BT-Drucksache 17/1736

Abschaffung der Wehrpflicht

Vom 18. Mai 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1736
17. Wahlperiode 18. 05. 2010

Antrag
der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, Matthias W. Birkwald,
Christine Buchholz, Sevim Dag˘delen, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke,
Annette Groth, Heike Hänsel, Inge Höger, Andrej Hunko, Harald Koch, Stefan
Liebich, Niema Movassat, Thomas Nord, Alexander Ulrich, Katrin Werner
und der Fraktion DIE LINKE.

Abschaffung der Wehrpflicht

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Wehrpflicht stellt einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Grundrechte
junger Menschen dar und ist sicherheitspolitisch nicht zu begründen. Die Um-
setzung der Wehrpflicht ist von Willkür und Ungerechtigkeit gekennzeichnet.
Nur etwa 15 Prozent eines Jahrgangs leisten Wehrdienst, mehr als 50 Prozent
der Wehrpflichtigen leisten weder Wehrdienst noch Zivildienst. Daran wird
auch die von der Bundesregierung angekündigte Gesetzesinitiative, die eine
Verkürzung der Dienstzeit auf sechs Monate vorsieht, nichts ändern. Die Wider-
sprüche zwischen den grundgesetzlichen Vorgaben der Gleichbehandlung der
Wehrpflichtigen und der verfassungsrechtlichen Anbindung der Wehrpflicht an
die Landesverteidigung bleiben durch die Wehrpflichtpraxis bestehen. Es ist
nicht hinnehmbar, dass auf dem Rücken der Wehrpflichtigen einerseits grund-
sätzliche Abrüstungsschritte und andererseits Reformen des sozialen Sektors
unterbleiben. Das Festhalten an der Wehrpflicht blockiert die deutliche Verklei-
nerung des Personalumfangs der Streitkräfte und bindet erhebliche finanzielle
und volkswirtschaftliche Ressourcen. Die Ausgaben für den Wehr- und Zivil-
dienst binden jährlich mehr als 1 Mrd. Euro im Haushalt. Finanzielle Mittel, die
an anderer Stelle, zum Beispiel bei der Schaffung sozialversicherungspflichti-
ger Arbeitsplätze, fehlen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Wehrpflicht mit sofortiger Wirkung aufzuheben;

2. die mit der Abschaffung der Wehrpflicht verbundenen Personalreduzierun-
gen (Wehrpflichtige und dazugehöriges Ausbildungs- und Verwaltungsper-
sonal) für weitere Abrüstungsschritte der Bundeswehr zu nutzen;

3. die mit der Abschaffung der Wehrpflicht frei werdenden Mittel für die Kon-

version des Zivildienstes und die Schaffung neuer sozialversicherungs-
pflichtiger Arbeitsplätze im Bereich der Pflege und gesundheitlichen Versor-
gung bereitzustellen.

Berlin, den 18. Mai 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Drucksache 17/1736 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Begründung

Die Wehrpflicht ist ein Zwangsdienst und begründet ein militärisches Rekrutie-
rungssystem, in dem die ihr Unterworfenen unter Androhung von Freiheitsstra-
fen zum Dienen gezwungen werden. Zwangsdienst bedeutet immer, dass
Grund- und Bürgerrechte der Staatsbürgerinnen und -bürger erheblich einge-
schränkt und zum Teil aufgehoben werden. Die Wehrpflicht betrifft zu jedem
Zeitpunkt die Grund- und Bürgerrechte von mehr als 2,5 Millionen jungen
Männern zwischen dem 17. und 23. Lebensjahr, die der Wehrpflicht unter-
liegen. Eingeschränkt werden unter anderem das Recht auf körperliche Unver-
sehrtheit, Bewegungsfreiheit, der Schutz der Menschenwürde und die freie Be-
rufswahl. Die Wehrpflicht bedeutet immer einen unverhältnismäßigen Eingriff
in die Lebensplanung der Wehrpflichtigen. Außerdem bergen staatliche
Zwangsdienste immer die Gefahr des Missbrauchs.

