BT-Drucksache 17/1577

Ehegattennachzug ohne Sprachhürden ermöglichen

Vom 4. Mai 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1577
17. Wahlperiode 04. 05. 2010

Antrag
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Jan Korte, Ulla Jelpke, Cornelia Möhring,
Kornelia Möller, Wolfgang Neskovic, Petra Pau, Jens Petermann, Raju Sharma,
Frank Tempel, Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Ehegattennachzug ohne Sprachhürden ermöglichen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Deutsche Bundestag beobachtet mit großer Besorgnis, dass die seit Ende
August 2007 geltende Neuregelung, wonach im Rahmen des Ehegattennach-
zugs bereits vor der Einreise deutsche Sprachkenntnisse nachzuweisen sind, zu
einer erheblichen Einschränkung des Ehegattennachzugs geführt hat. Die Zahl
der zum Ehegattennachzug erteilten Visa lag mit gut 33 000 im Jahr 2009 immer
noch deutlich unterhalb des Wertes von vor der Gesetzesänderung im Jahr 2006
(knapp 40 000). Direkt nach Inkrafttreten des Gesetzes gab es einen drastischen
Einbruch der Visumzahlen um weltweit 40 Prozent (Türkei: 67,5 Prozent). Die
geforderten Sprachkenntnisse lassen sich vielfach nicht leicht und schnell er-
werben. Anderenfalls hätte die Zahl der erteilten Visa im ersten Quartal 2008,
d. h. vier bis sieben Monate nach Inkrafttreten der Regelung, in etwa wieder dem
Wert von vor der Gesetzesänderung entsprechen müssen, tatsächlich aber lag sie
immer noch um mehr als 30 Prozent darunter.

Die schlechten Erfolgsquoten bei Sprachtests im Ausland – vermutlich bestehen
nur etwa 50 bis 60 Prozent aller Prüfungsteilnehmenden den Test im ersten An-
lauf – lassen den Schluss zu, dass die Neuregelung mit einer vielfach unzumut-
baren, länger andauernden Zwangstrennung von Eheleuten verbunden ist. Dies
zeigen auch unzählige von Verbänden und Beratungsstellen dokumentierte oder
durch Petitionen an den Deutschen Bundestag bekannt gewordene Einzelfälle.
Die Bundesregierung hatte zur Rechtfertigung der Neuregelung hingegen sug-
geriert, die notwendigen Sprachkenntnisse umfassten nur etwa 200 bis 300 Wör-
ter und ließen sich problemlos innerhalb von drei Monaten erwerben. Eine all-
gemeine Härtefallregelung, etwa für Analphabetinnen und Analphabeten, ist im
Gesetz nicht vorgesehen.

Ein solch schwer wiegender Eingriff in das Grundrecht auf Ehe- und Familien-
zusammenleben, der zu den ohnehin bestehenden rechtlichen Beschränkungen
des Ehegattennachzugs noch hinzukommt, bedürfte zum Nachweis seiner Ver-

hältnismäßigkeit einer besonderen Begründung. Die vorgegebenen Ziele einer
angeblichen Bekämpfung von Zwangsverheiratungen oder einer angeblich bes-
seren Integration wurden durch die Gesetzesänderung jedoch gerade nicht er-
reicht bzw. können mit den gewählten Mitteln gar nicht erreicht werden. Die
Neuregelung verstößt wegen unzulässiger Einschränkungen des Rechts auf Fa-
milienzusammenführung auch gegen Europarecht.

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Der Deutsche Bundestag kritisiert, dass das unausgesprochene Motiv und die
objektive Funktion der Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug eine
Selektion nach Nützlichkeitskriterien ist, denn insbesondere sozial schwache,
ältere und bildungsferne Menschen sind von den gesetzlichen Beschränkungen
betroffen. Dies ist eine unverhältnismäßige und unzulässige Grundrechtsein-
schränkung mit extremen Belastungen für viele Betroffene. Die nur selektive
Anwendbarkeit der Regelung auf unterschiedliche Staatsangehörige stellt eine
willkürliche Ungleichbehandlung dar. Die Vorschrift ist wegen zahlreicher, zum
Teil auslegungsbedürftiger Ausnahmetatbestände zudem nur sehr schwer ver-
ständlich.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

die Beschränkung des Ehegattennachzugs durch die Anforderung von im Aus-
land nachzuweisenden Deutsch-Sprachkenntnissen wieder rückgängig zu ma-
chen.

