden rassistische Straftaten
weitgehend in Kauf genommen und unzureichend verfolgt. Kritik an der
Situation im Nordkaukasus, an der Politik lokaler Regierungen und an der
russischen Nordkaukasuspolitik jedoch ist nach wie vor gefährlich. Wiederholte
Morde und Entführungen kritischer Journalisten und Journalistinnen wie Anna
Politkowskaja, Anastasia Baburowa und Magomed Jewlowjew, von Anwälten
wie Stanislaw Markelow und Menschenrechtsaktivisten und -aktivistinnen wie
Natalja Estemirowa, Sarema Sadulajewa, Alik Dschabrailow, Farid Babajew
und Bulat Tschilajew, chronisch erfolglose Ermittlungen gegen die meisten
Täter und deren nahezu vollständige Straflosigkeit haben zu der Atmosphäre der
Angst beigetragen.

Zu dem von Präsident Dmitri Medwedew kritisierten „Rechtsnihilismus“ in
Russland gehören auch die seit Jahren von zivilgesellschaftlichen Gruppen
kritisierte Repression Wehrpflichtiger in der Armee und von Häftlingen in
Untersuchungshaft und im Strafvollzug. Folter und verbreitete Repressionen
werden noch immer zu selten geahndet. Besorgniserregend ist schließlich die
Häufung von Straftaten durch Polizisten, die zu einem massiven Vertrauensver-
lust der Bevölkerung in die Institutionen des Rechtsschutzes, der Justiz und der
Sicherheit beigetragen haben.

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