Eine sicherheitspolitische Legitimation der Wehrpflicht ist nicht gegeben. Sie
ist ein Relikt des Kalten Krieges und auch in der NATO ist die Wehrpflicht
längst ein Auslaufmodell geworden. Von den 28 NATO-Staaten halten neben
Deutschland nur noch Estland, Griechenland, Norwegen und die Türkei an der
Wehrpflicht fest. Sowohl die Verteidigungspolitischen Richtlinien von 2003 als
auch das Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands von 2006 stellen fest,
dass auf absehbare Zeit keine Bedrohung der deutschen Landesgrenzen durch
andere Streitkräfte besteht. Aufgaben der Landesverteidigung spielen in den
militärischen Planungen der Bundeswehr keine Rolle mehr. Strukturbestim-
mend ist nicht der verfassungsgemäße Auftrag der Bundeswehr, sondern na-
hezu ausschließlich das Fähigkeitsprofil weltweit einsetzbarer Interventions-
streitkräfte. Dass hierfür auch aus Sicht der Bundeswehr Wehrpflichtige nicht
mehr benötigt werden, zeigt sich in der kontinuierlichen Absenkung der Dienst-
posten für Grundwehrdienstleistende. Noch in den 80er Jahren war fast jeder
zweite Bundeswehrsoldat Grundwehrdienstleistender, gegenwärtig ist es noch
jeder achte. Ab 2011 soll der Anteil auf 10 Prozent reduziert werden. Auch bei
der militärischen Ausbildung der Grundwehrdienstleistenden geht es nicht um
die Vorbereitung auf Aufgaben der Landesverteidigung. Bereits im Jahr 2000
hatte die so genannte Weizsäcker-Kommission festgestellt: „Gerade weil die
militärische Relevanz der Wehrpflicht die wesentliche Bedingung für ihre Bei-
behaltung ist, muss die Grundwehrdienstdauer so bemessen sein, dass sie eine
ausreichende Grundlage für die militärische Nutzbarkeit der Wehrpflichtigen
bietet. Dies kann nach Überzeugung der Kommission nur erreicht werden,
wenn die Grundwehrdienstdauer nicht unter zehn Monaten liegt.“ Die geplante
Verkürzung der Dienstzeit von neun auf sechs Monate unterstreicht, dass das
beharrliche Festhalten an der Wehrpflicht vor allem aus staatspolitischen und
ideologischen Gründen erfolgt. Das Dienen wird zum Selbstzweck. Zudem ver-
schafft es der Bundeswehr weiterhin einen exklusiven Zugang zum männlichen
Teil der jungen Bevölkerung und bietet eine praktische – wenn auch teure –
Möglichkeit der Nachwuchsgewinnung. Im Sozialbereich werden Zivildienst-
leistende überwiegend als billige Arbeitskräfte, die weit unter den tarifüblichen
Standards bezahlt werden, eingesetzt. Faktisch führt ihr Einsatz dazu, dass die
Schaffung von besseren Arbeitsbedingungen und höheren Löhnen für die im
Sozialbereich Beschäftigten erschwert wird.

Das Festhalten an der Wehrpflicht zementiert die über Jahrzehnte durch die
Wehrpflichtpraxis entstandenen Ungerechtigkeiten. Gegenwärtig leisten nur
noch etwa 15 Prozent der Wehrpflichtigen eines Jahrgangs tatsächlich Wehr-
dienst, mehr als 50 Prozent leisten gar keinen Dienst. Von einer allgemeinen
Wehrpflicht kann schon lange nicht mehr die Rede sein. Daran wird auch die
geplante Verkürzung der Dienstzeit nichts ändern. Mit dieser Willkür korres-
pondiert die Ungleichbehandlung zwischen den Zivildienst- und Wehrdienst-

pflichtigen. Da im Zivildienst etwa dreimal so viele Dienstposten zur Verfü-
gung stehen, werden Kriegsdienstverweigerer mit einer deutlich höheren

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1736

Wahrscheinlichkeit zum Zivildienst einberufen als die Nichtverweigerer zum
Grundwehrdienst. Im Widerspruch zu den gesetzlichen Vorgaben ist der Zivil-
dienst in der Praxis zum Regeldienst geworden und hat in den sozialen und
pflegerischen Bereichen entgegen dem Gebot der Arbeitsmarktneutralität die
Schaffung regulärer Arbeitsplätze verhindert. Auch die jetzige Bundesregie-
rung hält daran fest, den massiven Einsatz von Zivildienstleistenden als billige
Arbeitskräfte im sozialen Bereich zu fördern.