Berlin, den 4. Mai 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Nach Inkrafttreten des EU-Richtlinienumsetzungsgesetzes ist der Nachzug von
Ehegatten und Lebenspartnern/-partnerinnen aus dem Ausland grundsätzlich
vom Nachweis einfacher deutscher Sprachkenntnisse des Niveaus A1 des Ge-
meinsamen Europäischen Referenzrahmens (GER) abhängig. Zahlreiche Perso-
nengruppen und Staatsangehörige bestimmter Länder sind hiervon jedoch aus-
genommen. Eine allgemeine Härtefallregelung, etwa für Analphabetinnen und
Analphabeten, Schwangere und ältere Menschen, gibt es nicht.

Die Neuregelung zielt vor allem auf türkische Staatsangehörige aus bildungs-
und sozial schwachen Schichten ab, wie nicht zuletzt die Rede des damaligen
Bundesministers des Innern, Dr. Wolfgang Schäuble, zur Vorstellung des
Kabinettsentwurfs deutlich machte. Als Gesetzesziel nannte er die Verhinderung
„arrangierter Ehen“, die bei „jungen Menschen türkischer Abstammung“ „in
einer Größenordnung von bis zu 50 Prozent“ vorkämen (vgl. Plenarprotokoll
16/90, S. 9065). Eine Quelle für diese Behauptung, die der Minister noch einmal
wiederholte (vgl. Plenarprotokoll 16/103, S. 10598), konnte die Bundesregie-
rung auf Bundestagsdrucksache 16/12979 (Antwort zu Frage 18c) allerdings
nicht nennen.

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel und Staatsministerin Dr. Maria Böhmer
versuchten die Neuregelung auf der Pressekonferenz zum Integrationsgipfel
vom 12. Juli 2007 damit zu rechtfertigen, dass zur Erreichung des Sprachniveaus
A1 GER lediglich der Erwerb von 200 bis 300 Wörtern erforderlich und die Re-
gelung deshalb zumutbar sei. Die Bundesregierung musste auf parlamentarische
Nachfragen allerdings einräumen, dass der Test über das Sprachniveau A1 eine
„Sprachkenntnis von circa 650 Wörtern“ umfasst, von denen „lediglich etwa
300 Wörter“ in den Bereichen Sprechen und Schreiben „aktiv beherrscht werden
sollten“ (Bundestagsdrucksache 16/9137, Frage 9).

Die Fraktion DIE LINKE. hat die Neuregelung von Beginn an als eine verfas-
sungswidrige Einschränkung des Familiennachzugs und eine Selektion nach
Nützlichkeitskriterien abgelehnt. Verfassungsgerichtliche und europarechtliche

Bedenken wurden auch von zahlreichen Sachverständigen im Rahmen der An-
hörung zum EU-Richtlinienumsetzungsgesetz vorgetragen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1577

Der Deutsche Gewerkschaftsbund bewertete in seiner Stellungnahme (Aus-
schussdrucksache 16(4)209, S. 20) die Neuregelung als „nicht zu akzeptierende“
„soziale Selektion“, denn insbesondere der Ehegattennachzug von sozial ausge-
grenzten, bildungsfernen und älteren Menschen werde massiv eingeschränkt.
Diese Selektionswirkung wurde von der Bundesregierung indirekt eingeräumt:
„Ehegatten mit nur geringem Bildungsstand und hohem Lebensalter benötigen
häufig eine längere Sprachvorbereitung“ (Bundestagsdrucksache 16/11997,
Frage 3). Sie hält allerdings sogar finanzielle Belastungen in Höhe mehrerer
Tausend Euro aufgrund von sich hinziehenden Visumverfahren ausdrücklich für
zumutbar (vgl. Bundestagsdrucksache 16/10732, Frage 11 und 15). Die Ver-
wirklichung eines Grundrechts darf jedoch nicht vom Geldbeutel der Betroffe-
nen oder ihrer Fähigkeit zum Fremdsprachenerwerb abhängig gemacht werden!

Der Paritätische Gesamtverband forderte in seiner Bilanz vom 27. August 2009
„Ein Jahr nach der Reform des Zuwanderungsgesetzes“ die „Abschaffung der
Nachweispflicht von einfachen Sprachkenntnissen als Voraussetzung für den
Ehegattennachzug“. Es handele sich „um eine soziale Selektion“, „die mit dem
grundgesetzlich geschützten Recht auf Ehe und Familie nicht vereinbar“ sei.

Auch der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) und ehemalige Bundes-
minister des Innern, Rudolf Seiters (CDU), forderte in einem Brief vom
9. Oktober 2008 an den damaligen Bundesminister des Innern, Dr. Wolfgang
Schäuble, aufgrund der Erfahrungen des DRK mit der Neuregelung eine Aus-
nahme- bzw. Härtefallregelung bzw. sogar deren Rückgängigmachung.

Nur 64 Prozent aller Prüfungsteilnehmenden weltweit bestanden im Jahr 2009
den Deutschtest, der Voraussetzung für den Ehegattennachzug ist (vgl. Bundes-
tagsdrucksache 17/1112, Frage 4). Nicht erfasst wird dabei, wie viele Versuche
die Betroffenen unternehmen mussten, um den Sprachtest zu bestehen. Vermut-
lich schafft nur etwa die Hälfte aller nachzugswilligen Ehegatten die Hürde des
Sprachtests im ersten Anlauf. Die Erfolgsquote beträgt bei „externen“ Prüfungs-
teilnehmenden, d. h. solchen ohne vorherige Kursteilnahme am Goethe-Institut
(72 Prozent aller Prüfungsteilnehmenden), sogar nur 60 Prozent. Auf diese
Quote kommt es bei der Bewertung der Verhältnismäßigkeit der Neuregelung
an, denn der Gesetzgeber durfte nicht voraussetzen, dass den Betroffenen im Re-
gelfall ein Zugang zu einem Sprachkurs eines Goethe-Instituts weltweit gegeben
ist (in zahlreichen Ländern und Regionen gibt es weder Goethe-Institute noch li-
zenzierte Kooperationspartner) und/oder sie sich einen solchen Kurs und die da-
mit häufig verbundenen Zusatzkosten (z. B. Lohnausfall, Reise- und Übernach-
tungskosten) auch leisten können. In einigen Ländern sind die externen
Erfolgsquoten aufgrund länderspezifischer und/oder sprachlicher Besonderhei-
ten noch einmal niedriger, z. B.: Syrien (25 Prozent), Iran (26 Prozent), Maze-
donien (32 Prozent), Äthiopien/Sri Lanka (37 Prozent), Senegal (46 Prozent),
Kosovo (51 Prozent). Selbst nach dem Besuch eines Sprachkurses des Goethe-
Instituts liegen die Erfolgsquoten zum Teil unter 50 Prozent: Iran (38 Prozent),
Palästina (40 Prozent), Libanon (43 Prozent), Bangladesh (46 Prozent). Es liegt
auf der Hand, dass diese hohen Misserfolgsquoten mit entsprechend langen Pha-
sen des Spracherwerbs und erzwungenen Trennungen der Ehepartner verbunden
sind. Der notwendige Spracherwerb gelingt also vielfach nicht innerhalb eines
kurzen Zeitraums, z. B. innerhalb von drei Monaten, wie etwa die Integrations-
beauftragte der Bundesregierung im Deutschen Bundestag suggerierte (Plenar-
protokoll 16/144, S. 15188). Nicht nachvollziehbar ist hingegen die Auffassung
der Bundesregierung, „ein erfolgreicher Nachweis einfacher Deutschkennt-
nisse“ spiegele „die Integrationsbereitschaft des Ehegatten schon vor seinem
Zuzug nach Deutschland“ (vgl. Bundestagsdrucksache 16/10732, Frage 17),
denn nichts spricht dafür, warum die „Integrationsbereitschaft“ der Menschen in
Ländern mit einem besonders drastischen Rückgang des Ehegattennachzugs

infolge der neuen Sprachanforderungen – Dominikanische Republik, Nigeria,

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Kasachstan, Kenia, Thailand, Kuba, Kosovo, Russische Föderation – eklatant
niedriger sein sollte als anderswo.