Angesichts der offensichtlichen Widersprüche und Unzulänglichkeiten des
Wehrpflichtsystems wird versucht, neue Legitimationsgrundlagen für die Bei-
behaltung der Wehrpflicht zu konstruieren, wie z. B. hinsichtlich der Ausrich-
tung der Grundausbildung auf einen Einsatz im Inneren im Rahmen der Zivil-
Militärischen-Zusammenarbeit oder zur Nachwuchsgewinnung. Diesen Versu-
chen der Ausweitung und Umdeutung muss eine Absage erteilt werden. Der
Einsatz von Streitkräften im Inneren gehört nicht zu den eigentlichen Aufgaben
der Bundeswehr; einen Zwangsdienst allein aus Gründen der Nachwuchswer-
bung einzurichten ist nicht von der Verfassung gedeckt. Darüber hinaus stellt
sich in Bezug auf die Nachwuchswerbung die Frage nach der Verhältnismäßig-
keit. Nur etwa 11 Prozent der tatsächlich Wehrdienstleistenden verpflichten
sich im Anschluss als Soldat auf Zeit oder Berufssoldat. Deswegen jährlich
mehrere hunderttausend junge Männer der Wehrpflicht zu unterwerfen, ist
unverhältnismäßig und angesichts von mehr als 1 Mrd. Euro, die die Wehr-
pflicht (inklusive des Zivildienstes) pro Jahr kostet, auch haushälterisch unver-
antwortlich. Wenn im Zusammenhang mit der Diskussion über die Wehrpflicht
die Klage über mangelndes zivilgesellschaftliches Engagement angeführt wird,
greift dies ins Leere. Es existieren bereits vielfältige Möglichkeiten, z. B. im
Rahmen des freiwilligen sozialen Jahres/freiwilligen ökologischen Jahres und
des Zivilen Friedensdienstes, die auch regen Zuspruch haben und mit staat-
licher Unterstützung ausgebaut werden sollten.

Es ist nicht die Wehrpflicht bzw. die Wehrform, die eine gesellschaftliche Kon-
trolle und demokratische Verfasstheit der Bundeswehr sowie das Prinzip des
Staatsbürgers in Uniform garantiert. Es liegt auf der Hand, dass bei einem An-
teil von Grundwehrdienstleistenden von nur 10 Prozent (ab 2011), einer Dienst-
dauer von neun bzw. sechs Monaten und der prinzipiell eingeschränkten sol-
datischen Beteiligungsrechte die Wehrpflichtigen hier keine tragende Rolle
spielen können. Für eine funktionierende gesellschaftliche Kontrolle und demo-
kratische Verfasstheit der Streitkräfte kommt es vielmehr darauf an, eine effek-
tive parlamentarische Kontrolle zu gewährleisten, die Beteiligungsrechte der
Soldaten zu stärken, die politische Bildung in der Bundeswehr zu verbessern
und bei der Auswahl der Vorgesetzten sorgfältiger vorzugehen.

Genauso wenig verhindert die Wehrpflicht bzw. die Wehrpflichtarmee, von der
angesichts des geringen Anteils Wehrpflichtiger bei der Bundeswehr ohnehin
keine Rede sein kann, eine militärische Interventions- und Kriegspolitik. Die
Weltkriege, der Vietnamkrieg, unzählige Bürgerkriege, die Kriege gegen Jugos-
lawien und aktuell der Bundeswehreinsatz in Afghanistan haben gezeigt, dass
Wehrpflicht nicht vor Krieg schützt, sondern im Gegenteil durch den un-
gebrochenen Zufluss von Wehrpflichtigen die Fortführung von bewaffneten
Konflikten ermöglicht. Nur durch eine friedliche Außenpolitik und die Aus-
richtung der Bundeswehr auf Nichtangriffsfähigkeit kann einer solchen Gefahr
wirkungsvoll begegnet werden.

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