Die Einschränkung des Grundrechts nach Artikel 6 des Grundgesetzes (GG) mit
dem Ziel der Bekämpfung von Zwangsverheiratungen wäre besonders begrün-
dungsbedürftig, weil Zwangsverheiratungen beim Ehegattennachzug nur im
Ausnahmefall eine Rolle spielen (so auch die Bundesregierung auf Bundestags-
drucksache 16/7288, Frage 23). Die Einschränkungen treffen aber unterschieds-
los alle Ehegatten, d. h. zum Beispiel auch männliche Ehegatten, die in der
Regel keine schutzbedürftigen Opfer von Zwangsverheiratungen sind, Ehegatten
aus Ländern, in denen Zwangsverheiratungen praktisch nicht vorkommen,
sowie – sogar überdurchschnittlich – auch den Ehegattennachzug zu deutschen
Spätaussiedlerinnen und Aussiedlern (vgl. auch Migrationsbericht 2007, Bun-
destagsdrucksache 16/11300, S. 97). Dass dem Gesetzgeber bei der „Bekämp-
fung von Zwangsverheiratung“ angeblich „keine gleich wirksamen, zielgenaue-
ren Mittel zur Verfügung“ stünden (Bundestagsdrucksache 16/7288, Frage 22a),
ist vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehbar. Der Verband binationaler
Familien und Partnerschaften (iaf e. V.) hält in der Broschüre „Haben Sie noch
eine Idee?“ fest (S. 36): „Die Sprachanforderung bekämpft nicht die Zwangs-
heirat, sondern erschwert den Zuzug in die Bundesrepublik Deutschland.
Frauen, die sich tatsächlich in Gewaltsituationen befinden, erfahren dabei kein
Unterstützungs- und Hilfsangebot. Ihre Zwangslage bleibt durch diese Regelung
unberührt“.

Die Bundesregierung behauptete in der Gesetzesbegründung, die Sprachanfor-
derungen könnten Zwangsehen im Ausland verhindern, weil „gebildete Männer
und Frauen“ „nach dem Familienbild der betreffenden Kreise unattraktiver“ für
Zwangsverheiratungen seien. Jedoch sind einfache Sprachkenntnisse nicht mit
„Bildung“ gleichzusetzen, und dass einfache Deutschkenntnisse nicht vor
Zwangsverheiratungen schützen können, zeigt bereits der Umstand, dass auch in
Deutschland aufgewachsene und sozialisierte Frauen mit perfekten Deutsch-
kenntnissen von Zwangsverheiratungen bedroht sind. Das häufig vorgetragene,
empirisch jedoch nicht belegte Argument, ein Spracherwerb müsse bereits im
Ausland erfolgen, weil zwangsverheiratete Frauen in Deutschland von ihren
Ehemännern an einem Integrationskursbesuch gehindert werden könnten, teilt
die Bundesregierung zwar letztlich nicht (vgl. Bundestagsdruckssache 17/194,
Frage 16), sie argumentiert aber, dass bis zum Beginn eines Integrationskurses
in Deutschland „einige Zeit vergehen“ könne. Ein zeitigerer Integrationskursbe-
ginn wäre – als milderer Eingriff in das Grundrecht nach Artikel 6 GG – durch
den Gesetzgeber jedoch jederzeit regelbar.

Noch weniger überzeugend ist die zweite von der Bundesregierung gegebene
Begründung, die Neuregelung diene einer besseren Integration der Betroffenen.
Denn natürlich ist das Erlernen der deutschen Sprache in Deutschland, d. h. mit
der Hilfe der hier lebenden Ehegatten und sonstigen Familienangehörigen und
Freunde, unterstützt durch die praktische Sprachanwendung im Alltag und an-
gesichts des hiesigen Sprachkursangebots viel leichter, schneller und kosten-
günstiger möglich und erheblich weniger belastend für die Betroffenen als im
Ausland. Dies bestreitet auch die Bundesregierung nicht, sie hält dem jedoch
entgegen, „dass das gesetzgeberische Anliegen, den Erwerb von Sprachkennt-
nissen tatsächlich sicherzustellen, nicht durch mildere Mittel wie etwa eine
Sprachkursverpflichtung nach der Einreise im Inland erreicht werden kann, da
letztere den erfolgreichen Abschluss nicht sicherstellt. Eine derartige Maß-
nahme ist daher zwar weniger belastend, aber zur Verwirklichung des gesetz-
geberischen Ziels nicht gleichermaßen geeignet“ (Bundestagsdrucksache 16/
11997, Frage 8c; vgl. auch Bundestagsdrucksache 16/7288, Frage 23b und 23c).
Die Bundesregierung unterstellt damit, dass Sprachkursteilnehmerinnen und

-teilnehmer in Deutschland selbst nach einem verpflichtenden mindestens
600-stündigen Sprachunterricht nicht über das beim Ehegattennachzug vorgese-

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hene Sprachniveau A1 verfügen würden. Dies ist abwegig, wie auch die ersten
Erfahrungen mit der neuen Sprachprüfung DTZ zeigen, denn demnach erreich-
ten nur weniger als 15 Prozent der Integrationskursabsolventinnen und -absol-
venten nicht das Niveau A2, das aber noch einmal deutlich über dem vom Ge-
setzgeber beim Ehegattennachzug angestrebten Niveau A1 liegt.

Bei der Gruppe der Analphabetinnen und Analphabeten fällt die Unverhältnis-
mäßigkeit der Neuregelung besonders ins Auge, denn die Gewährleistung eines
Grundrechts von der individuellen Fähigkeit und Geschwindigkeit, die deutsche
Sprache zu erlernen, abhängig zu machen, ist offenkundig grundrechtswidrig
und verkennt die Pflicht des deutschen Staates, bestehende eheliche Bindungen
an im Bundesgebiet lebende Personen im Aufenthaltsrecht in einer Weise zu be-
rücksichtigen, die der großen Bedeutung entspricht, welche das Grundgesetz
dem Schutz von Ehe und Familie beimisst (vgl. Urteil des Bundesverfassungs-
gerichts vom 12. Mai 1987, 2 BvR 1226/83). Der Hinweis der Bundesregierung,
dass der nicht erfolgreiche Nachweis von Deutschkenntnissen bei Analphabeten
ihre mangelnde „Integrationsbereitschaft“ widerspiegele, ist schlicht zynisch
(vgl. Bundestagsdrucksache 16/10732, Antwort zu Frage 16). Auch die Bundes-
regierung musste einräumen, dass Analphabetinnen und Analphabeten eine
Aneignung der geforderten Sprachkenntnisse im „Selbststudium“ nicht möglich
ist (Bundestagsdrucksache 16/11997, Frage 8e) – die Möglichkeit eines Selbst-
studiums dient ansonsten aber regelmäßig als Argument dafür, dass die
Sprachanforderungen auch in den Fällen verhältnismäßig seien, in denen keine
Sprachkursangebote vor Ort zur Verfügung stehen (z. B. Bundestagsdrucksache
16/11997, Frage 8b). Die Bundesregierung hält in diesem Zusammenhang selbst
den Besuch eines 1 000-stündigen, kostenaufwändigen Sprachunterrichts im
Ausland für zumutbar und spricht lapidar von „persönlichen Erschwernissen
beim Spracherwerb, wie etwa aufgrund von Analphabetismus, die jedoch durch
eigene Anstrengungen überwunden werden können“ (ebd., Antwort zu Frage 8d).

Die Neuregelung verstößt auch gegen europäisches Recht, denn in der Fami-
lienzusammenführungsrichtlinie der Europäischen Union 2003/86(EG) ist le-
diglich vorgesehen, dass „Integrationsmaßnahmen“ vor der Einreise verlangt
werden können – nicht aber der Nachweis eines bestimmten Integrations- bzw.
Sprachniveaus.

Entsprechend der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (z. B. Urteil
vom 4. März 2010 in der Rechtssache Chakroun – C-578/08) dürfen nach der
Richtlinie eröffnete Handlungsspielräume auch nicht so genutzt werden, dass
das Richtlinienziel einer Begünstigung der Familienzusammenführung beein-
trächtigt wird. Ergriffene Maßnahmen müssen vielmehr in Übereinstimmung
mit der Verpflichtung zum Schutz der Familie und Achtung des Familienlebens
stehen (Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Artikel 7
der Charta der Grundrechte).

Deutsche Staatsangehörige sind beim Ehegattennachzug schlechter gestellt als
in Deutschland lebende Unionsangehörige („Inländerdiskriminierung“), denn
von den drittstaatsangehörigen Ehegatten letzterer darf aufgrund der Freizügig-
keitsregelungen und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kein
Sprachnachweis als Voraussetzung für den Ehegattennachzug verlangt werden.

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